Deutsche Zeitschrift für Onkologie 2010; 42(3): 129-130
DOI: 10.1055/s-0030-1257717
Das Interview
© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Genauer verstehen lernen, was auf molekularer Ebene konkret zu Problemen führt

Molekulare Therapien bei Krebs
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Publication Date:
30 September 2010 (online)

Unser Gesprächspartner: Prof. Dr. rer. nat. Theo Dingermann

Studium der Pharmazie in Erlangen; Ausbildungsstipendium an der Yale University, New Haven, USA; 1987 Habilitation in den Fächern Biochemie und Molekularbiologie; 1990 C4 Professur für Pharmazeutische Biologie der Universität Frankfurt; Mitglied der Arzneibuchkommission beim BfArM und Leiter der dortigen Arbeitsgruppe „Biotechnologisch hergestellte Arzneimittel” und des Ausschusses „Pharmazeutische Biologie”; Biotechnologiebeauftragter des Landes Hessen; Chefredakteur der wissenschaftlichen Zeitschrift „Die Pharmazie”; 2009 Wahl zum „Professor des Jahres” in der Kategorie Naturwissenschaften/Medizin.

DZO: Was hat sich Ihrer Meinung nach in den letzten Jahren mit der Einführung von neuen molekularen Substanzen (small molecules, Antikörper etc.) in der Therapie von Krebserkrankungen verändert? Hat sich dadurch die Behandlung revolutioniert?

Prof. Dingermann:

Mit den Neuentwicklungen im Bereich der Behandlung von Tumorerkrankungen wurde eine ganz wichtige neue Richtung eingeschlagen: Weg vom unspezifischen „Zerstören” von Tumorzellen, hin zum individuellen „Stoppen” von Tumorwachstum. Anders ausgedrückt: Es werden nicht mehr „nur” Zellgifte verabreicht, die mit teils massiven Nebenwirkungen einhergehen, sondern man beginnt mehr und mehr „Inhibitoren” zu entwickeln, die fehl aktivierte Prozesse blockieren und so dem aus der Kontrolle gelaufenen Zellwachstum spezifischen Einhalt gebieten.

Von einer Revolutionierung kann man bisher nur in Einzelfällen sprechen. Beispiel: Imatinib und Weiterentwicklungen bei der Behandlung der CML. Das liegt daran, dass hier tatsächlich ein einzelner wesentlicher Mechanismus das Problem verursacht, das mit diesen Wirkstoffen gezielt behoben werden kann. Das Problem bei anderen Tumorarten liegt darin, dass zum Zeitpunkt der Diagnose die Tumorzelle bereits sehr viele Mutationen erfahren hat, sodass ein zielgerichteter Ansatz häufig zu spät kommt. Mit den Neuentwicklungen müssen daher Weiterentwicklungen in den Früherkennungsverfahren zwingend einhergehen.

DZO: Wie begegnen Sie Kritikern, die zu Bedenken geben, dass der Überlebensvorteil der meisten neuen Substanzen eher gering sei, vielmehr das Überleben der Patienten meist nur um wenige Wochen verlängert werde? Beispiel Avastin: Ein Gutachten der AOK kommt zu dem Schluss, „dass das Medikament angesichts der großen Zahl zugelassener, überwiegend wirksamer und/oder preiswerter Alternativpräparate verzichtbar” sei.

Prof. Dingermann:

Zweifelsohne gibt es noch erheblichen Spielraum, das Outcome der neuen Therapieansätze wirklich zu verbessern. Hier gibt es auch eigentlich keine prinzipiellen Probleme. Vielmehr müssen wir noch genauer verstehen lernen, was konkret auf molekularer Ebene zu den Problemen führt. Dann werden wir mit intelligenten Kombinationen, bei denen auch „klassische Substanzen” eine Rolle spielen werden, hier mit Sicherheit enorme Fortschritte in der Tumortherapie machen.

Fortschritt passiert immer – und gerade in der Medizin – inkrementell. Ich selbst bin ein klarer Bekenner auch einer inkrementellen Implementierung des Fortschritts in den Klinikalltag. Dass das Kostenträger anders sehen, ist nachvollziehbar.

Letztlich ist Medizin aber eine empirische Wissenschaft. Nachhaltiger medizinischer Fortschritt kommt aus dem klinischen Alltag, nicht aus dem Labor. Das Labor liefert die Hypothesen, die sich in der Klinik bewähren müssen. Für diese Bewährung muss es aber auch eine Chance geben. Sonst werden wir auf dem Status quo verharren, was dem einen oder anderen offensichtlich auch recht wäre, was aber letztlich die Potenziale des Fortschritts in den Lebenswissenschaften massiv ignorieren würde.

DZO: Wie kann man zukünftig besser diagnostizieren, welche Präparate für den Einzelnen wirklich effektiv sind? Gibt es heute schon wichtige Entscheidungshilfen für den niedergelassenen Arzt?

Prof. Dingermann:

Für eine molekulare Therapie bedarf es einer ausgefeilten molekularen Diagnostik. Dies ist bereits Routine bei den einschlägigen Präparaten wie Herceptin, Erbitux und vielen anderen. Wie sich diese Verfahren weiterentwickeln, sieht man am Beispiel des monoklonalen Antikörpers Cetuximab (Erbitux). Ursprünglich wurde nur getestet, ob die Zielstruktur des Antikörpers – der epidermale Wachstumsfaktorrezeptor (EGFR) – vorhanden ist. Zwischenzeitlich weiß man, dass die Intervention nur Vorteile bringt, wenn ein angeschlossener Signaltransduktionsweg noch in Ordnung ist. Darauf wird heute zwingend getestet. Im Fachjargon heißt das, dass Erbitux nur eingesetzt werden darf, wenn der Tumor den EGFR exprimiert und wenn gleichzeitig im sogenannten RAS-Protein keine Mutation vorliegt. Sicherlich wird noch einige Zeit vergehen, bis diese speziellen diagnostischen Ansätze Eingang in die Praxis niedergelassener Ärzte finden.

DZO: Was halten Sie davon, während der Therapie mit molekularen Substanzen auch das Immunsystem zu stärken? Können Sie konkrete Behandlungsansätze empfehlen?

Prof. Dingermann:

Das Immunsystem zu stärken, ist generell eine gute Option, es sei denn, das Immunsystem ist Teil des Problems. Das ist immer der Fall bei hämatopoetischen Tumoren, wo man mit einem solchen Ansatz sehr zurückhaltend sein sollte.

Ansonsten ist gegen eine Stärkung des Immunsystems nichts einzuwenden, wenn solche Maßnahmen komplementär und in Absprache mit dem behandelnden Arzt eingesetzt werden. Hier etwas konkret zu empfehlen, fällt schwer, weil belastbare Evidenz meist fehlt. Andererseits kann man auch kaum schwere Fehler machen, da derartige Interventionen immer als Therapieversuch gewertet werden können.

DZO: Wie stehen Sie zu Vakzinierungstherapien? Gibt es hier Fortschritte?

Prof. Dingermann:

Vakzinierungstherapien sind ganz klar im Bereich der experimentellen Medizin anzusiedeln. Die Hypothesen sind plausibel, und sicherlich werden auch hier bald Erfolge vermeldet werden. Aber als Generallösung sind die Vakzinierungstherapien sicherlich nicht zu bewerten.

DZO: Welche Herausforderungen sehen Sie für die Zukunft, um die Behandlung von Krebserkrankungen zu optimieren?

Prof. Dingermann:

Für mich liegen die großen Herausforderungen ganz klar in der Früherkennung und in der Diagnostik. Sind die molekularen Probleme eines individuellen Tumors klar erkannt, wird man das Tumorwachstum stoppen können. Ein Wachstumsstopp wird auch den stetigen Anstieg an neuen Mutationen stoppen oder verlangsamen, da dieser Anstieg an die ungehemmte Zellteilung gekoppelt ist. Am Beispiel der CML und der Erfolgsgeschichte des Imatinibs sieht man, wie wichtig es ist, Tumoren in einem möglichst frühen Stadium zu behandeln.

DZO: Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Was tun Sie für sich, um gesund zu bleiben?

Prof. Dingermann:

In meinen Bemühungen um meine Gesundheit konzentriere ich mich auf drei Punkte: Ich versuche, mein Gewicht zu halten, was zwingend beinhaltet, dass ich mich bewusst und in Maßen ernähre. Ich versuche, fit zu bleiben, was ich aktiv dadurch betreibe, dass ich mich in Maßen sportlich betätige. Und ich versuche, eine positive Lebenseinstellung zu behalten, was sich nach meiner Überzeugung direkt positiv auf mein Immunsystem auswirken wird. Ein intaktes Immunsystem ist der Hauptgarant für den Erhalt der Gesundheit.

DZO: Herr Prof. Dingermann, vielen Dank für das Gespräch.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. rer. nat. Theo Dingermann

Institut für Pharmazeutische Biologie
Biozentrum

Max-von-Laue-Straße. 9

60438 Frankfurt/Main

Email: dingermann@em.uni-frankfurt.de

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