Geburtshilfe Frauenheilkd 2010; 70(7): 553-560
DOI: 10.1055/s-0030-1250065
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ärztliches Handeln in der Geburtshilfe: Kriterien zur Entscheidungsfindung bei Interventionen

Decisions in the Delivery Room: How Do Obstetricians Come to Their Decisions?C. Hellmers1 , A. Krahl1 , B. Schücking2
  • 1Fachhochschule Osnabrück, Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Verbund Hebammenforschung, Osnabrück
  • 2Universität Osnabrück, Gesundheitswissenschaften, Forschungsschwerpunkt Maternal Health, Osnabrück
Further Information

Publication History

eingereicht 16.10.2009 revidiert 22.1.2010

akzeptiert 5.5.2010

Publication Date:
19 July 2010 (online)

Preview

Zusammenfassung

Fragestellung: Der geburtshilfliche Alltag ist in vielen Kliniken von hohen Interventionsraten geprägt. Geburtshilfliche Expertinnen müssen Entscheidungen treffen und diese verantworten. Beeinflusst wird dieser Prozess durch unterschiedliche Faktoren. Diese Arbeit geht der Frage nach, welche Entscheidungskriterien Ärztinnen[1] nutzen, um sich für oder gegen die Durchführung geburtshilflicher Interventionen (Sectio caesarea, Episiotomie, Geburtseinleitung, CTG-Überwachung) zu entscheiden. Zudem wird untersucht, ob sich diese Kriterien im zeitlichen Verlauf verändern. Material und Methodik: Längsschnittliches qualitatives Design mit 2 Erhebungszeitpunkten. In 2 Kliniken wurden geburtshilflich tätige Ärztinnen (Assistenz-, Ober- und Chefärztinnen) befragt. Zu T1 wurden insgesamt n = 26 und zu T2 n = 23 leitfadengestützte problemzentrierte Interviews nach Witzel unter Berücksichtigung der Experteninterviews nach Meuser und Nagel durchgeführt. Ergebnisse: Es konnten 20 Kategorien zur Entscheidung für oder gegen die Durchführung geburtshilflicher Interventionen identifiziert werden. Die Ergebnisse deuten auf eine Dominanz der medizinischen Indikationen im Entscheidungsprozess hin, wobei häufig eine enge Anlehnung an abteilungsinterne Leitlinien erfolgt. Zudem werden neben mehreren strukturellen und subjektiven Faktoren insbesondere die Berufserfahrung der Expertinnen und die Berücksichtigung maternaler Wünsche als ausschlaggebende Entscheidungskriterien angeführt. Im zeitlichen Verlauf scheinen die meisten Entscheidungskriterien stabil zu sein. Veränderungen lassen sich jedoch mit wachsender Berufserfahrung erkennen. Schlussfolgerung: Geburtshilfliche Entscheidungen sind multifaktoriell und unterliegen medizinischen und nicht medizinischen Einflüssen mit einer gewissen zeitlichen Stabilität. Um den individuellen Bedingungen geburtshilflicher Situationen gerecht zu werden, müssen die getroffenen Entscheidungen stets evaluiert werden. Eine hohe Reflexionsfähigkeit der Expertinnen ist damit unabdingbar, auch für den eigenen Lernprozess und die hohen Anforderungen des Berufs.

Abstract

Purpose: Hospital birth is strongly medically controlled and has high intervention rates. The purpose of this project was to explore the decision criteria applied by obstetricians when carrying out obstetrical interventions such as Caesarean sections, episiotomies, induction of labour and cardiotocography. Furthermore, the study investigated changes in decision-making processes. Material and Methods: The study had a longitudinal qualitative design. Semi-structured problem-centred interviews according to Witzel, which additionally took the approach of Meuser and Nagel for expert interviews into account, were conducted with obstetricians (T1: n = 26; T2: n = 23) at two hospitals. Results: Following Mayring, the evaluation of the interviews demonstrated a variety of categories which contributed to decision-making in obstetrical interventions. A total of twenty categories were identified. Analysis showed that medical indications predominated in the decision-making process and, additionally, that there was a strong tendency to rely on intra-departmental guidelines. Professional experience and maternal requests did affect decision-making in addition to other subjective and structural components. Most criteria did not change over time. Only growing professional experience led to changes in decision-making. Conclusion: Decision-making in obstetrics is a multifactorial process. Medical and non-medical criteria are used. The results indicate that decisions for or against interventions are always closely related to the professional experience of the obstetricians. Experts need to evaluate how decisions on individual obstetric situations occurring during birth are taken. An ability to reflect on their decision-making processes is therefore indispensable for obstetricians.

1 Zur Erleichterung des Leseflusses wird im Text die weibliche Form verwendet. Gleichwohl gelten beide Geschlechter als eingeschlossen.

Literatur

1 Zur Erleichterung des Leseflusses wird im Text die weibliche Form verwendet. Gleichwohl gelten beide Geschlechter als eingeschlossen.

2 Die hier dargestellte Studie ist Teil des Verbundprojekts „Frauen- und familienorientierte geburtshilfliche Versorgungskonzepte: Gesundheitsförderung im Geburtsprozess – Implementierung eines Modellprojektes Hebammenkreißsaal“, im Rahmen dessen die Implementierung eines Hebammenkreißsaals wissenschaftlich begleitet wurde. Bei der Referenzklinik handelte es sich somit um eine geburtshilfliche Abteilung mit implementiertem Hebammenkreißsaal. In der Kontrollklinik gab es diesen nicht.

Prof. Dr. Claudia Hellmers

Fachhochschule Osnabrück
Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften

Postfach 1940

49009 Osnabrück

Email: c.hellmers@fh-osnabrueck.de