Balint Journal 2010; 11(3): 67-75
DOI: 10.1055/s-0030-1247427
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Selbst(-ver-)Achtung und Scham

Philosophische und psychoanalytische Untersuchungen zu GewissenskonfliktenSelf-Esteem, Self-Contempt and ShamePhilosophical and Psychoanalytic Reflections on Conflicts of ConscienceE. Düsing
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
01. September 2010 (online)

Preview

Zusammenfassung

Systematisch zu unterscheiden ist vom depressiven Schamaffekt die das privat-persönliche Selbst behütende Scham. Diese positiv zu verstehende Scham ist wie eine Wächterin, die den Kern der Persönlichkeit, ihre Integrität, die intensivsten Gefühle, des näheren sexuelle Wünsche, schützt, deren schutzlose Preisgabe dem Verlust, ja der Beraubung der Würde gleichkommt. Gute Scham ist verknüpft mit Selbstachtung, ein quälendes Sichschämen mit Selbstverachtung. Naturgemäß hat die Psychoanalyse viel zu tun mit Abstürzen in peinlich erlittene Schamangst; methodisch und therapeutisch gilt es auch das helfende Gegenbild, die Basis gelingender Selbstachtung zu erhellen. Scham ist intentional bezogen auf etwas, das geachtet werden will. Kant begründet das Person-sein durch Achtung. Der Mensch ist das einzige Wesen in der Welt, das von absolutem Wert ist im Vergleich zu allen Sachen, denen nur relativer Wert zukommt. Daher gebührt ihm Achtung: Ich kann über den Menschen in meiner Person und in anderen nicht disponieren, ihn anzutasten, zu verstümmeln oder gar zu töten. Kants ethisch-pädagogisches Ziel ist die Achtung für uns selbst im Bewusstsein unserer Freiheit. Selbstachtung ist zentrale Pflicht des Ichs für sich selbst. Sie ist zudem notwendige geistseelische Voraussetzung für das Achtenkönnen der Würde jedes anderen. Nietzsche kennt die gnadenlose Selbstanalyse, die von der Selbstachtung und Selbstapotheose bis zur Selbstverachtung, ja -verfluchung führt, wie das Gegenstück, eine Selbstbehütung des Ichs, die es schützen soll vor seiner Selbstzerfleischung, gegen den Ansturm von schlechtem Gewissen des großen „Selbsttierquälers“ Mensch. Wahrhafte Liebe heißt für ihn, der die neutestamentliche Agape umdeutet, frei sein vom Geist der Rache, auch gegen sich selbst, was hochbedeutsam ist. Freuds These zur Genese von Scham und untergrabener Selbstachtung: Das Selbstgefühl wird durch Nichtgeliebtwerden erniedrigt, analog umgekehrt im Geliebtsein erhöht. Alle peinigenden Affekte gewinnen ihr bleiernes Gewicht im Umkreis der Liebesversagung, die das Unwertgefühl des Ich wesentlich bedingt. Schmerzliche Schamaffekte, Schatten des Narzissmus, gruppieren sich meist um einen depressiven Kern des Ichs. Für Freud ist es nicht die Lust (Bedürfnisstillung), die das Kind an die Mutter bindet, sondern der intime Kontaktwunsch. So verlässlich wie diese Basis im einfühlsam erlebten Körperkontakt gewesen ist, nach demselben Maßstab bildet sich im Kind die zunächst unbewusste Überzeugung heraus, selbst liebenswert zu sein. Psychische Missachtung oder leibliche Misshandlung hingegen säen Zweifel, die sich später in Selbstdestruktion entladen.

Abstract

It is important to distinguish between depressive shame affect and the shame which protects the private, personal self. This positive shame is like a guardian that defends the core personality, its integrity, its most intimate feelings, specifically sexual desires. Unprotected their surrender represents a rape of personal dignity. Good shame correlates with self-esteem, the plaguing sense of being ashamed with self-contempt. By its nature psychoanalysis deals largely with collapse into painfully embarrassing shame-anxiety. Methodically and therapeutically psychoanalysis aims at establishing a contrasting positive self-image as a basis for self-esteem. Shame is concerned with needing to be esteemed. Kant explains personhood through esteem. Humanity is the only being in the world that possesses absolute value by contrast to all things, whose value is only relative. For this reason humans deserve esteem: I cannot exploit the humanness in my person and in other persons, cannot offend or mutilate or even kill it. Kant’s educational objective is esteem for ourselves in the consciousness of our freedom. Nietzsche recognizes a pitiless self-analysis stretching from self-esteem and self-apotheosis to self-contempt or even self-cursing, as well as it counterpart, a self-protection of the ego intended to protect it from self-torment and against the assault of a bad conscience, the great “self-tormentor”, man himself. Genuine love in Nietzsche’s new interpretation of New Testament agape freedom from a spirit of vengeance and retribution, even against oneself. Freud’s hypothesis concerning the genesis of shame and undermined self-esteem: The feeling of self is demeaned by not having been loved, just as it is enhanced by being loved. All tormenting affects get their leaden weight from their closeness to the denial of love, an essential condition for the feeling of worthlessness. Painful shame affects, the shadow of narcissism, are as a rule grouped around a depressive core of the ego. For Freud it is not pleasure (the stilling of desire) which binds a child to its mother, but the child’s seeking of intimate contact. To the extent that grounding in an empathically experienced physical contact is consistent the child will develop an initially unconscious conviction of its own loveableness. Psychic disdain, disregard or contempt, on the other hand, sow seeds of doubt that later erupt in self-destruction.

Literatur

  • 1 Kant I. Akademie-Ausgabe. Bd. XVII (Handschriftlicher Nachlass). Berlin und Leipzig 1926; 320
  • 2 Heimsoeth H. Freiheit und Charakter. In: Prauss G, Hrsg. Kant. Zur Deutung seiner Theorie vom Erkennen und Handeln. Köln 1973; 292–309
  • 3 Nietzsche F. Wird zitiert nach: Kritische Studienausgabe: (KSA) des ­Gesamtwerks in 15 Bänden. Colli G, Montinari M, Hrsg. Berlin: De Gruyter; 1967–1977: 180. Zum Motto siehe KSA 8 (aus dem Nachlass von 1875), 180
  • 4 Schiller F. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1794 / 95). In: Schiller F. Sämtliche Werke. Fricke G, Göpfert HG, Hrsg. 6. Aufl. München: Hanser; 1967: Bd. V; 611 nota
  • 5 Schüffel W. Medizin IST Bewegung und Atmen – Wie aus Wüste Würde wird. Halle: Projekte Verlag; 2009: 5–10, 254–457
  • 6 Kluge F. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 18. Aufl. Berlin 1960; 634 f.
  • 7 Kierkegaard S. Die Krankheit zum Tode (1848). Übers. von Hirsch E. 4. Aufl. Gütersloh: Diederichs / Mohn Gütersloh; 1992: 66 f., 70, 175
  • 8 Danzer G. Münchhausen – oder warum man sich nicht am eigenen Leibe aus dem Sumpf ziehen kann. In: Danzer G, Hrsg. Psychosomatik – Gesundheit für Körper und Geist. 2. Aufl. Darmstadt: Wissenschaft­liche Buchgesellschaft; 1998: 290–302
  • 9 Düsing E. Die heilsame Kraft der Beziehung bei Sándor Ferenczi.  Balint Journal. 2007;  8 73-84
  • 10 Ruhnau J. Artikel „Scham“. In: Ritter J, Gründer K, Hrsg. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9. Basel 1997; 1208–1215
  • 11 Janka M. Der sophokleische Eros und sein Dialog mit Euripides. In: ­Düsing E, Klein H-D, Hrsg. Geist, Eros und Agape. Untersuchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst. Würzburg: Königshausen; 2009: 63–96, bes. 85 ff.
  • 12 Platon. Protagoras. In: Platon. Sämtliche Werke Bd. I, 63 (322 c), übers. von Schleiermacher F (mit der Stephanus-Numerierung). Platon. Nomoi, Bd. VI, 31 (647 a–e), Hamburg: Rowohlt; 1957
  • 13 Manuwald B. Platon Protagoras. Übersetzung und Kommentar. Göttingen 2003; 172 ff., 194–199
  • 14 Sartre J-P. L’Être et le Néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943
  • 15 Janke W. Intellektuelle Anschauung und Gewissen. In: Fichte-Studien Bd. 5, 21–55, bes. 46
  • 16 Dodds E R. Die Griechen und das Irrationale. 2. Aufl. Besonders das ­Kapitel: „Von der Schamkultur zur Schuldkultur“. Darmstadt 1991; 17–37
  • 17 Weber L M. Artikel „Scham“. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 9, 365 f.
  • 18 Wurmser L. Die Maske der Scham. In: Die Psychoanalyse von Scham­affekten und Schamkonflikten, 5. Aufl. Berlin, Heidelberg: Dietmar Klotz; 2008 (Original: The Mask of Shame, übers. von U. Dallmeyer)
  • 19 Wurmser L. Flucht vor dem Gewissen. Analyse von Über-Ich und Abwehr bei schweren Neurosen. Berlin, Heidelberg, New York, Tokyo: Springer 1987
  • 20 Düsing E. Gewissen – eine typologische Problemskizze mit Bezug auf Augustin, Luther, Kant, Kierkegaard, Nietzsche und Freud. In: Bäumer R, Hrsg. Im Ringen um die Wahrheit. Weilheim: Bäumer; 1997: 83–110
  • 21 Nietzsche F. Jenseits von Gut und Böse (1886). Aphorismus Nr. 263 und 40 (3) KSA 5, 217 f., 58
  • 22 Düsing E. Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus – Nihilismus. 2. Aufl. München, Wilhelm Fink; 2007: 505–521
  • 23 Kant I. Eine Vorlesung Kants über Ethik. Berlin: Menzer; 1924: 168
  • 24 Fichte J G. Fichtes Werke werden zitiert nach der von I. H. Fichte besorgten Gesamtausgabe (1834–1846). Bd. VII enthält Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ von 1809
  • 25 Düsing E. „Heilige Selbstsucht“ (Immoralismus) oder Sich-quälen-Lassen vom „Himmel des Ideals“ (Hypermoralismus)? – Nietzsches ­Konzept des individuellen Gesetzes. In: Düsing E, Düsing K, Klein H-D, Hrsg. Geist und Sittlichkeit. Ethik-Modelle von Platon bis Levinas. Würzburg: Königshausen; 2009: 259–295
  • 26 Freud S. Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, 18 Bde. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch; 1999
  • 27 Görres A. Methode und Erfahrungen der Psychoanalyse. München: Kindler; 1965: 200–213
  • 28 Nitzschke B. Liebe, Lust und Leidenschaft. Freuds Konzept von Sexua­lität und Eros. In: Düsing E, Klein H-D, Hrsg. Geist, Eros und Agape. Unter­suchungen zu Liebesdarstellungen in Philosophie, Religion und Kunst. Würzburg: Königshausen; 2009: 445–460
  • 29 Düsing E. Geist, Eros und Agape – eine historisch-systematische Prob­lemskizze. In: Düsing E u. a., Hrsg. Geist, Eros und Agape. siehe 28, 7–40, bes. 7 ff.
  • 30 Düsing E. Modelle der Anerkennung und Identität des Selbst (Fichte – Mead – Erikson). In: Schild W, Hrsg. Anerkennung. Interdisziplinäre Dimensionen eines Begriffs. Würzburg: Königshausen; 2000: 99–127
  • 31 Schnarch D. Die Psychologie sexueller Leidenschaft. (Original: Passionate Marriage. Love, Sex, and Intimacy in Emotionally Committed ­Relationships. Henry Holt and Company, New York 2006). Übers. von Ueberle-Pfaff M und Trunk C. 6. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta 2008

1 Zu Kants vielschichtiger Konzeption des menschlichen Selbsts vgl. erhellend Heinz Heimsoeth [2].

2 Dieser Beitrag ging hervor aus einem Vortrag auf dem 18. Wartburggespräch zu: „Ärztliche Prävention und Epikrise – Ungesagtes fühlbar machen“, 31.1.–2.2.2010 in Bad Nauheim. Für den übergreifenden Ideenkomplex dieser Tagung sei verwiesen auf das neue Buch von Wolfram Schüffel [5].

3 Siehe dazu Gerhard Danzer [8]. In den Abschnitten „Vom Wert und Unwert des eigenen Körpers“, „Vom Gedächtnis des … Körpers“, „Vom Wohnen im eigenen Körper“ (das kein sadomasochistisches Verhältnis von Psyche und Leib sein soll!) zeigt Danzer die Intensität auf, in der wir eins mit unse­rem Leib, ja selbst Leib sind. Deshalb wiegen im Kontrast zu einem frühen behutsamen Umgang mit dem Leib, z. B. im Gestreicheltwerden, das ein Säugling erlebt –, wodurch die emotionale Grundlage für die Ausbildung von Selbstbejahung gelegt wird –, die Leibentwertung und der Missbrauch so schwer. Denn solche Missachtung gräbt sich tief ins Leibgefühl ein und ruft im Missachteten spätere Selbstdestruktionen hervor, die begreifbar sind als im Schweregrad proportionale Reinszenierungen des Erlittenen. Dabei haben „Leib“, „Leben“ und „Liebe“ etymologisch dieselbe Wort­wurzel.

4 Zur heilsamen Kraft anerkennender Sympathie für ein katastrophiertes Leib-Seele-Ich vgl. E. Düsing [9].

5 Zur folgenden etymologisch-ideengeschichtlichen Aufschließung. Siehe den Artikel „Scham“ von J. Ruhnau [10].

6 Zur antiken Gewichtung der Scham im Kontext des Eros bei Euripides vgl. Markus Janka [11].

7 Platons Werke [12]. Zu Platons Dialog Protagoras vgl. die nuancierte Deutung von Bernd Manuwald [13].

8 Vgl. Jean-Paul Sartre [14] und dazu Wolfgang Janke [15].

9 Vgl. Eric Robertson Dodds [16]. Dodds thematisiert u. a., implizit Freud nahe, die Flucht vor der Freiheit.

10 Léon Wurmser [18] unterscheidet grundlegend zwischen negativ und positiv erlebter Scham, das ist Schamangst und depressiver Schamaffekt einerseits und „schützende Schamhaltung“ andererseits, die zentral ist für die Herausbildung des Wissens vom Selbst als Gewissen und freimütigem Selbstbewusstsein (XI. ff).

11 Léon Wurmser [18], 389–399. Zur Unterdrückung des Gewissens vgl. auch L. Wurmser [19], E. Düsing: [20].

12 Zur (post)modernen Unkultur eines Nihilismus der Ideallosigkeit, den Nietzsche hellsichtig vorausgeahnt hat, vgl. Edith Düsing [22].

13 Nietzsche kehrt Spinozas Amor Dei intellectualis Feuerbachisch herum. Spinoza erklärt, dass die Liebe, in der ein Mensch Gott liebt, nur ein Bestandteil der Liebe ist, mit der Gott sich selbst liebt. Für Nietzsche ist das religiöse Sichgeliebtfinden des Menschen durch Gott bloß überhöhte Komponente seiner ureigenen Selbstliebe.

14 Siehe Nietzsche [3] KSA 8: 180, 383. – In seinem Roman: Tagebuch eines Landpfarrers (aus dem Französ. übertragen von Jakob Hegner, Einsiedeln 2007, 317 f.) gestaltet Georges Bernanos die Passionsgeschichte eines von Schmach und Demütigung überhäuften Lebens, das zum Schluss dennoch in eine – den Leser anrührende – Versöhnung hineinführt. Deren Quintessenz ist: „Es ist leichter als man glaubt, sich zu hassen. Die Gnade besteht darin, dass man sich vergisst. Wenn aber aller Stolz in uns gestorben wäre, dann wäre die Gnade aller Gnaden, sich selbst demütig zu lieben“.

15 Der Religiöse verübt in Nietzsches freigeistiger Sicht eine Phantastik in der Ausdeutung seiner Motive. Mit der Einsicht aber in solche Verirrung seiner Vernunft und Phantasie würde er aufhören, gläubiger Christ zu sein. Nietzsche kündet die Sonne eines neuen Evangeliums, das ein Reich der Freiheit herbeiführen soll, das lautet: „Alles ist Unschuld“; es soll zum ­Unschuld-bewussten, sich und andere entlastet fühlenden Menschen hinführen.

16 Zur Würde der Person gehört ihre Freiheit und damit ihr reales schuldig werden Können, was Freud beachtet. Hiervon abzuheben ist, was für die Psychoanalyse besonders wichtig ist, die heikle Demarkationslinie ausfindig zu machen, die eine echt moralische Schuld von scheinbarer Schuld im Schmerz des Sichschuldigfühlens trennt. Einem Menschen ein wirkliches Schuldigsein ausreden zu wollen hieße ihn als Person verkennen und missachten. – Zur Sphärenscheidung und wider die Verwechslung von Schuldschmerz und Dressat vgl. Albert Görres [27].

17 In der Skizze „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ ([1] VIII, 107–124), eine Genesis-Deutung, deutet Kant u. a. das Sichbedecken mit Fellen als Kultur schaffende Tat. Für Kant ist (in seinen „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“) die Schamhaftigkeit ein „Geheimnis der Natur, die einer Neigung Schranken zu setzen“ sucht, „die sehr unbändig ist und, indem sie den Ruf der Natur für sich hat, sich immer mit guten, sittlichen Eigenschaften zu vertragen scheint, wenn sie gleich ausschweift … Sie dient aber zugleich, um einen geheimnisvollen Vorhang selbst vor die geziemendsten und nöthigsten Zwecke der Natur zu ziehen, damit die gar zu gemeine Bekanntschaft mit denselben nicht Ekel … veranlasse in Ansehung der Endabsichten eines Triebes, worauf die feinsten und lebhaftesten Neigungen der menschlichen Natur gepfropft sind“ ([1] II, 234).

18 Das Ziel der „Schamangst“ ist, so L. Wurmser, das Verschwinden; dies gelingt am leichtesten durch ein sich Verstecken, am radikalsten durch Selbstauflösung (Suizid), archaisch durch Erstarren in Lähmung oder Stupor, am häufigsten aber durch ein schlichtes Vergessen von Teilen unserer Biografie ([18] 147).

19 Zur Scham, die dem sich nicht wertgeschätzt Finden des Ichs entspringt und leidenschaftlich stark werden kann, heißt es in Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (§ 76: Von den verschiedenen Affekten selbst, [1] VII, 255): „Scham“ ist ein Affekt der Angst vor der Verachtung einer anwesenden Person. Man könne sich „auch empfindlich schämen ohne Gegenwart dessen, vor dem“ einer sich schämt; „aber dann ist es kein Affekt, sondern wie der Gram eine Leidenschaft, sich selbst mit Verachtung anhaltend, aber vergeblich zu quälen“! (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht § 76: Von den verschiedenen Affekten selbst, [1] VII, 255).

20 Für das Folgende s. Freud: Trauer und Melancholie, [26] X, 427–446. Bei der Melancholie, diagnostiziert er, „spinnt sich … eine Unzahl von Einzelkämpfen um das Objekt an, in denen Hass und Liebe miteinander ringen“, um entweder die Liebe vom Adressaten zu lösen oder die Liebeshoffnung „gegen den Ansturm zu behaupten“. Die „Lösung des Leidens“ aber ist schwer herbeizuführen. „Wir sehen, dass das Ich sich herabwürdigt und gegen sich wütet, und verstehen so wenig wie der Kranke“, wohin das führen oder wie es sich ändern soll ([26] X, 444 f.).

21 Léon Wurmser: [18], 157 f, 351 f. Mit A. Haynal erläutert L. Wurmser, was unbedingte „Urliebe“ sein soll, – worin eigentlich fragile menschliche Erosliebe und göttliche Agapeliebe miteinander verschmolzen erscheinen: „primary love: the desire to be loved always, everywhere, in every way, my whole body, my whole being“! – Zentrale These L Wurmsers ist, dass (schwere) Psychopathologie zu einem beträchtlichen Teil Schamkonflikte enthält, dass sie jene Konflikte aber auch maskiert und dadurch „die Traumata, die ein sengendes Gefühl des Liebesunwertes verursacht haben, ungeschehen zu machen sucht und sie doch auch weiterwirken lässt – in zahllosen vergeblichen Versuchen, Liebe und Anerkennung wiederherzustellen“ ([18] 302). – Zur ideengeschichtlichen und systematischen Differenzierung des Liebesbegriffs in Eros, Philia und Agape vgl. Edith Düsing [29]. Zur geistseelischen Notwendigkeit des Anerkennens und Anerkanntwerdens und zur Bildung des freien Ichs durch Anerkanntsein vgl. E. Düsing [30].

22 Siehe Léon Wurmser [18], 485 f. „Epilog: Der Heilende“. – Zum Erringen und Bewahrheiten von Mut, offenen Augen und Treue, sowohl dem Anderen als auch sich selbst gegenüber, als Prämissen für wechselseitig einander beglücken könnende intime körperliche Liebe zwischen Mann und Frau siehe erhellend David Schnarch [31].

Prof. Dr. phil. E. Düsing

Postfach 12 52

57260 Hilchenbach

eMail: edith-duesing@gmx.de