Definitionsgemäß werden S1-Leitlinien von einer
Expertengruppe in einem informellen Konsens erarbeitet. Inhalte von Leitlinien
sind im Gegensatz zu Richtlinien nicht bindend. Die S1-Leitlinie stellt im
Leitlinien-Kanon diejenige mit dem geringsten wissenschaftlichen Stellenwert
dar. Dennoch sollte auch eine S1-Leitlinie – entsprechend ihrer
Zielsetzung – geeignet sein, der Orientierung von Ärzten in derem
diagnostischen und therapeutischen Vorgehen eine Unterstützung zu bieten.
Dies setzt voraus, dass auch bei aller gebotenen Kürze, die Thematik
möglichst lückenlos fokussiert werden sollte, insbesondere unter
Miteinbeziehung wesentlicher Fakten.
Die vorliegende Leitlinie lässt bezüglich der
Darstellungen zur Landwirtschaft erhebliche Lücken erkennen. Es entsteht
der Eindruck, dass allergieauslösende Stoffe in der Landwirtschaft im
Wesentlichen durch Rinder produziert werden. Dies ist nicht zutreffend.
Unter Zugrundelegung von Daten des statistischen Bundesamtes kann
davon ausgegangen werden, dass 2008 in Deutschland 374 514
landwirtschaftliche Betriebe bewirtschaftet wurden. Für den Mai 2009 wurde
statistisch bekannt, dass auf 183 000 Betrieben Rinder
(einschließlich Milchkühe) gehalten wurden. Dies bedeutet –
eine Varianz der Zahlen im weiteren Verlauf annehmend –, dass auf etwa
jedem zweiten deutschen Bauernhof Rinder gehalten werden. Die
Rückläufigkeit der Bauernhöfe mit Rinderhaltung in den letzten
Jahren ist sicherlich auf den Sachverhalt zurückzuführen, dass auf
immer weniger Höfen immer mehr Rinder gehalten werden, im Sinne einer
Industrialisierung der Tierhaltung.
Die Leitlinie nennt die wesentlichen Allergene des
landwirtschaftlichen Arbeitsbereiches, die Vorratsmilben, nur am Rande.
Diesbezüglich findet sich nicht einmal eine Quellenangabe. Sachverhalt ist
es, dass davon auszugehen ist, dass auf jedem landwirtschaftlichen Betrieb in
Deutschland, mit oder ohne Tierhaltung, Vorratsmilben in erheblicher Zahl und
Artenreichtum vorkommen. Unsere Arbeitsgruppe konnte in verschiedenen
Untersuchungen darlegen, dass etwa 25 % symptomatischer Landwirte
(Rhinitis und/oder Asthma) mit Vorratsmilbenallergenen sensibilisiert waren,
etwa 10 % hiervon konnten mittels organbezogener
Provokationstestungen als Allergiker identifiziert werden. Unsere Zahlen werden
durch Untersuchungen der Arbeitsgruppe von Dr. Rolf Kroidl bestätigt. Eine
wegweisende Publikation des leider vor kurzem verstorbenen Dr. Jörg-Thomas
Franz zur Milbenfauna auf deutschen Bauerhöfen verdeutlicht, dass von
einer ausgeprägten Artenvielfalt von über 40 Milbenspezies auszugehen
ist. Diese befinden sich in allen Bereichen der landwirtschaftlichen Lagerung
und in Viehställen, ihr „Import” in den landwirtschaftlichen
Wohnbereich ist ebenfalls wissenschaftlich gut dokumentiert. Die Kontamination
des Wohnhauses durch Allergene beschränkt sich somit nicht auf
Rinderallergene.
Zahlreiche Untersuchungen aus Skandinavien führten zum Nachweis
einer höheren Prävalenz von Sensibilisierungen der
landwirtschaftlichen Bevölkerung gegen Vorratsmilben als gegen
Rinderallergene oder auch Pollen.
Um Missverständnissen vorzubeugen:
Es geht hier nicht darum, wessen Allergene die wichtigsten sind,
sondern welche. Aber auch diese Überlegung ist in medizinischer Hinsicht
zu relativieren, gilt es doch, bei jedem einzelnen Patienten individuell seiner
Erkrankung sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie gerecht zu
werden.
Es ist sicherlich zutreffend, dass Rinder Produzenten zum Teil
unterschiedlicher Allergene sind. Bezüglich der Vorratsmilben stellt sich
die Problematik noch wesentlich diffiziler dar. Nach bisher vorliegendem
Kenntnisstand besteht zwischen den einzelnen Vorratsmilbenarten eine zu
vernachlässigende Kreuzreaktivität, sodass jede Vorratsmilbenspezies
potenziell als spezifischer, charakteristischer Allergenproduzent zu betrachten
ist. Dies und der Sachverhalt, dass nur ein minimales Allergenspektrum zur
Diagnostik zur Verfügung steht, verdeutlicht die auf diesem Gebiet noch zu
leistende wissenschaftliche Arbeit.
Ich gehe davon aus, dass z. B. auch auf dem Gebiet der
alternativen Energiegewinnung, z. B. dort wo biologische Materialien
verwendet werden, zukünftig eine zusätzliche Vorratsmilbenproblematik
auftreten kann.
Die wesentliche Problematik bei der Diagnostik einer Allergie gegen
Rinderallergene besteht lediglich im Sachverhalt, dass die kommerziellen
Extrakte die relevanten Allergene nur zum Teil beinhalten und ihre Verwendung
sehr oft zu falsch negativen Ergebnissen führt. Die Lösung dieses
Problems wird seit Jahren propagiert, nämlich die Verwendung von
Schnellextrakten aus mitgebrachten patienteneigenen Rinderhaaren.
Insgesamt würde ich es – als Mitglied der DGP und DGAUM
– begrüßen, wenn bei einer Überarbeitung dieser
S1-Leitlinie den allergologischen Gegebenheiten in der deutschen Landwirtschaft
realitätsnah Rechnung getragen würde. Es handelt sich um eine
S1-Leitlinie der DGAUM. Es ist sehr zu begrüßen, dass diese
Leitlinie in der Pneumologie, dem Organ der DGP, publiziert wird. Umso
erstaunlicher ist es, dass unter den angegebenen LINKS die DGP als
Fachgesellschaft nicht aufgelistet ist.
Mit freundlichen Grüßen