Klin Padiatr 2010; 222(4): 234-235
DOI: 10.1055/s-0030-1261920
Gastkommentar

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Newborn Individualized Developmental Care and Assessment Program (NIDCAP): Umstrittene Evidenz bei der aktuellen Datenlage

Newborn Individualized Developmental Care and Assessment Program (NIDCAP): Data with Controversial EvidenceU. Felderhoff-Müser1
  • 1Klinik für Kinderheilkunde I, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinikum Essen
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Publication Date:
21 July 2010 (online)

Die intensivmedizinische Betreuung von Frühgeborenen hat sich in den letzten Jahren sehr stark gewandelt. Insbesondere Maßnahmen, die Stress reduzieren, das Bindungsverhalten der Kinder verbessern und möglicherweise damit die neurologische Entwicklung positiv beeinflussen sollen, haben zunehmend Einzug in den klinischen Alltag gehalten. Aktivitäten wie die Reduktion von Stressoren, wie Lärm und Licht, die intensive Förderung des Stillens, die Känguru-Pflege sowie familienzentrierte Ansätze gehören in immer mehr neonatologischen Intensivstationen zum Standard. Dazu wurde eine Vielzahl von Programmen mit unterschiedlichen Elementen entwickelt, wie in der vorliegenden Übersichtsarbeit von C. J. Huppertz-Kessler (s. S. 236–242) sehr ausführlich dargestellt.

Das bekannteste ist wohl das von H. Als in Boston entwickelte Newborn Individualized Developmental Care and Assessment Program – NIDCAP [1]. Es ist ein sehr personalintensives, pflegerisches Interventionsmodell, das mit dem Ziel entwickelt wurde, jedem Frühgeborenen eine seiner neurologischen Entwicklung angemessene Betreuung zuteilwerden zu lassen. Unter enger Einbeziehung der Eltern werden die Kinder durch sehr aufwendig geschulte NIDCAP-Pflegekräfte über Zeitintervalle von 7–10 Tagen systematisch beobachtet, ihren Bedürfnissen entsprechend stimuliert und daraus Empfehlungen für die Bezugspersonen abgeleitet. Hierfür wurde kürzlich auch ein deutschsprachiger Dokumentationsbogen vorgelegt [4]. Wesentliche Elemente stellen darüber hinaus die Vermeidung von Stressoren wie Lärm, Licht und Schmerz sowie die Promotion der Flexionshaltung dar.

In einer Reihe von Studien zeigten sich positive Effekte im Hinblick auf die Beatmungsdauer, die Gewichtszunahme und die Aufenthaltsdauer der Kinder. Auch konnte in einigen Untersuchungen ein positiver Einfluss auf die motorische und neurokognitive Entwicklung sowie auf das Verhalten der Kinder festgestellt werden [2] [9].

Die bisher durchgeführten Metaanalysen der vom Design, der Patientenpopulation und auch der pflegerischen Intenventionsmaßnahmen sehr heterogenen Studien sind jedoch nicht zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen.

Neben der verbesserten Eltern-Kind-Bindung sind positive Effekte im Hinblick auf rein medizinische Variablen wie die Reduktion von Beatmungs- und CPAP-Tagen sowie geringere Raten an bronchopulmonaler Dysplasie und nekrotisierender Enterocolitis in der NIDCAP-Gruppe zu verzeichnen [9]. Auch in Bezug auf die strukturelle Hirnreifung konnten mittels EEG Kohärenzstudien sowie detailiierter kernspintomografischer Untersuchung der weißen Substanz (diffusionsgewichtete Aufnahmen) positive Effekte in der Gruppe der NIDCAP-behandelten Kinder gezeigt werden [3]. Dies allein in Verbindung mit gesparten Kosten durch eine Verkürzung des Klinikaufenthaltes und der Vermeidung von Rehospitalisierung spricht für eine Etablierung dieser für das Intensivpflegeteam personell sehr aufwendigen Maßnahmen. Jedoch fehlen hier zielgerichtete Untersuchungen zur langfristigen Kosteneffizienz dieser Maßnahme, die auch aus diesen Gründen eine Empfehlung zur flächendeckenden Etablierung rechtfertigen könnte. Auch in Bezug auf die Qualität und Intensität der NIDCAP-Elemente, die in den unterschiedlichen Studien angewendet werden, sowie auf die Größe der Perinatalzentren ergeben sich erhebliche regionale Unterschiede, insbesondere auch zwischen den USA und Europa.

Gerade in Bezug auf die Langzeitentwicklung der Kinder ist nach derzeitiger Datenlage die wissenschaftliche Evidenz nicht eindeutig. Aufgrund der limitierten Anzahl von Patienten in jeder Einzelstudie, unterschiedlicher Einschlusskriterien, Variabilität der Intensität, Frequenz und Dauer der Interventionen sowie der Verwendung historischer Kontrollgruppen ergeben sich sehr widersprüchliche Ergebnisse.

Oft basieren die Fallzahlberechnungen schon auf unterschiedlichen Endpunkten, auch stehen die Evaluationsmethoden in den einzelnen Studien im Widerspruch zueinander und machen eine Vergleichbarkeit nahezu unmöglich, wie zwei kürzlich in Pediatrics publizierte Untersuchungen zeigten [5] [6], die bei ähnlicher Fragestellung zu gänzlich konträren Ergebnissen kamen:

Die von C. M. Maguire et al. [5] an der Universität Leiden durchgeführte Studie konnte keine Verbesserung der Morbidität am errechneten Termin bei den mit NIDCAP behandelten Kindern zeigen. Dies steht in Widerspruch zu den Ergebnissen der Studie von Peters et al. [6] aus Edmonton, Kanada, wo signifikant bessere Kurz- und Langzeitergebnisse zu verzeichnen waren. Die Größe und die Lage der neonatologischen Einheiten, aus denen die Patienten rekrutiert wurden, unterschieden sich signifikant voneinander. Die kanadische Studie wurde monozentrisch in einem großen Perinatalzentrum mit 55 Betten durchgeführt, 90% der Kinder wurden dort geboren. Dagegen wurde die belgische Studie multizentrisch durchgeführt mit einer hohen Anzahl verlegter Kinder.

Im Gegensatz zur belgischen Studie versorgten in Kanada speziell NIDCAP-ausgebildete Schwestern nur die Interventionsgruppe und nicht die Kontrollkinder, was auch einen wesentlichen Einfluss auf die Ergebnisse haben könnte.

Die meisten Insulte passieren in den ersten 72 Lebensstunden, viele Studien haben zu diesem Zeitpunkt die Kinder gerade erst randomisiert. In für die Zukunft geplanten Studien zur Langzeitentwicklung dieser Kinder sollte die NIDCAP-Intervention noch im Kreißsaal beginnen, wo das Kind den größten Stressoren wie Licht, Lärm, Beatmung und Schmerz ausgesetzt ist. Auch ein pränataler Beginn mit intensiver Kontaktaufnahme durch Ärzte und Pflegeteam mit Vorbereitung der Eltern und erstem Schaffen einer Vertrauensbasis kann in ein solches Konzept mit einbezogen werden.

Darüber hinaus sollten künftige Studien mit großen Fallzahlen geplant und multizentrisch angelegt sein und die Intervention analog einer Medikamentenstudie standardisiert erfolgen. Historische Kontrollgruppen sind unbedingt zu vermeiden und gesundheitsökonomische Aspekte zu berücksichtigen.

Entwicklungsneurologische Nachbeobachtungen bis ins Schulalter und darüber hinaus müssen erfolgen, um Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und kognitiven Einschränkungen wirklich zu identifizieren. Der vorliegende Übersichtsartikel zum Thema NIDCAP stellt damit ein Kontinuum zu den kürzlich von R. L. Schlösser [7] und H. M. Strassburg [8] in der Klinischen Pädiatrie publizierten Arbeiten zu diesem wichtigen Thema „Langzeitprognose sehr unreifer Frühgeborener” dar.

Literatur

  • 1 Als H, Lawhon G, Brown E. et al . Individualized behavioral and environmental care fort he very low birth weight preterm infant at high risk for bronchopulmonary dysplasia: neonatal intensive care unit and developmental outcome.  Pediatrics. 1986;  78 1123-1132
  • 2 Als H, Lawhon G, Duffy FH. et al . Individualized developmental care for the very low-birth-weight preterm infant: medical and neurofunctional effects.  JAMA. 1994;  272 853-858
  • 3 Als H, Duffy F, McAnulty GB. et al . Early experience alters brain function and structure.  Pediatrics. 2004;  113 846-857
  • 4 Huppertz-Kessler CJ, Als H, Koch L. et al . Entwicklungsneurologisches Screening frühgeborener Kinder von Geburt an.  Klin Padiatr. 2009;  221 450-453
  • 5 Maguire CM, Walther FJ, van Zwieten PH. et al . Follow-up outcomes at 1 and 2 years of infants born less than 32 weeks after Newborn Individualized Developmental Care and Assessment Program.  Pediatrics. 2009;  123 1081-1087
  • 6 Peters K, Rosychuk R, Hendon L. et al . Improvement of short- and long-term outcomes for very low birth weight infants: the Edmonton NIDCAP Trial.  Pediatrics. 2009;  124 1009-1020
  • 7 Schlösser RL, Krackardt B, Weber J. et al . Impact of preterm infants of less than 30 weeks gestation on the prevalence of special education in school beginners of a german city (Frankfurt/Main).  Klin Padiatr. 2008;  220 57-60
  • 8 Strassburg HM, Leimer S, Platz A. et al . Long-term prognosis of former very and extremely preterm babies in adulthood in Germany.  Klin Padiatr. 2008;  220 61-65
  • 9 Symington AJ, Pinelli J. Developmental care for promoting development and preventing morbidity in preterm infants.  Cochrane Database Syst Rev. 2006;  CD001814

Korrespondenzadresse

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