Die epidemiologischen Fachgesellschaften Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP), Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi) und Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie e. V. (GMDS) unterstützen gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für medizinische Soziologie (DGMS) und der Deutschen Gesellschaft für Public Health (DGPH) sowie einer Reihe von Verbänden und Vereinigungen, die im Nationalen Netzwerk Frauen und Gesundheit zusammengeschlossen sind, die Stellungnahme „Geschlechtersensible Planung und Durchführung der geplanten Nationalen Kohortenstudie” (siehe Dokumentation der Stellungnahme im Anhang). Mit dieser Stellungnahme werden „…die für die Planung und Durchführung der Nationalen Kohorte verantwortlichen Institutionen und Personen aufgefordert, Geschlechteraspekte umfassend zu berücksichtigen, sowohl bei der inhaltlichen und methodischen Planung als auch bei der Durchführung der Studie und bei der Besetzung der Entscheidungsgremien”.
Dieses Bekenntnis der Fachgesellschaften zu einer geschlechtersensiblen Planung und Durchführung der Nationalen Kohorte ist sehr zu begrüßen. Jetzt müssen Taten folgen und die Frage der Geschlechtersensibilität muss explizit und umfassend auf die Tagesordnung in den Planungsgremien und Pilotprojekten zur Vorbereitung der Nationalen Kohorte.
Mit einem entschiedenen und systematischen Eintreten für geschlechtersensible Gesundheitsforschung, der Initiierung von Fachdiskursen sowie der Entwicklung von modernen geschlechtersensiblen Konzepten und Methoden könnte die Epidemiologie in Deutschland auch international eine Vorbild-Rolle übernehmen. Das Aufgreifen der Geschlechterthematik speziell in medizinisch-gesundheitswissenschaftlicher Forschung wird aktuell auch international intensiv diskutiert. So fordert die Zeitschrift NATURE in einem Editorial ihrer Ausgabe vom 10. Juni 2010 „Putting gender on the agenda”, denn „Medicine as it is currently applied to women is less evidence-based than that being applied to men” [1] [1]. Dabei kann die Epidemiologie in Deutschland ihre Vorreiterrolle weiter ausbauen. Unseres Wissens gibt es weder in Deutschland noch international eine den „Leitlinien für gute epidemiologische Praxis” vergleichbare Regelung zur Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht in der Forschung [3]
[4].
Das Programm für die Scientific Community zur weiteren Vorbereitung der Nationalen Kohorte ist mit den in der Stellungnahme enthaltenen Fragestellungen bereits angedeutet:
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Die Zusammensetzung der Entscheidungsgremien muss transparent gemacht und gegebenenfalls verändert werden. Es muss gesichert sein, dass die Geschlechter in angemessener Anzahl in allen Entscheidungsgremien beteiligt sind. Dies betrifft insbesondere das Epidemiologische Planungskomitee und die Arbeitsgruppen sowie die Begutachtungsgremien. Ziel ist eine paritätische Besetzung. Da dies vermutlich nicht ad hoc erreicht werden kann, sind konkrete Schritte für den Weg zu diesem Ziel zu formulieren. Als ersten Schritt schlagen wir vor, dass in jedem Gremium mindestens ein Drittel der Mitglieder Männer bzw. Frauen sind.
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Des Weiteren muss gesichert werden, dass in allen Entscheidungsgremien Kompetenz in Gender-Medizin bzw. geschlechtersensibler Gesundheitsforschung eingebunden wird (siehe dazu auch Beschluss der GFMK [11]). Dies kann z. B. durch Einbindung der vorhandenen Fachkompetenz des Fachbereichs Frauen- und geschlechtsspezifische Gesundheitsforschung der DGSMP und der Arbeitsgruppe Frauen und Gesundheit der DGMS erfolgen.
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Das Gesamtprogramm der Nationalen Kohorte und ihrer Arbeitsschwerpunkte muss im Hinblick auf Gender Bias reflektiert und gegebenenfalls überarbeitet werden. Hierbei ist z. B. zu fragen, ob Unterschiede zwischen Frauen und Männern in den Lebenslagen, Gesundheitsrisiken, Expositions- und Krankheitshäufigkeiten angemessen aufgegriffen werden. Dies beinhaltet sowohl das Vermeiden eines male bias als auch eines female bias. Dies kann sowohl durch unbegründete Unter- bzw. Überrepräsentanz von Frauen bzw. von Männern in gemischt-geschlechtlichen Studien als auch von Themen, Lebenslagen, Gesundheitsrisiken, Expositions- und Krankheitshäufigkeiten von Frauen bzw. von Männern entstehen. Ein male bias ist z. B. für reproduktionsbezogene Studien und Themen bekannt. In diesem Zusammenhang wurden die Initiatorinnen der Stellungnahme zu Recht darauf hingewiesen, dass das Vereinbaren von Beruf, Ausbildung und Kindern (in der Stellungnahme unter dem Label „Reproduktionsarbeit” subsumiert) auch für Männer eine Belastung sein kann. Das heißt: es muss auch diskutiert werden, was geschlechtersensible Gesundheitsforschung in den unterschiedlichen Kontexten für Frauen UND Männer bedeutet oder bedeuten soll. Dies ist allerdings eine Aufgabe, die nicht auf die Nationale Kohorte beschränkt ist.
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Jedes Teilprojekt muss entsprechend der Leitlinien und Empfehlungen zur Sicherung von Guter Epidemiologischer Praxis (GEP), insbesondere Leitlinie 3.2 [3] geplant und umgesetzt werden, d. h. es muss ausgeführt werden, wie die Geschlechteraspekte (sex- und/oder gender) bei der Studienplanung, -durchführung und -auswertung operationalisiert werden, u. a.:
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Der Forschungsstand muss so aufgearbeitet werden, dass deutlich wird, welches Wissen für Männer und Frauen vorhanden ist. Das schließt die nach Geschlechtern differenzierte Explizierung von Wissenslücken mit ein. Diese Forderung ergibt sich auch aus aktuellen Diskussionen zum Thema „Gute Praxis Gesundheitsinformation” [5]. Aus der Fragestellung muss deutlich hervorgehen, welche Wissenslücken für Männer und welche für Frauen geschlossen werden sollen.
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Das Untersuchungskonzept muss – abgestimmt auf die konkrete Forschungsfrage – systematisch folgende Aspekte berücksichtigen: Geschlechterunterschiede in der Inzidenz, der Prävalenz und dem Schweregrad; die Bedeutung des biologischen Geschlechts, z. B. der Einfluss von Geschlechtshormonen, geschlechtsspezifischer Genregulation und damit einhergehender Unterschiede z. B. in immunologischen Prozessen, auf die Entstehung und den Verlauf von Erkrankungen; die Auswirkungen des sozialen Geschlechts auf Art und Ausmaß relevanter Expositionen, auf Effektmodifikation durch Geschlecht, die Inanspruchnahme medizinischer Versorgung und auf Diagnose und Therapie sowie die Gendersensibilität bisher eingesetzter Erhebungsinstrumente [6]
[7].
Gefordert sind jedoch nicht nur die Forschenden selbst, sondern alle in den Prozess involvierten Personen und Institutionen. Wissenschaftliche Zeitschriften, Förderinstitutionen, Aufsichtsgremien (z. B. Ethikkommissionen) müssen die Umsetzung der bereits vorhandenen Leitlinien und gesetzlicher Regelungen konsequent einfordern und diese ggfs. weiter entwickeln. Hierzu ist es erforderlich, die Schritte des Forschungsprozesses im Hinblick auf die Berücksichtigung von Geschlechteraspekten transparent und nachvollziehbar zu beschreiben. Um Missverständnissen vorzubeugen: Das heißt nicht, dass in jeder gemischt-geschlechtlichen Studie Frauen und Männer paritätisch einbezogen werden müssen. Die GEP-Leitlinie fordert jedoch, dass bei Themen und Fragestellungen, die beide Geschlechter betreffen, es einer Begründung bedarf, wenn nur ein Geschlecht in die Studie einbezogen wird. Weiterhin sind mit der 12. AMG-Novelle (§ 40) Ethikkommissionen aufgefordert zu prüfen ob das Studiendesign geeignet ist, „den Nachweis der Unbedenklichkeit oder Wirksamkeit eines Arzneimittels einschließlich einer unterschiedlichen Wirkungsweise bei Frauen und Männern zu erbringen” [8]
[9]. Zudem ist zu bemerken, dass nicht nur die wissenschaftlichen, sondern auch die ethischen Aspekte des Gender Bias in der Forschung bislang nur andeutungsweise bearbeitet werden (vgl. z. B. [10]).
Förderinstitutionen müssen sich fragen, wie sie gewährleisten wollen, dass steuerfinanzierte Forschung der Bevölkerung insgesamt zugute kommt. Die Frage der Verteilung auf Männer und Frauen (Gender Budgeting) – in Bezug auf die Forschenden als auch in Bezug auf die Bevölkerung, der die Ergebnisse der Forschung Nutzen bringen soll – ist dabei nicht zu trennen von Fragen wie z. B. nach dem Beitrag zum Abbau sozialer Ungleichheit in der Gesundheit oder für Menschen verschiedener Altersgruppen oder mit/ohne Migrationshintergrund. Darauf bezieht sich auch der beschlossene Leitantrag der 20. Gleichstellungs- und Frauenministerinnen- und -ministerkonferenz (GFMK) im Juni 2010, in dem gefordert wird, Forschung, Diagnostik und Therapie künftig verstärkt auf die unterschiedlichen Belange von Männern und Frauen zu orientieren und hierzu die Erkenntnisse der Gendermedizin zu nutzen und in Leitlinien verbindlich zu integrieren [11].
Eine wichtige Ressource wird in Kürze mit einem auf 3 Jahre angelegten Forschungsprojekt „Epi goes Gender” bereitgestellt, das ab Sommer 2010 vom BMBF gefördert wird. An diesem Projekt sind die epidemiologischen Fachgesellschaften DGMSP, DGEpi und GMDS als Kooperationspartnerinnen beteiligt. Ziel dieses Projektes ist es, gemeinsam mit der epidemiologischen Scientific Community, insbesondere mit Entscheiderinnen und Entscheidern sowie Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern vorhandenes Wissen zu geschlechtersensiblen Forschungskonzepten, -methoden und -ergebnissen zusammenzutragen und aufzubereiten (Reviews), neues Wissen zu schaffen (z. B. im Rahmen von Masterarbeiten und Dissertationen) sowie passende an den Bedürfnissen und Bedarfen der Teilnehmenden anknüpfende Fortbildungen zu entwickeln und bereitzustellen, z. B. zur Frage der Operationalisierung von sex und gender in den verschiedenen Stufen des Forschungsprozesses.
Mit der Stellungnahme der Fachgesellschaften sind alle beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aufgerufen, dazu beizutragen, (nicht nur) die Nationale Kohorte zu einem Best Practice-Modell guter epidemiologischer geschlechtersensibler Forschung zu machen, denn „Quite simply, if research is not gender sensitive then it is not good research” [12].
Hintergrund zur Nationalen Kohorte
Am 22. Oktober 2008 informierten das Helmholtz Zentrum München und das Deutsche Krebsforschungszentrum Heidelberg in einer gemeinsamen Presseinformation mit dem Titel „Warum erkrankt der gesunde Mensch? – Bundesweite „Helmholtz-Kohorte” im Dienste der Gesundheitsforschung heute bewilligt”, dass der Senat der Helmholtz Gemeinschaft rund 20 Millionen EUR für die „Helmholtz-Kohorte” bewilligt hat. (http://www.dkfz.de/de/presse/pressemitteilungen/2008/dkfz_pm_08_58.php, Zugriff 14.6.2010) Demnach ist geplant 200 000 gesunde Bürger über die nächsten 10–20 Jahre in eine neue, groß angelegte Bevölkerungsstudie zur Erforschung häufiger chronischer Krankheiten wie Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauf- oder Demenzerkrankungen einzubinden.
Die epidemiologischen Fachgesellschaften (DGSMP, DGEpi, GMDS) formulierten ihre Position zur geplanten Helmholtzkohorte in einer Stellungnahme vom 20.1.2009 an die Bundesministerin Frau Schavan und den Präsidenten der Helmholtz-Gemeinschaft, Herrn Mlynek. (http://www.med.uni-magdeburg.de/fme/institute/ismhe/dgsmp/Stellungnahmen/Positionspapier%20zur%20%20HH-Kohorte.pdf, Zugriff 14.6.2010)
Der aktuelle Stand der Vorbereitungen der geplanten Kohorte – heute Nationale Kohorte – ist in einem aktuellen Schreiben der epidemiologischen Fachgesellschaften an den Präsidenten des medizinischen Fakultätentages, Herrn Bitter-Suermann, zusammengefasst. (http://www.dgepi.de/pdf/infoboard/stellungnahme/MFT-Antwort_DGEpi-GMDS-DGSMP_03.05.2010.pdf, Zugriff 14.6.2010)
Danksagung
Wir bedanken uns bei Petra Brzank und Hajo Zeeb für wertvolle Hinweise zum Manuskript.