Vita
Dipl. oec.troph. Inke Kruse
Inke Kruse hat Ökotrophologie an der Universität Kiel studiert. Ausbildung und Fortbildungen
in Chinesischer Diätetik und Medizin. Seit 8 Jahren ist sie in eigener Praxis für
Ernährungsberatung mit Einzelberatung, Vorträgen, Kochkursen und Seminaren tätig.
Inhaltliche Schwerpunkte sind die Diätetik im Bereich gastrointestinale Erkrankungen,
Gynäkologie und Onkologie. Außerdem ist sie als Referentin für chinesische Diätetik
für Ökotrophologen und Ärzte tätig.
Ein Disharmoniemuster beschreibt das grundlegende Ungleichgewicht in Körper und Geist.
Ein Leitprinzip der TCM lautet: Ein Muster steht für verschiedene Symptome und ein
Symptom steht für verschiedene Muster. Ein Beispiel soll verdeutlichen, wie die Ernährungsberatung
nach TCM vorgeht.
Anamnese
Anamnese
Die Anamnese in der TCM besteht aus
Die Anamnese dient dazu, die für den jeweiligen Patienten geeigneten Lebensmittel
auszuwählen und zusammenzustellen.
Eine Kostform nach den Prinzipien der TCM kann leicht in den Alltag integriert werden.
© ONOKY/F1online
Symptome und Verlauf
Einer Frau (70 Jahre, 59 kg bei 160 cm) wurde von ihrer Ärztin wegen eines Reizdarmsyndroms
empfohlen, eine Ernährungsberatung aufzusuchen. Sie klagt seit 20 Jahren über Befindlichkeitsstörungen
wie starke Blähungen, begleitet von krampfartigen abdominalen Schmerzen. Schlafstörungen
sind die Folge der nächtlichen Darmbeschwerden, sie liegt nachts regelmäßig 2 Stunden
wach. Die Luft geht nicht ab, die Blähungen sind teilweise stark riechend. Sodbrennen
tritt häufig zeitgleich mit den Blähungen auf und nach dem Verzehr von süßen Speisen
oder Weißwein. Der Stuhl ist breiig, klebrig und zeitweise übel riechend. Die Beschwerden
treten fast jede Woche auf. Sie ist nur tageweise beschwerdefrei. Wegen Fettunverträglichkeit
meidet sie fettige Speisen. Insgesamt ist ihre Lebensqualität nach ihrem Empfinden
stark beeinträchtigt.
Sie nimmt häufig Buscopan und Präparate zur Linderung der Blähungen. Keine Maßnahme
hat bisher eine zufriedenstellende Besserung der Beschwerden bewirkt. Vor einigen
Jahren wurden Divertikel festgestellt, alle anderen Untersuchungen blieben ohne Befund.
Allgemeine Befindlichkeiten
Temperatur: Starkes Kälteempfinden an der Lendenwirbelsäule und im Schulterbereich, zum Teil
über 2 Stunden anhaltend, phasenweise noch Hitzewallungen, besonders bei Wärme
Augen: lichtempfindlich
Durst: sie empfindet selten Durst, trinkt am liebsten warme Getränke
Unverträglichkeit: Kuhmilch, wobei unklar ist, ob es sich um eine Laktoseintoleranz oder Milcheiweißallergie
handelt. Muscheln
Ernährungsanamnese
Die Ernährungsanamnese erfolgt qualitativ.
Frühstück: Müsli mit Apfel, Orange, Ananas, Weizenkeim und Joghurt
Mittag: warme Mahlzeit, häufig italienische Küche, große Mengen Gemüse
Abends: Brot mit Käse und Wurst
Zwischenmahlzeiten: Kekse, spät abends rohes Obst
Getränke: heißes Wasser, Kaffee, schwarzer Tee und Mineralwasser
Vorlieben: salzige, bittere und scharfe Speisen
Zunge
Farbe: blassrosa. Form: breit und leicht geschwollen; Ränder seitlich leicht eingezogen; scharfe Zahnabdrücke
an den Seiten; Delle am Zungengrund. Belag: dünn, weiß und trocken ([Abb. 1]).
Abb. 1 Inspektion der Zunge.
Puls (nach Shen Hammer)
Es werden nachfolgend nur die auffälligen Positionen geschildert. Gesamtpuls: seilartig, hämmernd, toxische Blut-Hitze. Mittlere Position links: hämmernd, dünn und drahtig. Proximale Position: dünn und vermindert, rechts mehr als links.
Zielsetzung nach TCM
Zielsetzung nach TCM
Die Disharmoniemuster der Patientin zeigen an, dass es in der Konstitution angeborene
oder erworbene Ungleichgewichte gibt, die mit Hilfe der Ernährungsmaßnahmen harmonisiert
werden sollen (Info 1). Die Beschwerden, die zum Bild des Reizdarms gehören, resultieren aus der Leber-Qi-Stagnation,
der toxischen Hitze in der Leber und der Milz-Qi-Leere ( = Verdauungskraft). Außerdem
besteht Nieren-Yin- und -Yang-Leere.
Info 1: Zuordnung der Symptome zu den Disharmoniemustern
Blähungen
krampfartige abdominale Schmerzen
Fettunverträglichkeit
Fettstoffwechselstörung
starke Lichtempfindlichkeit der Augen
→ Leber-Qi-Stagnation und toxische Hitze in der Leber
wenig Durst
starkes Kälteempfinden
Hitzeempfinden
→ Nieren-Yin- und -Yang-Leere
Stuhl: breiig-klebrig, teilweise übel riechend
→ Qi-Leere in Milz und Bauchspeicheldrüse
Die Vorlieben der Patientin verstärken den Eindruck einer Nieren-Disharmonie (salzige
Speisen) mit Stagnation (bitter und scharf).
Empfehlungen
Empfehlungen
Jedes Disharmoniemuster wird von bestimmten Lebensmitteln verstärkt oder harmonisiert.
Dies bildet die Grundlage für die Empfehlungen. Hinzu kommt der Einsatz bestimmter
Zubereitungsformen, die die Wirkung der Lebensmittel zusätzlich verstärken.
Zweistufiger Ernährungsplan
1. Stufe: Lebensmittel zur Harmonisierung der Leber, Hitze in der Leber kühlen; Verdauungskraft
(Milz-Qi) stärken.
2. Stufe: Lebensmittel zur Stärkung der Nieren (der geeignete Zeitpunkt richtet sich
nach der Veränderung des Pulsbildes).
1. Stufe
Frühstück wird zur Hauptmahlzeit: warmes, gekochtes Getreidefrühstück aus Dinkel, Hirse oder
Gerste mit Gewürzen und gedünstetem Obst.
Mittag: warme Mahlzeit überwiegend mit den empfohlenen Lebensmitteln ([Tab. 1]); kleiner Rohkostanteil.
Tab. 1 Auszüge aus der Liste der empfohlenen und nicht empfohlenen Lebensmittel.
häufig verzehren |
selten verzehren |
Hirse, Gerste |
Brot |
schwarze Bohnen, Adukibohnen |
|
bittere Blattsalate, Chicoree, Mangold, Radicchio, Rettich, Spinat, Stangensellerie,
Chinakohl |
Tomaten, Gurken |
Leinöl, Wakame |
Zucker, Joghurt |
Basilikum, frische Kräuter, Koriander, Petersilie, Curcuma, Zitrusschalen, Kardamom |
Knoblauch, Chili, Curry, schwarzer Pfeffer |
heißes Wasser, Kräutertees, Kräutertee mit Wermut |
Mineralwasser, Kaffee, schwarzer Tee |
Zubereitungsform: kochen, dämpfen, dünsten, blanchieren, Suppen |
Zubereitungsform: braten, grillen |
Abends kleine Mahlzeit – nur Getreide/Brot mit Gemüse oder eine süße Getreidemahlzeit mit
Zitrusschale, die entspannend wirkt; keine Wurst, Käse, Ei und Rohkost am Abend.
Außerdem wurde empfohlen, zusätzlich zur Mittagsportion zu einer weiteren Mahlzeit
Gemüse zu verzehren. Alle nicht genannten Lebensmittel sind neutral im Hinblick auf
die beschriebenen Muster und haben in üblichen Mengen keinen Einfluss auf die Disharmonie
von Leber und Milz.
2. Stufe
Nach 7 Wochen wurden zusätzlich zu den oben aufgeführten Lebensmittel folgende empfohlen:
Verstärkt schwarze Bohnen, Fisch, Avocado, Kürbis, Lauch, Leinöl, Fenchel, Hafer(flocken),
Maisgrieß, Sesam.
Verlauf
Verlauf
Beratung erstreckte sich über 4 Termine innerhalb von 4 Monaten. Zunächst wurde eine
Umstellung auf ein gekochtes Frühstück und die verstärkte Verwendung der oben aufgeführten
Gemüsesorten empfohlen und auch fast täglich angewendet. Hilfreich für die Patientin
war, dass schon nach 3 Wochen wesentliche Besserung eintrat. Dadurch fiel ihr die
Fortführung der Ernährungsumstellung leicht. Die erste Phase war nach 7 Wochen abgeschlossen.
Die Patientin hatte in dieser Zeit nur noch einen Schub, sie schläft häufig durch.
Beim Abschluss der Beratung war das Kälteempfinden der Patientin deutlich zurückgegangen,
in den 5 Wochen vor dem Abschlusstermin hatte sie nur einmal nächtliche Krämpfe mit
Blähungen. Der Stuhl ist geformt und nicht mehr klebrig. Sodbrennen trat nicht mehr
auf.
Puls- und Zungenbild ([Abb. 2]) spiegeln diese Veränderungen im Befinden wider. Der Zungenkörper ist weniger geschwollen,
nicht mehr so breit und die Delle im Zungengrund ist nicht mehr so tief. Der Puls
ist nicht mehr hämmernd, was darauf hindeutet, dass die Hitze in der Leber zurückgegangen
ist. Die Pulse an der Milz- und der Nierenposition sind deutlich kraftvoller.
Abb. 2 Zungenbild Anamnese (links). Zungenbild nach 4 Monaten (rechts).
Diskussion
Diskussion
Das Pulsbild spiegelt das veränderte Befinden wider. Durch kühlende, auf die Leber
wirkende Gemüse und Gerste, Getränke und eine bekömmliche Abendmahlzeit konnte die
Leber-Disharmonie gezielt ausgeglichen werden (Info 2). Das warme Frühstück ist sehr bekömmlich, regt durch die Gewürze die Sekretion der
Verdauungssäfte an und stärkt Milz und Bauchspeicheldrüse. Durch die Wahl der Getreidesorte
können zusätzlich verschiedene Wirkungen eingebracht werden: Gerste kühlt Hitze und
reguliert den Stuhlgang, Hirse wirkt tonisierend auf Milz und Niere.
Info 2: Beispiel für die Wirkungsweise einzelner Empfehlungen
Stangensellerie – Wirkung nach TCM [1]
Temperatur: kühl
Geschmack: süß und scharf
Funktionskreis: Leber, Milz und Magen
Wirkung: kühlt Leber Hitze, bewegt das Qi, kühlt das Blut, reguliert inneren Wind,
tonisiert das Blut
Analyse der ursprünglichen Ernährungsweise der Patientin
Die Patientin hat vor der Beratung viele thermisch kalte Lebensmittel zu sich genommen
wie Ananas, Orangen, Joghurt, Mineralwasser. Dies sind Lebensmittel, die innerlich
stark abkühlen, was u. a. eine zusammenziehende, krampfende Wirkung auf das Verdauungssystem
hat. Die wesentlichen thermisch kalten Lebensmittel sind: Weizenkleie, Weizensprossen,
Mungbohnensprossen, Tomaten, Ananas, Kiwi, Rhabarber, Zitrone, Joghurt, Salatgurke,
Honigmelone, Kaki, Mango, Papaya, Wassermelone, Krabbe, Krebs, Miesmuschel, Mineralwasser.
Allgemein werden in der traditionellen chinesischen Diätetik thermisch kalte Lebensmittel
nur in kleinen Mengen empfohlen, nicht bei innerer Kälte, Verdauungsschwäche und Infektanfälligkeit.
Der Verzehr dieser Lebensmittel ist sehr verbreitet und gemessen an der stark kühlenden
Wirkung häufig deutlich zu hoch.
Deshalb hat die Veränderung des Frühstücks für diese Patientin eine zweifache Bedeutung:
Das Vermeiden der thermisch kalten Lebensmittel und die positive Wirkung bestimmter
gekochter Speisen.
Im Rahmen der TCM wird bei Reizdarmsyndrom nach verschiedenen Disharmoniemustern differenziert:
Bei dieser Patientin war der Aspekt der Stagnation und der inneren Kälte durch Milz-Qi-Schwäche
vorherrschend. Deshalb wurde ein Schwerpunkt darauf gelegt, dass die Abendmahlzeit
möglichst bekömmlich ist und wenig Eiweiß enthält. Außerdem sollten thermisch kalte
Lebensmittel nur selten verzehrt werden. Stagnationsbewegende Lebensmittel, wie Graupen,
Fenchel und bittere Blattsalate am Mittag wurden besonders empfohlen. Dies konnte
die Patientin einfach in die bisherige Ernährung einfließen lassen. Die Patientin
berichtete, dass die Ernährung gut in ihrem Alltag umsetzbar ist.
Fazit
Fazit
Die Ernährungstherapie nach TCM hat ihre Stärken im Bereich der funktionalen Beschwerden.
Ihre Empfehlungen gehen durch die Unterscheidung nach Mustern weit über die Leitlinien-Empfehlungen
hinaus. Das Beispiel zeigt, dass gezielt bestimmte Lebensmittel wegen ihrer thermischen
Wirkung ausgeschlossen oder besonders empfohlen werden. Dies hat direkte Auswirkungen
auf das Befinden vor allem im gastrointestinalen Bereich.
Online
http://dx.doi.org/10.1055/s-0030-1248869