Der Klinikarzt 2010; 39(5): 227
DOI: 10.1055/s-0030-1255502
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Von der Gesundheit und vom Älterwerden

Andreas Kruse
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Publication Date:
26 May 2010 (online)

Die gesellschaftliche Diskussion über Gesundheit und Älterwerden lässt sich von einem Menschenbild leiten, auf das die Worte des Philosophen Ernst Bloch (in seiner Schrift: „Das Prinzip Hoffnung“) immer noch zutreffen: „Wir leben in einer Gesellschaft, die sich auf Jugend schminkt“. Vielfach wird an die Medizin die Erwartung gerichtet, dass diese dem Menschen bis ins hohe Alter alle Krankheiten nimmt, ja, dass sie sogar das Altern rückgängig macht oder ganz aufhebt – hier sei nur das Stichwort „Anti-Aging“ genannt. Solche Erwartungen und das dahinter stehende gesellschaftliche Leitbild führen dazu, dass Menschen vergessen, dass sie verletzlich, in ihren Handlungsmöglichkeiten endlich sind. Aus diesem Grunde ist es wichtig, über unser Verständnis von Gesundheit nachzudenken, denn mit den gesellschaftlichen Leitbildern von „Gesundheit“ und „erfolgreichem Altern“ (im Sinne des „Forever young“) schaden wir uns letztlich selbst. Zudem besteht die Gefahr, dass bestimmte medizinische Maßnahmen Menschen im hohen Lebensalter vorenthalten werden; Vorschläge, das Lebensalter als ein „Ausschlusskriterium“ medizinischer Maßnahmen zu definieren, wurden bereits von einzelnen politischen Entscheidungsträgern unterbreitet. Hier drängt sich der Eindruck auf, dass dann, wenn Menschen nicht mehr dem Ideal des „Forever young“ entsprechen, wenn sie auch nach außen hin die Verletzlichkeit der Existenz zeigen, ausgegrenzt werden. So holt uns möglicherweise im Alter ein problematisches Menschenbild und Gesundheitsverständnis ein.

In Bezug auf die Versorgung kranker Menschen ist eine Aussage des Heidelberger Mediziners Ludolf von Krehl (1861–1937) bedeutsam. Wie Krehl in seiner „Pathologischen Physiologie“ hervorhebt, stellt jeder Krankheitsvorgang in Wirklichkeit etwas Neues dar, „das noch nie da war und so nie wieder sein wird“. Die medizinische Betrachtung habe sich mit zwei Prozessen zu beschäftigen: zum einen mit den allgemeinen Beziehungen der Morphologie, Physiologie, Ätiologie und Pathogenese im menschlichen Organismus, zum anderen „mit der Umgestaltung des Typisch-Menschlichen durch die Persönlichkeit des einzelnen Menschen“. Diese Betrachtungsweise spiegelt sich in der Aussage wider: „Krankheiten existieren nicht, wir kennen nur kranke Menschen“.

Es besteht heute Einigkeit darüber, dass die „klassische“ Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation – das völlige Freisein von körperlicher, seelischer und sozialer Einschränkungen – zum einen unrealistisch, zum anderen auch gefährlich ist: Denn eine solche Definition verstellt den Blick auf die mögliche Kreativität des Menschen in der Erzeugung von Gesundheit – eine Kreativität, die vor allem dann an Bedeutung gewinnt, wenn Erkrankungen eingetreten sind. Ganz in diesem Sinne ist jene Definition von Gesundheit zu verstehen, die Viktor von Weizsäcker, einer der Begründer der Psychosomatischen Medizin, gegeben hat: Gesundheit stellt kein Kapital dar, das der Mensch nach und nach „aufzehrt“, sondern vielmehr ist sie nur dort anzutreffen, wo sie vom Menschen „stets neu erzeugt“ wird.

Der oben erwähnte Gesundheitsbegriff der Weltgesundheitsorganisation wird heute von niemandem mehr geteilt. Und auch die Weltgesundheitsorganisation entwickelte in der Ottawa-Deklaration (1986) ein neues Gesundheitsverständnis: Gesundheit stellt danach einen Oberbegriff dar, der fünf Merkmale umfasst: Aktivität, Lebenszufriedenheit, subjektiv erlebte Gesundheit, Gesundheitsverhalten und gesunden Lebensstil. Damit erweitern sich die Ziele der Therapie und Pflege: Nicht allein die Überwindung oder Linderung einer Krankheit steht im Zentrum, sondern auch die Unterstützung des Menschen bei der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Selbstständigkeit und sozialer Teilhabe sowie bei seinem Bemühen um Bewältigung der Krankheit. Zudem ist bei der Behandlung von Patienten mit chronischen Erkrankungen die seelisch-geistige Dimension vermehrt anzusprechen – und zwar in der Hinsicht, dass diese den Krankheitsprozess besser verstehen, dass sie durch ihr eigenes Gesundheitsverhalten Therapie- und Pflegemaßnahmen unterstützen, dass sie Lebensbereiche erkennen und verwirklichen, die ihnen helfen, neue psychische Kraft zu schöpfen und zu neuer Lebensperspektive zu finden.

Die medizinisch-pflegerische und psychosoziale Begleitung des älteren Patienten sollte sich somit von folgenden – an dem Konzept der Kompetenz orientierten – Zielen leiten lassen: (a) Krankheiten und Krankheitssymptome lindern, (b) einen optimalen funktionalen Status erhalten oder wiederherstellen, (c) die aktive Lebensgestaltung fördern, (d) bei der Bewältigung von Belastungen und Krisen helfen, (e) eine barrierefreie Umwelt schaffen, (f) Teilhabe fördern, (g) ein individuell angemessenes System medizinisch-pflegerischer und sozialer Unterstützung sicherstellen.

Die Verwirklichung dieser Ziele ist auch an die Voraussetzung geknüpft, dass sich Patient und Therapeuten der Würde bewusst sind, die jedes Leben in sich trägt und zu verwirklichen sucht, oder, wie dies der hoch begabte Arzt Moses Maimonides (* 1135 in Córdoba; † 1204 in Kairo) ausgedrückt hat: Damit die Heilung (auch im Sinne des Heilseins verstanden) gelingt, müssen Arzt und Patient in ein rechtes Verhältnis zueinander kommen und den Bezug zu einem übergeordneten Ziel des Lebens gefunden haben.

Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Andreas Kruse

Heidelberg

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