Vita
Prof. Dr. med Sönke Johannes ist Facharzt
für Neurologie mit einer zusätzlichen Ausbildung in kognitiver
Verhaltenstherapie. Er leitet die Abteilung für Neurologische
Rehabilitation der Rehaklinik Bellikon in der Schweiz. Den Schwerpunkt seiner
Tätigkeit bildet die Rehabilitation von Menschen mit traumatischer
Hirnverletzung.
Stephanie Hellweg ist Physiotherapeutin und
arbeitet seit 2002 in der Rehaklinik Bellikon. Als Teamleiterin in der
neurologischen Rehabilitation und als Instruktorin für Therapieverfahren
führt sie neue, evidenzbasierte Therapieformen in den klinischen Alltag
ein und entwickelt Behandlungspfade. Im Rahmen der Masterstudienganges MSc
Neurorehabilitation (2007) beschäftigte sie sich insbesondere mit
evidenzbasierten physiotherapeutischen Maßnahmen nach traumatischer
Hirnverletzung.
Motivation: Ein Ziel vor Augen
Motivation: Ein Ziel vor Augen
Motivation bezeichnet einen Zustand des Organismus, der die Richtung
und die Energetisierung des aktuellen Verhaltens beeinflusst
[[19]]. Einfacher ausgedrückt bezeichnet
Motivation den Antrieb, ein Ziel zu erreichen. Die Kürze dieser Definition
ist für den rehabilitativen Kontext deshalb brillant, weil sie im Kern
beinhaltet, wie Motivation und die Mitarbeit der Patienten optimal
gefördert werden können: Die individuellen Ziele der Patienten
müssen das Zentrum der Therapiebemühungen bilden.
Bedürfniszustand beeinflusst Motivation
Nach lerntheoretischer Auffassung ist die Motivation abhängig
vom Bedürfniszustand des Organismus in Verbindung mit inneren oder
äußeren Reizen. Diese menschlichen Bedürfnisse lassen sich
entsprechend verschiedener Theorien unterteilen. Für die Rehabilitation
ist ein Modell aus der kognitiven Verhaltenstherapie gut verwendbar, welches
vier menschliche Grundbedürfnisse postuliert [[6]]:
-
Bedürfnis nach Bindung
-
Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle
-
Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und
Selbstwertschutz
-
Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung
Entsprechend der Kindes- und Jugendentwicklung sowie den
Erfahrungen als Erwachsener bilden sich die Bedürfnisse individuell in
unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlichen Formen aus. Ein Mensch
fühlt sich wohl, wenn seine Bedürfnisse miteinander
übereinstimmen und wenn er in der Lage ist, diese Bedürfnisse in
seinem Leben zu befriedigen.
Im Zustand tiefer Verunsicherung streben die Patienten nach
Veränderung
Eine akute Schädigung des Zentralnervensystems mit
körperlichen und/oder kognitiven Beeinträchtigungen bringt eine
massive Beeinträchtigung der Bedürfnisbefriedigung mit sich. So
führt eine äußerlich sichtbare Beeinträchtigung, wie z. B.
eine Gangstörung, unmittelbar und unweigerlich zunächst zu einem
Verlust an Selbstwertgefühl. Der Betroffene fühlt sich in
diskriminierender Weise gekennzeichnet (soziale Stigmatisierung). Nach einem
derartigen Ereignis ergeben sich zwangsläufig Fragen in Bezug auf den
Fortbestand der Familie oder die Integration in den Freundes- und
Bekanntenkreis. Dieses kompromittiert das Bindungsbedürfnis.
Schließlich erleben die Patienten sich der Situation zunächst
hilflos ausgeliefert. Ärzte und Therapeuten bestimmen das medizinische
Vorgehen, den Aufenthalt im Akutkrankenhaus und den Transfer in eine
Rehaeinrichtung. Die berufliche Zukunft und die langfristige finanzielle
Perspektive sind unklar. Die Patienten haben zunächst die Kontrolle
über ihre eigene Situation verloren. Insgesamt befinden sie sich in der
Frühphase in einem Zustand tiefer Verunsicherung. Natürlich streben
sie fast automatisch nach einer Veränderung dieser für sie sehr
belastenden Situation. Hierin liegt die motivationale Grundlage der Mitarbeit
der Patienten in der rehabilitativen Therapie. Für Therapeuten und
Ärzte ist es unerlässlich, ein Verständnis für die
individuelle Situation und die daraus resultierenden Ziele der Patienten zu
entwickeln.
Das vierte Grundbedürfnis „Lustgewinn und
Unlustvermeidung” bestätigt die häufige klinische Erfahrung,
dass umso intensiver und ausdauernder Patienten in der Therapie mitarbeiten, je
mehr ihnen das Verfahren Spaß macht. Das erklärt, zumindest
teilweise, die hohe Akzeptanz computer- und robotergestützter
Therapieangebote.
Modelle von Motivation und Gesundheit
Modelle von Motivation und Gesundheit
Fallbeispiel Herr S.: Sinn des Stehtrainings unklar
Der 45 Jahre alte Herr S. erlitt bei einem Motorradunfall ein
Polytrauma mit schwerer offener traumatischer Hirnverletzung und akutem
rechtsseitigem Subduralhämatom. Der Akutverlauf war unter anderem durch
bifrontale Hirnabszesse, eine Peritonitis und eine Aspirationspneumonie
kompliziert. Es erfolgten mehrere Operationen an der Schädelbasis.
Aufgrund der Schwere der Verletzungen befand sich der Patient vier Monate in
einer Universitätsklinik, bis er in die Rehabilitationsklinik kam. Zum
Aufnahmezeitpunkt war Herr S. wach. Er reagierte auf Ansprache, war aber nur
zur einer Person orientiert und kooperierte in der Untersuchungssituation nur
teilweise. Herr S. reagierte deutlich verlangsamt. Es bestand eine erhebliche
Störung der Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsfunktionen. Darüber
hinaus lagen eine rechtsbetonte Tetraparese und massive Kontrakturen
(insbesondere beider Sprunggelenke wie auch der Hüft- und Kniegelenke)
vor.
Vor der Aufnahme in die Rehaklinik war Herr S. vorwiegend als
therapeutische Maßnahme in den Passiv-Rollstuhl transferiert worden.
Vorrangiges Ziel der Physiotherapie war es nun, die Selbstständigkeit von
Herrn S. bei den Bewegungsübergängen und Transfers zu fördern,
da er zu Beginn bei jedem Lagewechsel auf zwei Hilfspersonen angewiesen war.
Eine Absprache bezüglich des Ziels mit dem Patienten war aufgrund seiner
kognitiven Einschränkungen nicht möglich. Es gelang den Therapeuten
innerhalb weniger Tage, den Patienten mit nur einer Hilfsperson im Bett zu
drehen und an den Bettrand zu mobilisieren. Zudem begann Herr S. mit dem
Stehtraining, welches aufgrund der ausgeprägten Kontrakturen nicht
aufrecht stattfand und nur über fünf Minuten toleriert wurde. Herr S.
reagierte zunehmend unwirsch und mit Abwehr, sodass die Therapeuten die
Stehversuche abbrechen mussten. Er verstand offensichtlich den Sinn der
Therapie nur unzureichend.
Intrinsische und extrinsische Motivation im
Zwei-Faktoren-Modell
Das Verhalten von Herrn S. lässt sich gut im Kontext des
Zwei-Faktoren-Modells für psychologische Anreizmodelle erklären
[[17]]. Dieses Modell unterscheidet zwischen
intrinsischer und extrinsischer Motivation. Extrinsische Motivation wird durch
von außen kommende positive Verstärker unterhalten. Dieses sind z.
B. das Lob von Therapeuten oder auch Scores von computerbasierten
Trainingsverfahren. Intrinsische Motivation bezieht sich auf Aspekte, die der
inneren Interessenlage des Individuums entspringen. Es handelt sich sozusagen
um Aspekte des selbstbestimmten Handelns. Im Kontext der neurologischen
Rehabilitation entspringt der Wunsch, Verlorenes wieder zu erlernen, um
weiterhin am Berufs- und Sozialleben teilnehmen zu können, intrinsischen
Wurzeln. Der Wunsch der Patienten, selbstgesteckte Ziele zu erreichen, ist also
überwiegend intrinsisch bedingt.
Ganz offensichtlich war Herr S. in der geschilderten Phase der
Rehabilitation aufgrund seiner kognitiven Beeinträchtigung nicht in der
Lage, angemessen intrinsische Motivation zu entwickeln. Die Physiotherapie und
die hierdurch bedingten Fortschritte in Bezug auf die Mobilität waren
überwiegend extrinsisch motiviert. Es waren die Physiotherapeuten, die die
Ziele und die Methode der Therapie vorgaben, und nicht der Patient. Auch das
kontinuierlich ausgesprochene Lob der Therapeutinnen ist den extrinsischen
Faktoren zuzuordnen. Der weitere Therapieverlauf bei Herrn S., der durch eine
Stagnation der Mobilität über zwei Wochen hinweg gekennzeichnet war,
zeigt, dass der Effekt rein extrinsischer Motivation im Kontext der
neurologischen Rehabilitation sehr begrenzt ist. Bei schwer betroffenen
Patienten mit kognitiven Beeinträchtigungen unterstützt eine rein
extrinsische Motivation die Wiedererlangung relativ einfacher
Körperfunktionen und Alltagsaktivitäten. Der Besserung sind jedoch
Grenzen gesetzt. Erfahrungsgemäß kommt es zu einer Stagnation des
Fortschritts.
Im weiteren Verlauf besserten sich die kognitiven Funktionen von
Herrn S., sodass er auf Nachfrage das Therapieziel „wieder mobil
werden” äußern konnte. Von diesem Zeitpunkt an konnte das
Stehtraining wieder aufgenommen werden. Die Mitarbeit von Herrn S. war
weiterhin sehr fragil und stark davon abhängig, wie er sich an die
formulierte Zielsetzung erinnern konnte. Zudem war seine Frustrationstoleranz
noch deutlich reduziert, sodass er auf Überforderungssituationen weiterhin
unfreundlich reagierte.
Lob gezielt einsetzen
Die Wiederaufnahme des Stehtrainings war vor allem vom Willen des
Patienten getragen, wieder mobil zu werden, war also intrinsisch motiviert.
Intrinsische Motivation ist tragfähiger und dauerhafter als extrinsische.
Insofern gilt es im therapeutischen Kontext ganz besonders, die intrinsische
Motivation der Patienten zu fördern. Da es sich hierbei um Aspekte
handelt, die primär den Vorstellungen und Wünschen der Patienten
entspringen, ist es also unerlässlich, dass behandelnde Ärzte und
Therapeuten diese Wünsche verstehen und sich während der Therapie
darauf beziehen.
Idealerweise achten Therapeuten im Zuge ihrer Behandlung darauf,
sowohl extrinsische Faktoren als auch die intrinsische Motivation der Patienten
zu fördern. Natürlich ist Lob förderlich. Es wird von Patienten
als positive Rückmeldung erlebt, und das gelobte Verhalten wird
entsprechend häufiger gezeigt. Gelegentlich ausgesprochenes Lob wirkt als
intermittierender Verstärker noch stärker als sehr häufig oder
kontinuierlich ausgesprochenes Lob. Patienten können Lob insbesondere dann
als positive Rückmeldung erleben und akzeptieren, wenn es sich auf
Anstrengungen oder Verbesserungen bezieht, die aus Patientensicht relevant
sind. Zum Beispiel ist ein Lob, welches sich auf konkrete Verhaltensweisen der
Patienten bezieht, die für ihre eigenen Ziele relevant sind, deutlich
wirksamer als ein permanentes Klopfen auf die Schultern der Patienten.
Anwendung des Salutogenese-Konzepts in der neurologischen
Rehabilitation
Es ergibt sich die Frage, welches neben angemessenen kognitiven
Fähigkeiten die Voraussetzungen für die Entwicklung und
Förderung von intrinsischer Motivation im Kontext der neurologischen
Rehabilitation sind. In diesem Zusammenhang gewinnt das Salutogenese-Konzept
von Aaron Antonovsky [[11]], obwohl bereits vor fast 40
Jahren veröffentlicht, zunehmend an Beachtung. In seinem Kern beschreibt
es Faktoren, die für die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit eine
zentrale Bedeutung haben. Gesundheit und Krankheit werden als Zustände
gesehen, die sowohl von objektiven Faktoren (also zum Beispiel der
Immobilität des Herrn S.) als auch von deren subjektiven Erleben (also dem
Ausmaß, in dem Herr S. diese als beeinträchtigend erlebt)
abhängig sind. Diese Zustände liegen auf einem Kontinuum zwischen
Gesundheit und Krankheit. Wir müssen bei vielen Patienten davon ausgehen,
dass sich dieses Kontinuum durch die neuronale Schädigung in vielen
Dimensionen in Richtung Krankheit verschiebt. Für die Motivation ist das
sogenannte Kohärenzgefühl der Patienten von Bedeutung. Dieses
bezeichnet das Ausmaß des Vertrauens in die Vorhersehbarkeit des Lebens
und der Überzeugung, die Ressourcen zu besitzen, um in der neuen
Lebenssituation klarzukommen. Auch wenn hierzu im Kontext der neurologischen
Rehabilitation bisher relativ wenig Literatur existiert [[15]], muss aufgrund von Erkenntnissen aus dem Feld der
kognitiven Verhaltenstherapie davon ausgegangen werden, dass diese Zuversicht
wohl eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Entwicklung von
intrinsischer Motivation ist [[8]].
Aus dem Salutogenese-Konzept ergibt sich zudem, dass nicht nur
objektive Funktionsverbesserungen (zum Beispiel die Verbesserung der
Gangstörung) zu einer Situationsverbesserung führen können,
sondern dass auch subjektive Aspekte wie die zunehmende Akzeptanz der
Störung eine große Wirkung haben können. Dieses ist für
Patienten mit langfristig persistierenden Störungen in Bezug auf die
Lebensqualität von Bedeutung.
Phasen der Motivation
Phasen der Motivation
Stadien der Verhaltensänderung nach dem transtheoretischen
Modell
Die klinische Erfahrung lehrt, dass sich die Motivation der
Patienten während der Reha verändert. Dieser Prozess lässt sich
gut im Rahmen des sogenannten transtheoretischen Modells verstehen [3]. Dieses
Modell wurde ursprünglich für die Raucherentwöhnung entwickelt,
beschreibt mehrere Stadien der Verhaltensänderung und ist im
verhaltenstherapeutischen Kontext gut validiert. Mittlerweile wird es in ganz
unterschiedlichen Bereichen angewandt [[1]],
[[7]]. Die Phasen sind gemäß dem folgenden
Beispiel auf den rehabilitativen Kontext adaptierbar ([Abb.
1]).
Abb. 1 Transtheoretisches Modell,
adaptiert für den Kontext der neurologischen Rehabilitation (DiClemente et
al. 1991): Die Patienten durchlaufen die Stadien sequenziell, beginnend im
Stadium der Absichtslosigkeit. Die Geschwindigkeit der Veränderung kann
individuell stark variieren. Zum Teil werden die ersten zwei Stadien bereits
während der Akutbehandlung durchlaufen. Rückwärtsentwicklungen
in ein Vorstadium kommen ebenfalls vor.
nach Di Clemente CC et al. [[3]]
Die 53-jährige Frau A., eine Migrantin aus der Türkei,
hat sich bei einem Autounfall eine traumatische Hirnverletzung und diverse
Frakturen zugezogen. Zum Aufnahmezeitpunkt bestanden eine Tetraparese, eine
Schluckstörung und ein Verdacht auf eine linksseitige Plexusparese des
Armes.
-
Stadium der Absichtslosigkeit
(„Precontemplation”): In der ersten Woche des Aufenthaltes
fühlte sich Frau A. ihrer Störung hilflos ausgeliefert. Sie hatte
nicht die Gewissheit, dass sie durch Mitwirkung in der Rehabilitation ihre
Situation relevant beeinflussen konnte. Ihr Selbstwirksamkeitserleben war also
gering. Vielmehr gab Frau A. mehrfach an, dass ihre Störung durch einen
Unfall, also durch ein externes Ereignis, entstanden sei. Entsprechend hoffte
sie, dass ihre Störung auch von außen, nämlich durch
Maßnahmen der Therapeuten in Kombination mit medikamentöser Therapie
verschwinden werde. Ihre Mitarbeit in den Therapien war gering.
-
Stadium der Absichtsbildung („Contemplation”)
und Vorbereitung („Preparation”): Im weiteren Verlauf begann Frau
A. zu verstehen, dass sie durch ihre Mitwirkung an der Behandlung das
Ausmaß ihrer Störung beeinflussen konnte. Entsprechend intensivierte
sich auch ihre Mitarbeit. Die Therapeuten versuchten, durch das Aufzeigen von
kleinen Verbesserungsschritten die Überzeugung von Frau A. in die
Wirksamkeit ihrer Übungen zu verstärken.
-
Handlungsstadium („Action”): Schließlich
arbeitete Frau A. maximal in der Therapie mit. Sie hatte die Gewissheit, durch
die Therapie ein optimales Ergebnis erzielen zu können. Sie erlernte das
Gehen wieder, zuerst mit Rollator, dann ohne Hilfsmittel. Die Therapeuten
unterstützten diese Überzeugung, indem sie mit der Patientin das
eigenständige Kochen als Therapieziel vereinbarten, für das sie gehen
können musste.
-
Stadium der Aufrechterhaltung („Maintenance”)
und Beendigung („Termination”): Frau A. berichtete
anlässlich einer ambulanten Kontrolluntersuchung zwei Monate nach der
stationären Therapie, dass sie zu Hause für die Familie trotz ihrer
leichten fortbestehenden Tetraparese den Haushalt versorgt.
Wie Frau A. durchlaufen die Patienten diese Stufen sequenziell,
wobei die Veränderungsgeschwindigkeit von einer Stufe auf die nächste
individuell sehr unterschiedlich ist und es Rückwärtsbewegungen geben
kann. Nachdem Frau A. wieder eigenständig mobil war, fühlte sie sich
zwischenzeitlich durch Schwindel, Konzentrationsstörungen und
Müdigkeit beeinträchtigt und holte sich beim Gehen verstärkt
Hilfestellung beim Pflegepersonal. Manchmal erlebt man in der
Rehabilitationsklinik die ersten Phasen nicht, wenn sich die Patienten in der
Akutklinik rasch verändert haben. Doch für die Therapeuten sind die
Ziele und die Bedürfnisse der Patienten klar ersichtlich, die sich
entsprechend ihrer motivationalen Stadien verändern. Während
Patienten im Stadium der Absichtslosigkeit als rehabilitatives Ziel in aller
Regel „gesund werden” angeben, können Patienten im
Handlungsstadium oder im Stadium der Aufrechterhaltung sehr spezifische
Behandlungsziele nennen. Es ist daher von großer Bedeutung, mit den
Patienten in regelmäßigen Abständen ihren Behandlungsverlauf zu
besprechen und auch die individuellen Behandlungsziele zu thematisieren. So
kann den Patienten im Verlauf der Rehabilitation geholfen werden, ihre Ziele zu
konkretisieren und zu adaptieren.
In den unterschiedlichen Stadien zeigen die Patienten ein
wechselndes Maß an Aktivität in den Therapien. So verhalten sich
Patienten in der Phase der Absichtslosigkeit eher passiv, in der späteren
Handlungsphase dagegen sehr aktiv. Es ist wichtig zu verstehen, dass sich
dadurch nicht ein Mangel an Motivation ausdrückt. Vielmehr wird
verständlich, dass das Verhalten der Patienten aus der Perspektive ihrer
individuellen Störungssicht heraus erklärbar wird.
Entsprechend sind es die Therapeuten, die die Situation und die
Zuversicht der Patienten verändern können. Im Rahmen der
täglichen rehabilitativen Arbeit fördern sie die Patienten
kontinuierlich. Hierfür haben sich die Prinzipien der
„motivierenden Gesprächsführung” („Motivational
Interviewing”) und der „Ressourcenaktivierung”
bewährt.
Motivationale Techniken
Motivationale Techniken
Prinzipien der motivierenden Gesprächsführung
Mit motivierender Gesprächsführung wird ein
patientenzentrierter Kommunikationsstil bezeichnet, der das Ziel hat, die
intrinsische Motivation der Patienten zu fördern und ihnen so eine
optimale Mitarbeit in der Rehabilitation zu ermöglichen
[[12]], [[13]]. Das Konzept
wurde ursprünglich zur Beratung für Menschen mit Suchtproblemen
entwickelt. Der motivierenden Gesprächsführung liegt die
Überzeugung zu Grunde, dass die Patienten in jeder Situation gute
Gründe für ihr Verhalten haben.
Frau A. sah ihre Lebensperspektive durch den Unfall zunächst
in Frage gestellt. Sie entwickelte erhebliche Ängste in sozialer und
ökonomischer Hinsicht. Diese wiederum begründeten unbewusstes
Vermeidungsverhalten und mithin ihre anfänglich geringe Mitwirkung in der
Therapie. In einer derartigen Situation ist direktes Drängen zur Therapie,
Konfrontieren mit negativen Auswirkungen vom Fernbleiben von der Therapie oder
Argumentieren für eine stärkere Anstrengung in der Therapie
kontraproduktiv. Dies ruft eher Widerstand der Patienten hervor und führt
auf beiden Seiten zur Frustration.
Ein Prinzip der motivierenden Gesprächsführung ist, den
Patienten zu helfen, Alternativen für ihr Verhalten zu entwickeln. Bei
Frau A. stand die Mitarbeit in der Physio- und Ergotherapie im Vordergrund der
Überlegungen. Deshalb leitete sie ihre Therapeutin in einer
Therapieeinheit, in der bewusst die Schwerpunkte anders gesetzt wurden, dazu
an, über kurzfristige und langfristige Vor- und Nachteile von aktiver
Mitarbeit in der Therapie zu reflektieren. Wichtig war, dass Frau A. sich ihrer
Situation selbstständig bewusst wurde und die Argumente für ihre
Handlungsoptionen eigenständig erarbeitete. Aus psychologischer Sicht
erhöhte sich hierdurch ihre Ambivalenz gegenüber ihrem passiven
Verhalten, welches sich in der Therapie negativ auswirkte, und es
verstärkte ihre Veränderungsbereitschaft.
Vier Techniken der motivierenden
Gesprächsführung
In der motivierenden Gesprächsführung wenden Therapeuten
vier wesentliche Techniken an:
-
Den Patienten Empathie ausdrücken durch aktives
Zuhören und Verständnis für ihre Situation: Natürlich
musste Frau A. die dramatischen Auswirkungen ihrer Hirnverletzung verarbeiten.
Entsprechend viel Raum benötigte sie in der Frühphase, um ihre
Situation zu schildern und ihren damit verknüpften Emotionen wie Wut,
Trauer und Angst Ausdruck zu geben. Therapeutischerseits war es wichtig,
Offenheit und Gesprächsbereitschaft zu signalisieren, auch wenn hierdurch
gelegentlich Zeit für funktionsorientierte Therapie verloren ging.
-
Die Patienten in ihrer Selbstwirksamkeitsüberzeugung
stärken, indem sie ermutigt werden, ihre Situation durch aktive Mitarbeit
in der Therapie verändern zu können: Mit Frau A. wurden
wöchentlich die durch die Therapie erzielten Verbesserungen
herausgearbeitet.
-
Den Patienten helfen, ihre Ziele und Vorstellungen für
ihre Zukunft zu entwickeln: Mit Frau A. wurde regelmäßig das Kochen
thematisiert, und es wurde von Fertiggerichten bis hin zu 3-Gang-Menüs das
Kochen mit steigendem Schwierigkeitsgrad besprochen.
-
Flexibel mit Widerstand der Patienten umgehen: Häufig
nehmen Patienten sichtbare Beeinträchtigungen wie
Bewegungseinschränkungen als soziale Diskriminierung wahr und scheuen sich
deshalb, in die Öffentlichkeit zu gehen. Mit therapeutischer
Unterstützung können sie Alternativen für ihr Verhalten
entwickeln und diese im geschützten Rahmen testen. Frau A. entschied sich,
in therapeutischer Begleitung zunächst ins Dorf zum Einkaufen zu gehen,
bevor sie am Mobilitätstraining in der Stadt teilnahm.
Die Grundregeln der Gesprächsführung beinhalten das
Stellen von offenen Fragen („Was denken Sie selbst über Ihre
Störung?”), ein aktives Zuhören mit häufigem verbalem und
nonverbalem Feedback, die Würdigung der Patienten als Personen und die
Akzeptanz ihrer Äußerungen. Durch periodisches Zusammenfassen wird
die Auseinandersetzung der Patienten mit ihrer eigenen Situation
gestärkt.
Die Grundregeln der Gesprächsführung beinhalten das
Stellen von offenen Fragen, aktives Zuhören, Würdigung der Patienten
und die Akzeptanz ihrer Äußerungen.
Ressourcen und ihre Aktivierung
Ressourcen und ihre Aktivierung
Die Ressourcenperspektive ist das Gegenstück zu der in der
Rehabilitationsmedizin fest verwurzelten Defizit- oder Problemperspektive. Mit
letzterem Begriff bezeichnen wir das Störungsbild mit seinen negativen
Auswirkungen auf das Leben der Patienten. Frau A. beispielsweise begab sich
deshalb in rehabilitative Behandlung, weil sie durch die Folgen der
linksseitigen Halbseitenlähmung in ihrem Alltag beeinträchtigt war.
Schließlich suchen alle Patienten wegen eines Gesundheitsproblems den
Therapeuten auf.
Positives Potenzial nutzen
In dieser Situation ist es wichtig zu beachten, dass Patienten
neben ihren Beeinträchtigungen auch viele positive Faktoren mit sich
bringen, die therapeutisch nutzbar sind. Frau A. kommt aus einer Familie, die
sie sehr unterstützt, und sie hat einen festen Freundeskreis. Sie ist es
gewohnt, aktiv und für die Familie da zu sein. Sie hat Enkel, die sie
zeitweise unter der Woche beaufsichtigt, was ihr große Freude bereitet.
Allgemein bezeichnet man mit Ressourcen jeden positiven Aspekt der
Lebenssituation der Patienten und ihres seelischen Geschehens. Es handelt sich
zum Beispiel um physische Fähigkeiten, finanzielle Möglichkeiten,
zwischenmenschliche Beziehungen, aber auch um motivationale Bereitschaften,
Ziele, Wünsche, Interessen, Überzeugungen, Werthaltungen, Wissen,
Bildung, Einstellungen und Gewohnheiten. Anders ausgedrückt handelt es
sich um die Bereiche „Können”, also um Fähigkeiten und
Kompetenzen der Patienten, um „Wissen” über sich, ihre
Situation und ihre Probleme, „Wollen” im Sinne von Motivation und
Engagement, „Beziehungen” und allgemeine Lebenssituation. Die
Gesamtheit all dessen stellt, aus der Ressourcenperspektive betrachtet, das
positive Potenzial dar, das den Patienten trotz ihrer Störung zur
Verfügung steht [[4]]. Bedeutend ist, dass
Patienten ihre Ressourcen nur nutzen können, wenn sie diese entsprechend
wahrnehmen. Deshalb ist es wichtig, den Patienten bei dieser Wahrnehmung zu
helfen. Dieses bezeichnet man als Ressourcenaktivierung. Hierdurch
verstärkt sich wiederum die Besserungs- und Selbstwirksamkeitserwartung
der Patienten mit positiven Auswirkungen auf die Therapie.
Es hat sich bewährt, die Ressourcen der Patienten genauso wie
ihre Defizite systematisch zu erfassen. Ansonsten werden therapeutisch nutzbare
Ressourcen nach unserer Erfahrung allzu leicht übersehen. Die Aktivierung
von Ressourcen kann im Rahmen der Therapien ständig erfolgen (a Kasten
„Aktivierung von Ressourcen”).
Psychotherapeutische Forschung belegt, dass die Aktivierung von
Ressourcen in der Psychotherapie mit einem verbesserten Therapieergebnis
verknüpft ist [[5]]. Im Kontext der Rehabilitation
stehen die Belege hierfür noch aus.
Eine gute Patienten-Therapeuten-Beziehung ist motivierender als
jede Technik
Die Berücksichtigung der Prinzipien der motivierenden
Gesprächsführung und der Ressourcenaktivierung unterstützt die
Schaffung eines tragfähigen therapeutischen Arbeitsbündnisses
nachhaltig. Dieses hat wesentliche Auswirkungen auf die Motivation der
Patienten und somit auf den Therapieerfolg. So ist zum Beispiel aus der
Psychotherapieforschung bekannt, dass die Beziehung zwischen Therapeuten und
Patienten stärkere Auswirkungen auf den Ausgang der Therapien hat als die
neuesten therapeutischen Techniken [[2]],
[[18]]. Zwar liegen derart klare Daten in Bezug auf die
Bedeutung der Patientenbeziehung für die neurologische Rehabilitation noch
nicht vor, doch belegt unsere Erfahrung aus der täglichen rehabilitativen
Arbeit, dass dieser Aspekt auch hier eine wichtige Rolle spielt.
Motivation und Arbeiten im Team
Motivation und Arbeiten im Team
Ungleich komplexer als in der ambulanten Einzeltherapie wird die
Situation im stationären oder tagesklinischen Setting, wenn Patienten
nicht nur mit einem Therapeuten, sondern mit einer Gruppe von Therapeuten
interagieren.
Die 49 Jahre alte Frau K. erlitt bei einem Sturz von der Treppe eine
Gehirnerschütterung und eine Distorsion der Halswirbelsäule. Sechs
Monate nach dem Trauma persistierten Kopf- und Nackenschmerzen und hieraus
resultierende Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen. Bei der
Magnetresonanztomografie des Kopfes zeigten sich keine dauerhaften
strukturellen Hirnverletzungen. Aufgrund einer fortbestehenden
Arbeitsunfähigkeit wurde die Patientin in ein tagesklinisches
Therapiezentrum zugewiesen. In der körperlichen Untersuchung fanden sich
Verspannungen in der Nackenmuskulatur. In der psychopathologischen Untersuchung
ergaben sich Hinweise für eine leichte Depression. Im Rahmen der
interdisziplinären Schmerztherapie versuchte die Psychologin, der
Patientin ein Schmerzkonzept mit somatischen und psychischen Faktoren zu
vermitteln. Der Physiotherapeut erwähnte der Patientin gegenüber
Blockaden in der HWS und fokussierte sich auf eine vorsichtige Mobilisation der
Wirbelsäule. Fortan zeigte sich Frau K. verschlossen für jedweden
Ansatz der psychologischen Schmerztherapie und war nur noch auf die
somatisch-strukturelle HWS-Behandlung fixiert.
In diesem Fallbeispiel hatten Neuropsychologin und Physiotherapeut
ein unterschiedliches Verständnis für die Beschwerdeursachen der
Patientin. Hieraus resultierten stark voneinander abweichende therapeutische
Vorgehensweisen. Aus Sicht von Frau K. waren sich die Experten über ihr
Störungsbild also nicht einig. Sie konnte nicht anders, als zunächst
mit Verunsicherung zu reagieren. Schließlich wendete sie sich als
Konsequenz eines weitgehend unbewussten Entscheidungsprozesses der Seite zu,
von der sie sich am ehesten Besserung erhoffte. Aus motivationaler Sicht
resultierte die Konsequenz, dass die Therapiebeziehung zur Neuropsychologin
stark beeinträchtigt wurde.
Aktivierung von Ressourcen
Therapeuten können folgendermaßen
vorgehen:
-
Verbesserungen herausarbeiten: Das wöchentliche
Herausarbeiten der erzielten Verbesserungen hat die Besserungserwartung von
Frau A. verstärkt.
-
Positives therapeutisches Motto: Die Therapeutin vereinbarte
mit Frau A. das Motto der Therapie „Mein Lieblingsessen – bis zur
Entlassung kochen können”.
-
Normalisieren: Erklären, dass die
Funktionseinschränkungen der Patienten häufig vorkommen und sich
verbessern. Frau A. wurde anhand der computertomografischen Bilder
erklärt, dass ihre Lähmungserscheinungen eine natürliche Folge
der traumatischen Hirnverletzung waren und dass der Verdacht auf Plexusparese
nicht bestätigt werden konnte.
-
Wunderfrage stellen: Die Therapeutin fragte Frau A., was sie
machen würde, wenn sie morgen gesund wäre.
-
Lösungsorientierung: Es wurde darauf geachtet, die von
Frau A. aufgeworfenen Anliegen und in der Therapie geäußerte
Probleme konkret zu lösen.
Reframing: Umdeuten von negativen Einstellungen. Mit Frau A. war
es wichtig zu klären, dass es ein unglücklicher Zufall war, der zu
ihrem Unfall geführt hatte und nicht die Konsequenz möglichen
früheren Fehlverhaltens im Sinne einer Bestrafung durch höhere
Instanzen.
Derartige Fälle sind, wenn auch in schwächerer
Ausprägung, in der neurologischen Rehabilitation häufig zu finden.
Gerade in der Frühphase der Therapie sind Patienten oft sehr sensibel
für subtile Unterschiede in ihrer Kommunikation mit Therapeuten. Dieses
können leicht voneinander abweichende Zielformulierungen, prognostische
Einschätzungen oder pathophysiologische Erklärungsansätze der
Therapeuten sein. Hieraus können Verunsicherungen der Patienten und
schließlich motivationale Einbrüche resultieren. Deshalb ist es
für rehabilitative Teams unerlässlich, ein gemeinsames
Verständnis für Störungen, Ressourcen und Bedürfnisse der
Patienten zu entwickeln und die Interaktion der Teammitglieder mit den
Patienten eng zu koordinieren.
Ethische Grundhaltung beeinflusst Therapieerfolge
Ethische Grundhaltung beeinflusst Therapieerfolge
Die Grundhaltung, die Patienten als Individuen wahrzunehmen, sie mit
ihren Beeinträchtigungen, aber auch mit ihren Ressourcen zu betrachten und
vor allem ihre Bedürfnisse und Zielsetzungen zum Mittelpunkt der Therapie
zu machen, entspricht einem Menschenbild der humanistischen Ethik.
Maßgeblich prägte Carl Rogers dieses Bild [[16]]. Er schlussfolgert, dass ein ethisches
therapeutisches Verhalten den Patienten in ihrem Sinne einen Nutzen bringt.
Unethisch wäre ein Verhalten, welches die Patienten in ihren
Entfaltungsmöglichkeiten und ihren Zielsetzungen nicht ideal
unterstützt oder gar behindert.
Der 20 Jahre alte Herr Y. aus Bosnien erlitt bei einem Sturz vom
Baugerüst eine schwere traumatische Hirnverletzung. Bei Aufnahme in die
Rehabilitationsklinik bestanden eine mittelschwere Störung von
Gedächtnis, Konzentration und exekutiven Funktionen, wobei bei der Testung
aufgrund geringer Deutschkenntnisse ein Dolmetscher zugezogen wurde. Ataxie und
eine rechtsseitige Halbseitenlähmung beeinträchtigten die
Mobilität und den Gebrauch des rechten Armes. Aus Sicht der
Physiotherapeuten war aufgrund der Sprachbarriere und der kognitiven
Beeinträchtigung von Herrn Y. nur eine geringe verbale Kommunikation
möglich. So wurde in den ersten Wochen der Therapie vor allem am Gang
gearbeitet. Anlässlich einer ausführlichen Patientenbesprechung, die
erst sechs Wochen nach Aufnahme in die Klinik stattfand, bei der auch ein
professioneller Dolmetscher zugegen war, äußerte Herr Y., dass
für ihn der Einsatz des Armes eigentlich ein viel wichtigeres
therapeutisches Ziel sei als die Verbesserung seiner Mobilität.
Das Handeln der Physiotherapeutin war, in Ermangelung einer
ausreichenden Möglichkeit, sich mit Herrn Y. inhaltlich austauschen zu
können, geprägt von ihrem Bild, was sie vom Patienten hatte. Es
basierte auf den Informationen wie der Diagnose, dem Alter, dem kulturellen
Hintergrund und natürlich ihren Vorerfahrungen, dass Patienten mit
ähnlichen Störungsbildern häufig zunächst wieder laufen
lernen wollen. Aufgrund dieses Bildes wählte sie auch die vorrangige
Zielsetzung der Behandlung, nämlich die Verbesserung der
Mobilität.
Missverständnisse demotivieren
Immer wieder erleben Therapeuten ähnliche Situationen
insbesondere bei schwer betroffenen Patienten, die kognitiv beeinträchtigt
oder zumindest verlangsamt reagieren. Auch hier sind es dann die Therapeuten,
die entsprechend ihrer Erfahrung die Zielsetzungen der Patienten vermuten und
hierauf die Therapieschwerpunkte zuschneiden. Dieses Vorgehen kann Patienten
demotivieren und sich in Lust- oder Hilflosigkeit äußern.
In diesem Sinne gehört es zu einer angemessenen
Therapiebeziehung, Anstrengungen zu unternehmen, um die Ziele der Patienten zu
verstehen und zur Grundlage der Behandlung werden zu lassen. In diesem Sinne
arbeiten in der Therapie zwei Experten miteinander: Der Patient als Experte
für seine Ziele, der diese für die Therapie vorgibt. Der Therapeut
ist der Experte für den Prozess, der zur Erreichung dieser Ziele
führt, wenn diese aus therapeutischer Sicht realistisch erreichbar sind.
Dieses Rollenverständnis lässt sich gut mit der Metapher eines
Bergführers und seines Gastes vergleichen: Der Gast gibt das Gipfelziel
vor, der Bergführer kennt den Weg nach oben. Allerdings muss der Gast
selbstständig laufen und auch sein Gepäck tragen.
In der Therapie arbeiten zwei Experten miteinander – der
Patient als Experte für seine Ziele und der Therapeut als Experte für
den Prozess.
Motivationale Aspekte motorischen Lernens
Motivationale Aspekte motorischen Lernens
Die Kernelemente des Motorischen Lernens können in
sensomotorische Aspekte und in kognitive Aspekte untergliedert werden, die sich
wiederum wechselseitig beeinflussen.
Die alltagsnahe, kontextbezogene Übungsauswahl wie das Shaping
(die Übungen sind angepasst an die jeweilige Leistungsgrenze des Patienten
mit allmählicher Steigerung) und die Repetition bilden die zentralen
sensomotorischen Elemente. Kognitive Grundvoraussetzungen für Lernen sind
zum einen die Fähigkeit zur Erinnerung (Gedächtnis) und zum anderen
die Fähigkeit des Abrufens (Anwenden von Erlernten oder Lerntransfer).
Weiter ist ein Situationsverständnis erforderlich und die Fähigkeit,
die Aufmerksamkeit über einen Zeitraum zu richten. Zum anderen ist
für das motorische Lernen die Fähigkeit sich zu motivieren
unabdingbar.
Kleine Erfolgserlebnisse steigern das Selbstvertrauen
Zu den in den letzten Jahren deutlich zunehmenden Erkenntnissen
über die Zusammenhänge zwischen motorischem Lernen und Motivation
haben die Arbeiten von Gabriele Wulf und Rebecca Lewthwaite wesentlich
beigetragen [[22]]. Lewthwaite benennt für den
Kontext der Physiotherapie die Motivation als einen der drei wesentlichen
Aspekte für das Outcome der Therapie [[9]]. Sie
adaptiert unter anderem Antonovskys Konzept der Selbstwirksamkeit für die
Zwecke der motorischen Rehabilitation. Es gilt das Selbstvertrauen der
Patienten in Bezug auf ihre spezifischen motorischen Funktionen zu
erhöhen. Gleichzeitig gilt es, das Vertrauen der Patienten darin zu
erhöhen, selbstständig durch aktive Therapie ihren Zustand verbessern
zu können. Lewthwaite betont, dass es sinnvoll ist, darauf hinzuwirken,
dass die Patienten den Therapieerfolg an kleinen, kurzfristigen Verbesserungen
messen anstatt am Vergleich mit der eigenen gesunden Vergangenheit. Es ist also
wichtig, mit den Patienten kurzfristige, spezifische und erreichbare Ziele zu
vereinbaren und den Patienten gleichzeitig durch die angemessene Auswahl des
Schwierigkeitsniveaus der Übungen kontinuierlich Erfolgserlebnisse zu
ermöglichen.
Am Beispiel von Herrn M., 16 Jahre, passionierter Skateboarder,
lässt sich dies verdeutlichen. Er erlitt bei einem Mofaunfall eine schwere
traumatische Hirnverletzung mit regredienter rechtsseitiger Hemiparese. Sein
Ziel war schnell und klar formuliert: „wieder boarden
können”, was für ihn das Fahren von Stufen, Rampen und
Schrägen beinhaltete.
In der Einzeltherapie integrierte die Therapeutin bereits am
Anfang beim Stehtraining das Skateboard, zum Beispiel mit dem Auftrag, das
weniger betroffene Bein aufs Skateboard zu stellen, wobei sich Herr M.
anfänglich noch festhalten durfte. Es fand ein sukzessives Shaping statt
bis hin zum Stehen ohne Hilfsmittel, bis er mit dem weniger betroffenen Bein
das Skateboard bewegte. Als nächstes Ziel wurde das Stehen auf dem
Skateboard angestrebt, zuerst mit Halten, dann mit immer weniger
Unterstützung. Die nächsten Ziele waren parallel geschaltet: Stehen
auf dem sich bewegenden Board und der Einbeinstand auf dem Board. Hieraus ergab
sich zwangsläufig das nächste Ziel: sicher bremsen können. Beim
Erlernen des Antreibens des Skateboards wurde dies zunächst auf dem
Kickboard geübt, bevor dies der Patient auf dem Skateboard übte.
Nachdem Herr M. sicher in der Sporthalle Skateboard fahren konnte, übte er
draußen, zuerst im ebenen Gelände, später mit Steigungen und
Gefälle. Zum Zeitpunkt der Entlassung konnte er draußen sicher
fahren, allerdings ohne Stufen, Kanten oder andere Hindernisse. Zur ambulanten
Kontrolle drei Monate später berichtete Herr M., dass er daran weiter
geübt und Stufen und Rampen wieder im Griff habe.
Studienergebnisse belegen, dass Gesunde stärker von
motorischem Training profitieren, wenn ihr Selbstvertrauen durch den Vergleich
mit einer imaginären schlechteren Gruppe gezielt gesteigert wird
[[10]]. Auch hieraus lässt sich schlussfolgern,
dass eine Steigerung der Selbstwirksamkeitserwartung im Kontext des motorischen
Lernens zu einem besseren Behandlungsergebnis führt.
Therapeutisches Feedback wirkt auf motorische Fähigkeiten
der Patienten ein
Auch die Konzeption, die Patienten von ihren motorischen
Fähigkeiten haben, wirkt sich auf das Outcome von Lernprozessen aus
[[10]]. Sehen Probanden Fähigkeiten als stabil und
somit als unveränderbare Eigenschaft ihrer Person an, hemmt diese
Überzeugung Lernprozesse zur Verbesserung dieser Fähigkeiten. Werden
motorische Fähigkeiten auf der anderen Seite als veränderbare
Größe erlebt, unterstützt dieses die Erwartung, durch Training
auf die Fähigkeiten einwirken zu können. Die Personen entwickeln die
Zuversicht, höhere Leistungen erzielen zu können. Dies motiviert und
führt tatsächlich zu besseren Leistungen [[20]]. Ein Beispiel hierfür ist die Formulierung
„Sie sind ohne herunterzufallen über den Balken gegangen”
statt „Sie haben ein gutes Gleichgewicht”.
Für die motorische Rehabilitation ist es bedeutend, dass die
Art des therapeutischen Feedbacks beeinflusst, wie Fähigkeiten
konzeptualisiert werden. Das heißt, sie werden als veränderbar oder
unveränderbar angesehen. Fehler wirken sich negativ auf die Motivation
aus, wenn die Fähigkeiten als stabil angesehen werden. Im spezifischen
Feedback sollte man daher die Reduktion von Beeinträchtigungen
hervorheben. Es ist zudem sinnvoll, positive Bestärkung, Lob über
gelungene Versuche mit der Rückmeldung über fehlerhaftes Verhalten zu
mischen, um Motivation und Interesse zu erhalten.
Motivation im Kontext ICF-basierter Assessments
Motivation im Kontext ICF-basierter Assessments
Assessments helfen bei der gemeinsamen Zielfindung
Herr B., ein 43-jähriger Elektroinstallateur, war aufgrund
der Folgen einer traumatischen Hirnverletzung in der Klinik. Beim
therapeutischen Aufnahmebefund äußerte er auf die Frage, welche
Probleme er sehe, „Ich habe keine Probleme”. Auf die Frage nach
seinen Ziele bis zum Austritt äußerte er: „So schnell wie
möglich nach Hause gehen und wieder arbeiten.” Weiter nachgefragt,
was wäre, wenn er jetzt bereits entlassen würde, gab er an, dass er
vielleicht das Problem habe, dass er konditionell noch nicht fit genug
wäre, um wieder arbeiten zu können.
Im sensomotorischen Bereich wählte die Therapeutin die
Berg-Balance-Skala, um das Gleichgewicht zu testen. Hierbei zeigten sich der
Tandemstand und der Einbeinbeinstand auffällig. Herr B. sagte, dass dies
daran liege, dass er seine schweren Arbeitsschuhe nicht anhabe. Die Therapeutin
bat ihn, am nächsten Tag die schweren Arbeitsschuhe mitzubringen. Auch
dann blieben die zwei Items der Berg-Balance-Skala trotz der schweren
Arbeitsschuhe auffällig. Auf die Nachfrage der Therapeutin, wie er sich
die Hose anziehe, erzählte Herr B., dass er sich seit dem Unfall immer zum
Hoseanziehen hinsetze. Bei weiteren Tests war auffällig, dass er zum
Treppenhinuntergehen immer das Geländer benutzte. Die Therapeutin und Herr
B. einigten sich aufgrund der Assessments auf die Ziele: Hose im Stehen
anziehen können, Treppe hinuntergehen und gleichzeitig etwas tragen
können und auf einem Balken gehen können.
Bei diesem Beispiel, in dem der Patient ein deutlich vermindertes
Störungsbewusstsein zeigte, war das Assessment sehr hilfreich, um
gemeinsame Ziele und hiermit die Motivation zur Therapie zu erarbeiten.
Die ICF unterstützt das therapeutische Vorgehen
Die International Classification of Functioning, Disability and
Health (ICF) der WHO operationalisiert Gesundheit und Behinderung der Menschen
in den Teilaspekten Körperstrukturen und -funktionen, Aktivitäten,
gesellschaftliche Teilhabe, personenbezogene Faktoren sowie Umweltfaktoren. Das
Gerüst ist umfassend und ermöglicht eine detaillierte Betrachtung der
für die Patienten individuell relevanten Bereiche. Körperfunktionen
und Aktivitäten bilden die Voraussetzungen für bestimmte Bereiche der
gesellschaftlichen Teilhabe. So ist zum Beispiel eine ausreichende posturale
Kontrolle eine notwendige Voraussetzung für die Ausübung eines
Berufes mit körperlicher Arbeit. Allerdings hat sich in den letzten Jahren
in vielen Rehabilitationseinrichtungen die Erkenntnis durchgesetzt, dass die
sogenannte Top-down-Sichtweise sinnvoll ist. Hierbei werden
Alltagsaktivitäten direkt trainiert, wenn dies den Patienten funktionell
möglich ist.
Im Beispiel von Herrn B. zeigt sich die Wichtigkeit, dass
Therapeuten die partizipations- und alltagsbezogenen Ziele aus der
Patientensicht aufnehmen und sich überlegen, welche Alltags- und/oder
berufsbezogenen Aktivitäten und Anforderungen die Patienten langfristig
wieder benötigen, um ihr Ziel zu erreichen. Die Identifikation der
Patienten mit ihren Zielen steigert die Motivation erheblich, dem entgegen kann
sich eine Zielsetzung, die den Patientenwunsch zu wenig abbildet, demotivierend
auswirken.
Während Herr B. seine Ziele auf der Partizipationsebene
formuliert („Möglichst schnell wieder nach Hause gehen
können” und „Wiederaufnahme der Arbeit”), denkt die
Therapeutin im ICF-Modell bereits, welche Aktivitäten derzeit
eingeschränkt sind, und analysiert in ihrem klinischen Denkprozess,
weswegen der Einbeinstand, der Tandemstand und das Treppenhinuntergehen auf
Körperfunktions-/-strukturebene eingeschränkt sind.
In der Therapie wirkt die regelmäßige Durchführung
von Assessments oft sehr motivierend, insbesondere wenn man die Patienten mit
in deren Beurteilung integriert. Therapeuten können dies durch
Fragestellungen bewirken wie zum Beispiel „Welche Aufgaben sind Ihnen
leichtgefallen und welche waren schwierig für Sie?” oder:
„Wie war der Einbeinstand diesmal im Vergleich zum letzten Mal?”.
Anschließend lässt sich das subjektive Empfinden der Patienten mit
objektiven Kriterien wie der Zeit im Einbeinstand vergleichen. Besonders
wirksam in diesem Sinne sind natürlich Assessments, die den
persönlichen Zielen der Patienten entsprechen ([Abb.
2]).
Abb. 2 Hierarchische Abhängigkeit der
Zielsetzungen von Herrn B. im Kontext der ICF. Herr B. formuliert seine
Zielsetzungen auf der Partizipationsebene. Der Therapeutin gelingt es, trotz
verminderter Störungseinsicht des Patienten nach einem Assessment, Ziele
auf Aktivitätsebene zu vereinbaren. Sie trainiert mit dem Patienten zum
Teil auf Körperfunktionsebene und berücksichtigt Kontextfaktoren und
personenbezogene Faktoren.
Schlussbemerkungen
Schlussbemerkungen
Natürlich gibt es kein Patentrezept, um alle Patienten in jeder
Situation optimal motivieren zu können. Allerdings belegen die klinische
Erfahrung und die genannten wissenschaftlichen Studien, dass die
Berücksichtigung einiger motivationaler Grundprinzipien sehr wohl zu einer
Steigerung der Motivation der Patienten führen und in einem verbesserten
Therapieergebnis resultieren kann.
Für das motivationale Arbeiten mit den Patienten gilt dasselbe
wie für die meisten Aspekte der Therapie: Übung macht den Meister. In
diesem Sinne seien gerade Berufsanfänger dazu ermuntert, über die aus
motivationaler Sicht relevanten Aspekte ihrer Patienten bewusst zu reflektieren
und verschiedene kommunikative Techniken zu probieren. Die Gefahr
unerwünschter Wirkungen ist gering. Mit wachsender Erfahrung wird es
hierdurch zunehmend leichter, die Therapie aus Perspektive der
Patientenbedürfnisse zu betrachten. Auch Formulierungen, die empathisch
sind, das Selbstwirksamkeitserleben der Patienten verstärken und
Ressourcen aktivieren, werden zunehmend vertrauter ([Tab.
1]).
Tab. 1 Pathogenetische versus ressourcen- und
selbstwirksamkeitsorientierte Formulierungen: Mit etwas Übung wird der
Gebrauch der letztgenannten Formulierungen rasch vertrauter.
<TD VALIGN="TOP">
Situation
</TD><TD VALIGN="TOP">
Pathogenetische Formulierungen
</TD><TD VALIGN="TOP">
Ressourcen- und
selbstwirksamkeitsorientierte Formulierungen
</TD>
<TD VALIGN="TOP">
Anamneseerhebung bei Armparese
</TD><TD VALIGN="TOP">
Bei welchen Handlungen beeinträchtigt Sie die
Armlähmung?
</TD><TD VALIGN="TOP">
Welche Handlungen können Sie trotz Ihrer
Armlähmung durchführen?
</TD>
<TD VALIGN="TOP">
Inwiefern hat sich die Armlähmung in den letzten
Wochen verändert?
</TD><TD VALIGN="TOP">
Welche Funktionen des Armes haben Sie in den letzten
Wochen wiedererlernen können?
</TD>
<TD VALIGN="TOP">
Ergebnismitteilung eines 3-Minuten-Gangtests an einen
Patienten mit Hemiparese
</TD><TD VALIGN="TOP">
Sie haben in 3 Minuten 180 m zurückgelegt. Ihre
Gehgeschwindigkeit beträgt 3,6 km/h und ist auf die Hälfte des
Normalen reduziert.
</TD><TD VALIGN="TOP">
Sie haben in 3 Minuten 180 m zurückgelegt. Trotz
ihrer Beinlähmung haben Sie es geschafft, mit 3,6 km/h halb so schnell wie
ein Gesunder zu gehen.
</TD>
<TD VALIGN="TOP">
Atrophie des rechten M. quadriceps bei unauffälliger
Beinkraft
</TD><TD VALIGN="TOP">
Ihr rechter Oberschenkelmuskel ist verschmächtigt,
aber Ihre Kraft ist normal.
</TD><TD VALIGN="TOP">
Sie können ihr rechtes Bein normal gebrauchen, obwohl
der rechte Oberschenkelmuskel schwächer ausgeprägt ist als der
linke.
</TD>
<TD VALIGN="TOP">
Anamneseerhebung bei einem Schmerzpatienten
</TD><TD VALIGN="TOP">
Wobei behindern Sie die Schmerzen?
</TD><TD VALIGN="TOP">
Was können Sie trotz Ihrer Schmerzen alles tun?
</TD>