Z Sex Forsch 2010; 23(2): 155-164
DOI: 10.1055/s-0030-1247411
Im Gespräch

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Erinnerungen an die frühen Jahre

50 Jahre Sexualforschung am Universitätsklinikum Hamburg-EppendorfGunter Schmidt, Peer Briken
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Publication Date:
21 June 2010 (online)

Der Psychologe Gunter Schmidt lehrte und forschte von 1964 bis 2003 am Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie der Universität Hamburg, seit 1978 als Professor für Sexualwissenschaft. Neben seiner klinischen Tätigkeit führte er zahlreiche große empirische Studien über den sozialen Wandel von Sexualität und Beziehungsbiographien durch. Theoretisch gilt Schmidt als zentraler Vertreter einer sozialkonstruktivistischen Perspektive auf Sexualität. Er setzte sich u. a. kritisch mit dem psychoanalytischen Triebbegriff auseinander und beschrieb den Wandel der alten Sexualmoral in eine spätmoderne „Verhandlungsmoral“. Im Gespräch mit Peer Briken blickt Gunter Schmidt auf die Geschichte des (mehrfach umbenannten) Hamburger Instituts zurück.


Die Redaktion

Briken: Herr Schmidt, wie sind sie eigentlich zur Sexualwissenschaft und an das Hamburger Institut gekommen?

Schmidt: Ich kam nicht allein, wir waren zu dritt, alle Mitte zwanzig: Eberhard Schorsch begann seine psychiatrische Weiterbildung, Volkmar Sigusch promovierte bei Hans Giese, ich sollte für Giese einen Dokumentationsbogen für die Patienten des Instituts entwickeln. Das war 1963 bzw. 1964, das von Giese geleitete „Institut für Sexualforschung an der Universität Hamburg“[1], Teil der Psychiatrischen Uniklinik, war gerade einmal vier oder fünf Jahre alt. Ich hatte keine Ahnung von Sexualforschung, hatte lediglich eine brauchbare methodische Ausbildung als Psychologe. Ich wälzte erst einmal die Kinsey-Reporte und tüftelte dann an einem Erhebungsbogen, um Sexualbiographien zu dokumentieren und statistisch handhabbar zu machen. Das Ergebnis war in der Praxis nicht verwendbar, man brauchte zwei bis drei Stunden Erhebungszeit für einen Patienten. Doch ganz umsonst war die Arbeit nicht. Aus dem Dokumentationsbogen ist dann, sehr abgespeckt, der Fragebogen für die erste Studentenuntersuchung des Instituts geworden, die Giese und ich 1966 gemacht haben.[2] 

Das war das erste empirische sexualwissenschaftliche Projekt in Hamburg. Hat Giese das angetrieben, oder kam das von Ihnen?

Giese hatte schon früher empirisch geforscht, seine Fragebogenerhebung an etwa 400 homosexuellen Männern bildete den Kern seiner Habilitationsschrift und dokumentiert die sexuelle, soziale und seelische Situation homosexueller Männer vor der Aufhebung des § 175.[3] Wer den Anstoß zur Studentenstudie gab, erinnere ich nicht mehr. Ohne das wissenschaftliche Ansehen Gieses hätte das damals sehr heikle Projekt aber keine Chance gehabt. Als Sozialpsychologe war ich natürlich begeistert, auf diese Art forschen zu können. Wir standen am Vorabend der „sexuellen Revolution“, die Kluft zwischen der offiziellen Moral der Adenauerära und dem, was junge Menschen moralisch dachten und sexuell machten, war ins Groteske gewachsen. Die Studie machte diese Kluft sichtbar und beschreibbar. Ein wenig vermessen hofften wir, dass eine solche Studie einen Reformimpuls auslösen könnte. Diesen Druck erzeugten dann aber viel wirkungsvoller die Proteste, Aktionen und Schriften der Studentenbewegung. 

Gab es eine Art zirkulärer Beeinflussung von Sexualwissenschaft und Liberalisierung in Deutschland?

Ich glaube, dass die Kinsey-Reporte die letzten sexualwissenschaftlichen Publikationen waren, die eine kollektive befreiende Wirkung hatten. Davon träumten wir, ein wenig. Sigusch und ich machten, unterstützt von Giese, in den späten 1960ern eine Reihe empirischer Untersuchungen. Für uns war Sexualforschung auch Sexualpolitik. So wollten wir mit unseren Studie über Vorurteile gegenüber sexuellen Minderheiten[4] Diskriminierung mildern, mit den Arbeiten zur Sexualität Jugendlicher und junger Erwachsener[5] Repressionen abbauen und Sexualpädogik und Jugendarbeit handfeste Materialien liefern, oder mit unseren experimentellen Untersuchungen über die Reaktionen auf sexuell explizite, vulgo pornographische, Bilder, Filme und Texte[6] dazu beitragen, dass das damalige totale Verbot der Pornographie oder dessen, was dafür gehalten wurde, gemildert wurde – und das Stereotyp überprüfen, ob Männer durch solche Stimuli verzückt und Frauen verschreckt würden. Diese frühen empirischen Projekte waren aber auch Zeitdiagnosen und die Grundlage dafür, dass wir in den folgenden Jahrzehnten den sozialen Wandel der sexuellen, Beziehungs- und Geschlechterverhältnisse sozialhistorisch beschreiben und interpretieren konnten – zum Beispiel durch Wiederholungs- und Mehrgenerationen-Studien.[7] 

Dennoch gab es eine Verquickung von politischem Auftreten der deutschen Sexualwissenschaftler und Unterfütterung ihrer Aussagen durch empirisches Material.

Die Sexualforschung ist eine Erfindung des aufgeklärten Bürgertums im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Bürger und Bürgerinnen wollten frei sein von Vorschriften und Verboten der Obrigkeit. Deshalb war Sexualwissenschaft von Anfang an auch ein sozialreformerisches Projekt, denken Sie zum Beispiel an Karl Heinrich Ulrichs, Magnus Hirschfeld oder Kinsey, der seinen reformerischen Elan mit Zahlenkolonnen tarnte, oder Hans Giese, der nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit anderen den Kampf gegen den § 175 wieder aufnahm. Spätestens in den 1960er-Jahren verlor die Sexualwissenschaft ihre sexualpolitische Bedeutung. Neue, starke Bewegungen, die nicht aus der Sexualwissenschaft kamen, bestimmten nun die sexualpolitischen Debatten – Studentenbewegung, Schwulenbewegung, Frauenbewegung. Und sie waren überaus effizient. Sexualforscher lieferten hier und da noch einige wissenschaftliche Befunde oder theoretische Überlegungen zur Unterstützung, vor allem aber sortierten sie unter dem Einfluss dieser Bewegungen ihre Gedanken neu. 

Wie war die Verbindung zwischen Giese und Bürger-Prinz?

Ohne Hans Bürger-Prinz, damals Direktor der Psychiatrischen Klinik und politisch belastet durch seine Aktivitäten im Nationalsozialismus, hätte es das Institut für Sexualforschung nicht gegeben.[8] Er hat Giese die Habilitation in Hamburg ermöglicht, die in Frankfurt a. M. wegen seiner Homosexualität und wegen des Themas seiner Habilschrift „Der homosexuelle Mann in der Welt“ verhindert worden war. Er hat für die Einrichtung des Instituts „an der Universität“ gesorgt und es personell ausgestattet. Werner Krause, der älteste Assistent Gieses (und später Leiter der forensischen Abteilung der Klinik und einer sozialtherapeutischen Einrichtung), und die Jüngeren, also Schorsch, Sigusch und Schmidt, wurden von Bürger-Prinz ganz oder partiell freigestellt für die Arbeit im Institut. Außer Giese gab es keine Planstellen. Nach Gieses Tod, er starb 1970, gerade 50 Jahre alt, einen Unfalltod, ordnete Bürger-Prinz an, dass wir das Institut mit Schorsch als kommissarischem Leiter fortführen sollten. Wir erhielten in den folgenden Jahren große Unterstützung von Bürger-Prinz’ Nachfolger, Jan Gross, von einflussreichen Klinikern im Fachbereich Medizin, u. a. von dem Psychosomatiker und Psychoanalytiker Adolf-Ernst Meyer und der Kinderpsychosomatikerin Hedwig Wallis, die beide mit Giese zusammengearbeitet hatten, und dem jungen Präsidenten der Universität Hamburg, Peter Fischer-Appelt. 1973 wurde das Institut eine Abteilung der Psychiatrischen Uniklinik mit einem eigenen Etat und Stellenplan, Schorsch wurde zum Direktor der Abteilung berufen.[9] 

Giese und Bürger-Prinz sind beide mit ihrer Geschichte bis 1945 nicht offen umgegangen. Giese hat gleichwohl nach dem Krieg die reformerischen Bewegungen befördert und junge Leute an das Institut geholt, die im Prozess der „Liberalisierung“ sehr wichtig geworden sind. Wie verstehen sie diese Brüche, die für die deutsche Geschichte der Nachkriegszeit ja nicht untypisch sind?

Ich kann da nur für mich sprechen. Ich habe nicht darüber nachgedacht, hatte einen blinden Fleck, irgendwie die verrückte Illusion, dass nach Kriegsende alles ganz neu begonnen hat. Friedemann Pfäfflin, der Mitte der 1970er an die Abteilung kam, forschte über Bürger-Prinz und konfrontierte uns mit dessen Verstrickung in die NS-Psychiatrie.[10] An dem von Sigusch geleiteten Institut für Sexualwissenschaft des Klinikums der Universität Frankfurt a. M. hat dann Barbara Zeh[11] herausgearbeitet, wie sehr sich Giese bei seinem Bemühungen, die Sexualwissenschaft akademisch zu etablieren, mit Wissenschaftlern eingelassen hat – im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung, im Beirat der Monografienreihe „Beiträge zur Sexualforschung“ –, die durch ihre Tätigkeit und Verbrechen im Nationalsozialismus massiv belastet, inzwischen aber wieder in Amt und Würden waren. Die Widersprüche, von denen Sie sprechen, kann ich nicht auflösen oder hinwegreden. 

Wie kam es zu der bis heute bestehenden engen Verquickung der forensischen Psychiatrie und der Sexualforschung in Hamburg?

Neben der Homosexualität galt Gieses wissenschaftliches Interesse vor allem der Psychopathologie der Sexualität.[12] Damit war er quasi naturwüchsig auch Sexualforensiker. Er hat die Rechtsprechung mit seinem Perversionsbegriff beeinflusst und damit etwas bis heute Wirkendes hinterlassen. Aber Giese hat auch im Bereich der Literatur als Gutachter Einfluss genommen. In den frühen 1960er-Jahren versuchten verschreckte Staatsanwälte, die Werke moderner Autoren, die Sexualität in ­ihren Romanen offen behandeltem – z. B. Henry Miller, James Baldwin, Jean Genet – als unzüchtig oder pornografisch zu indizieren. In einem spannenden Buch hat Giese einige dieser Gutachten publiziert und seine theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Pornografie und Obszönität dargelegt.[13] Auch Schorschs zentrale wissenschaftliche Interessen waren die Psychopathologie der Sexualität und die Sexualforensik. Er habilitierte sich mit einer Arbeit über Sexualstraftäter[14] und entwickelte zusammen mit dem Psychologen Herbert Maisch und dem Psychoanalytiker Nikolaus Becker eine moderne Sexualforensik, die Sigusch treffend als „verstehende Forensik“ bezeichnet hat. Er forschte zur Psychodynamik von Sexualmorden[15] und entwickelte mit seinen Kolleginnen und Kollegen ein Psychotherapiekonzept für Sexualdelinquenten.[16] Psychopathologie der Sexualität und Sexualforensik haben eine große Tradition am Institut, die Wolfgang Berner – der Nachfolger Schorschs als Direktor – und seine „jungen Leute“, Andreas Hill und Sie, fortgesetzt haben. 

Welche Patienten wurden in der Anfangszeit des Instituts betreut?

Es gab, einmal in der Woche, eine „Sexualsprechstunde“ im Rahmen der psychiatrischen Poliklinik. Die haben zunächst Giese und Krause, später auch Sigusch und Schorsch gemacht, nach Gieses Tod beteiligten sich daran alle Mitarbeiter. In den 1960ern kamen noch sehr viele homosexuelle Männer und lesbische Frauen mit schwersten Konflikten in der Coming-out-Phase. Dann gab es die klassischen Funktionsstörungen, allerdings kamen damals deutlich weniger Frauen als heute. Als die Zahl der Ratsuchenden in den 1970ern drastisch stieg, wurde die Sexualambulanz Ausgangspunkt wichtiger Forschungsprojekte, zum Beispiel das von allen Kolleginnen und Kollegen des Instituts getragene Projekt zur Paartherapie bei sexuellen Funktionsstörungen[17] oder Pfäfflins Studien zur Transsexualität.[18] 

Wie war denn das mit der Lehre? Wir hören bis heute die Schwärmereien über die Vorlesungen von Giese.

Gieses Vorlesung „Die Sexualität des Menschen“ an der Hauptuni für Hörer und Hörerinnen aller Fakultäten ist in der Tat legendär: Montagmorgen um 8 Uhr, der große Vorlesungssaal war immer bis auf den letzten Platz gefüllt. Das haben wir Jüngeren nie wieder geschafft. Es war für die meisten Studenten und Studentinnen eine Sensation, als in den frühen 1960ern „so etwas“ an der Uni gelehrt wurde. Giese war ein eindrucksvoller Mensch, er hatte eine souveräne Art, über Sexualität zu sprechen, frei von Anzüglichkeit und Verklemmung. Das war damals selten. Und diese Fähigkeit hat vielleicht eine größere Rolle gespielt als die Botschaft im Einzelnen. Zudem waren die Themen damals atemberaubend: Perversion, Liebe, Homosexualität, Tabu und Leidenschaft, Pornographie und Obszönität, Sexualprobleme. Leider hat Giese seine Vorlesungen nie veröffentlicht. In diesem Punkt war ich übrigens viel unbescheidener als Giese – und ver­öffentlichte meine Vorlesungen, die ich bis zu meiner Pensionierung mit Vergnügen unter Gieses inzwischen antiquiertem Titel „Die Sexualität des Menschen“ hielt, gleich mehrfach.[19] Giese liebte öffentliche Auftritte und den aufklärerischen Gestus, war während der sogenannten „Sexwelle“ als Experte unterwegs, in trivialen wie in wissenschaftlichen Medien. Als Fritz J. Raddatz, damals Chef des Rowohlt-Verlages, ihm vorschlug, eine sexualwissenschaftliche Taschenbuchreihe zu besorgen, war Giese begeistert, und gab die „rororo sexologie“ heraus.[20] Und es gelang, auch international gewichtige Kolleginnen und Kollegen als Autoren zu gewinnen, wie zum Beispiel die Psychologen Frank Beach, John Money, Anke Ehrhardt, Herbert Maisch, Helmut Kentler, die Soziologen Ira Reiss, John Gagnon, William Simon, die Kulturhistoriker Jos van Ussel und Peter Gorsen. Die Reihe gab einen guten Überblick über die Sexualwissenschaft im Aufbruch der damaligen Jahre. 

Er hat Menschen gesucht, die da sehr engagiert bei der Sache waren und geblieben sind. Das ist eindrucksvoll, weil hier ja eine große Kontinuität entstanden ist.

Giese war ein vorzeitiger Antiautoritärer. In einer Zeit, als Professoren ihre Assistenten oft noch mit ständegesellschaftlicher Attitüde behandelten, hat er Schorsch, Sigusch und mich gelassen. Wir konnten entscheiden, worüber wir forschen und was wir publizieren wollten. Für diese Chance zu früher wissenschaftlicher Selbständigkeit bin ich ihm dankbar. 

Wie unterstützte Giese die ersten Arbeiten von Martin Dannecker und Reimut Reiche?

Giese hatte ein Faible für die jungen Sexualtheoretiker der Studentenbewegung und umgarnte sie, obwohl sie ihn und uns heftig kritisierten.[21] Günter Amendt versuchte er, als Autor für die „rororo sexologie“ zu gewinnen, doch der schrieb seine „Sexfront“ lieber für den März-Verlag. Die wegweisende soziologische Studie Martin Danneckers und Reimut Reiches über den „gewöhnlichen Homosexuellen“[22] hat Giese unterstützt und gegenüber der DFG vertreten, die Fördergelder wurden formal vom Hamburger Institut verwaltet. 

Wie kam eigentlich die Paartherapie an das Institut?

Nach Gieses Tod organisierten wir die Ambulanz neu. Wir sahen nun mehr Patienten und Patientinnen, der Frauenanteil stieg von 10 % auf 30 bis 40 %, immer mehr Männer, Frauen und Paare, die uns konsultierten, klagten über sexuelle Funktionsstörungen. Wir standen diesen Problemen und Klagen therapeutisch ziemlich ratlos gegenüber. Als William Masters und Virginia Johnson 1970 ihr Buch „Human Sexual Inadequacy“ vorlegten, in dem sie ihr sorgfältig evaluiertes Konzept einer Paartherapie präsentierten, beschlossen Schorsch, Sigusch und ich, dieses Konzept im Institut zu erproben. Wir schrieben ein Therapiemanual, den ­Urtext zum heutigen, elaborierten Manual, das Margret Hauch und andere jüngst publiziert haben.[23] Die ersten Erfahrungen mit diesem Therapieansatz waren ermutigend. In einem aufwendigen Forschungsprojekt, das von der DFG im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 115 gefördert wurde, überprüften wir die Wirksamkeit der Paartherapie in mehrjährigen Katamnesen.[24] Etwa zur gleichen Zeit und ebenfalls DFG gefördert, lief das erwähnte Sexualstraftäterprojekt Schorschs.[25] Die zweite Hälfte der 1970er war eine Phase intensiver empirischer Psychotherapieforschung an der Abteilung. Um die Ergebnisse der Forschungsprojekte in der Praxis nutzbar zu machen, wurde Anfang der 1980er die „Sexualberatungsstelle der Abteilung für Sexualforschung“ als Modelleinrichtung des Bundesministeriums für Gesundheit gegründet. Sie befand sich außerhalb der Mauern des Klinikums, bot Behandlung und Beratung für Männer, Frauen und Paare mit sexuellen Problemen an und organisierte sexualtherapeutische Weiterbildung für ÄrztInnen, PsychotherapeutInnen und BeraterInnen. Nach der Modellphase wurde die Finanzierung der „Sexualberatungsstelle“ vom Klinikum übernommen. 

Wie entstand und entwickelte sich die Verbindung zum Frankfurter Institut für Sexualwissenschaft?

Sigusch wurde 1973 zum Direktor des gerade gegründeten „Instituts für Sexualwissenschaft“ der Universitätsklinik Frankfurt a. M. berufen. Er war damals Anfang 30 und einer der jüngsten Medizinprofessoren in Deutschland. Für uns ging eine achtjährige Zusammenarbeit zu Ende. Beinahe tagtäglich hatten wir zusammengehockt, geforscht, diskutiert, Seiten über Seiten gefüllt „ganze Bibliotheken voll geschrieben“, wie Jan Gross später einmal spottete. Die Trennung war schon traurig, aber ich glaube, wir fühlten uns beide auch ein wenig voneinander befreit. Die nun mögliche „Individualisierung“ hat unser jeweiliges wissenschaftliches Profil geschärft. Schorsch wurde 1974 als Nachfolger Gieses zum Direktor der Hamburger Abteilung berufen. Die Frankfurter und die Hamburger Sexualforscher arbeiteten immer eng zusammen, im Rahmen der „Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung“, bei der Gründung (1988) und Herausgabe der „Zeitschrift für Sexualforschung“ und bei sexualpolitisch brisanten Fragen, zum Beispiel im Zusammenhang mit stereotaktischen Hirneingriffen bei Sexualstraftätern[26] oder im Zusammenhang mit dem Komplex HIV / Aids.[27] Die Kooperation mit Frankfurt war auch deshalb so attraktiv, weil Sigusch immer hervorragende Mitarbeiter hatte, wie Reiche, Dannecker, später Sophinette Becker. Natürlich gab es auch manche Scharmützel und Auseinandersetzungen zwischen Hamburg und Frankfurt. 

Worum ging es in diesen Auseinandersetzungen?

Sigusch und ich haben uns zum Beispiel über den Triebbegriff gestritten.[28] Sehr verkürzt: Für mich war der „Trieb“ die leitende Metapher für ein Verständnis der Sexualität im Zeichen der Repression, eine historisch bedingte Zeitgestalt des Sexuellen, nichts Essentielles. In postliberalen Zeiten, so argumentierte ich, ist Sexualität treffender als Ressource zu verstehen, mit der man, salopp gesagt, alles Mögliche anstellen und die Myriaden von Bedeutungen annehmen kann. Sigusch fand das eine liberalistisch-revisionistische Abweichung und beharrte auf dem Trieb als einer letztlich subversiven Urkraft. Theoretisch folgte er eher Freud und den linken Psychoanalytikern Fritz Morgenthaler und Paul Parin, ich eher den schon genannten amerikanischen Soziologen Simon und Gagnon. Das ist lange her. Wenn Sigusch und ich heute zusammensitzen, sagt er nach dem dritten Glas Wein schon einmal, „womöglich hattest du damals ja doch ein bisschen recht“; vielleicht höre ich das aber auch nur – nach dem dritten Glas Wein. In seinen wichtigen Arbeiten zu den Neosexualitäten[29] steht er nach meinem Verständnis der „Ressource“ aber näher als dem „Trieb“. 

Wie waren die internationalen Verbindungen?

1966 lud Giese Paul Gebhard, den Nachfolger Kinseys, zur Gastprofessur an die Uni Hamburg ein. Damit war die Verbindung zur US-amerikanischen Sexualforschung hergestellt. Ein Jahr später ging ich für mehrere Wochen ans Kinsey-Institut und lernte dort ­Simon und Gagnon kennen, die gerade damit begannen, die Soziologie der ­Sexualität vom Kopf auf die Füße zu stellen. Unsere Untersuchungen zur Pornographie, die ich oben erwähnte, fanden bei den US-Kollegen viel Interesse und Anklang. Als Richard Green zu Beginn der 1970er-Jahre mit Verve daran ging, die Sexualforschung mit Gründung der „Archives of Sexual Behavior“ und der „International Academy of Sex Research“ zu internationalisieren, bat er Sigusch und mich um Mitarbeit im „Board“ der Zeitschrift und der „Academy“. Der zweite Kongress der „Academy“ fand 1976 in Hamburg statt. Die jährlichen Kongresse sind bis heute ein internationales Diskussionsforum aktiv forschender Sexualwissenschaftler. Viele Hamburger Kollegen und Kolleginnen haben die „annual meetings“ besucht, ich denke mir, dass das heute noch so ist. International oder früh gesamtdeutsch war die Kooperation mit dem Soziologen Kurt Starke vom Zentralinstitut für Jugendforschung in Leipzig, die Mitte der 1980er begann und schon vor der Wende zu einer Vergleichsstudie BRD / DDR führte.[30] Nach der Wende leitete Starke dann im Rahmen dreier Hamburg-Leipziger Studien die Erhebungen in den neuen Bundesländern.[31] 

Der Tod von Schorsch kam ähnlich wie der Tod von Giese, ziemlich abrupt und unerwartet.…

Das war eine furchtbare Situation. Schorsch war lebenslustig, 56 Jahre alt, voller beruflichem Elan. Er war zuvor bei einem großen Prozess gewesen und hatte tagelang begutachtet. Auf dem Weg zum Institut brach er tot zusammen. Eine Woche zuvor war Schorsch noch beim Kongress der DGfS in Frankfurt gewesen, alle hatten ihn gesehen und mit ihm geredet. Für das Institut war es ein gewaltiger Schock. Es war wie ein Tod in der Familie. Gross und ich wurden kommissarisch zum ärztlichen bzw. wissenschaftlichen Leiter bestellt. Drei Jahre später wurde Wolfgang Berner, Psychoanalytiker, Psychiater, Forensiker aus Wien zum Direktor der Abteilung berufen. Das Inter­regnum, also die Zeit, bis Berner kam, war schwierig, es gab Konflikte und Misstrauen, Pfäfflin verließ die ­Abteilung und das war ein schwerer Verlust. 

Was war Schorsch für ein Mensch?

Er schien in sich zu ruhen und strahlte eine gelassene Autorität aus. Er konnte heftig feiern und exzessiv Sport treiben. Und er konnte wunderbar schreiben. Er hatte stets die soziale Dimension sexueller Straftaten im Blick[32], untersuchte die Verfolgungswut der Öffentlichkeit und bewies in seinen Fallgeschichten ein Ausmaß an Em­pathie und Verstehenswillen, das dem Leser bisweilen zusetzte, und das der re-psychiatrisierten Forensik von heute vermutlich fremd ist.[33] Wir haben ­übrigens nur selten an gemeinsamen Projekten gearbeitet und nur wenige Aufsätze zusammen publiziert.[34] Es war ein freundschaftliches Miteinander, aber jeder bestellte sein Feld. 

Wann kamen eigentlich Frauen ans Institut, z. B. Hertha Richter-Appelt?

Frauen gelangten erst spät auf ordent­liche Stellen in der Abteilung. Die erste war Margret Hauch, ich glaube Mitte der 1970er. Sie konfrontierte uns mit feministischen Theorien und feminis­tischer Sexualforschung und sorgte ­dafür, dass wir uns damit auseinandersetzten. Hertha Richter-Appelt kam 1978 von der Uni Konstanz. Sie machte es genau so, wie wir es früher gemacht hatten: Sie ließ sich nicht drein reden, machte ihre Projekte und hatte schnell ihre eigenen Forschungsvorhaben. 

Eine kämpferische Frau…

Und wie. Inhaltlich besetzte sie Themen, die in der Abteilung bis dahin nicht behandelt oder deutlich vernachlässigt worden waren: Psychoendokrinologie, sexueller Missbrauch, sexuelle Traumatisierung und zuletzt Intersexforschung. 

Wie haben Sie die letzten 15 Jahre des Instituts erlebt – zum Teil von innen und zum Teil ja auch schon von außen?

Ich finde es toll, dass das Institut gerettet ist und die Pensionierung Berners überlebt hat. Vom Frankfurter Institut ist nach Siguschs Pensionierung nur noch die Sexualambulanz geblieben, und auch die muss von der Leiterin ­Sophinette Becker in zähen Kämpfen immer wieder verteidigt werden. Es wäre furchtbar gewesen, wenn das Hamburger Institut untergegangen wäre. Dass das verhindert wurde, ist ein großer Erfolg von Berner, aber auch von Ihnen und Hertha Richter-Appelt. Darüber freue ich mich, das finde ich klasse. Berner und ich sind komplikationslos und freundschaftlich miteinander ausgekommen. Dass die Sexualforensik heute eine so starke Rolle spielt, schließt an die Gründungszeit des Instituts an. Ich hoffe natürlich, dass die anderen Bereiche dadurch nicht zu kurz kommen, vor allem das sozialwissenschaftliche Monitoring des sexuellen Wandel, über das ich gesprochen habe, das ja auch für die klinische Praxis der Abteilung eine große Bedeutung hat. 

Mit Silja Matthiesen und Arne Dekker haben Sie dafür gesorgt, dass dieses Projekt durch jemanden weitergeführt werden kann. Das ist tatsächlich etwas ganz Besonderes…

Beide haben in den letzten 15 Jahren große Erfahrungen in der soziologischen Sexualforschung erworben. Silja Matthiesens neues Projekt über die Bedeutung des Internets für die sexuelle Sozialistion Jugendlicher ist sehr spannend und wird, wie die früheren sozialwissenschaftlichen Studien, zum Ansehen des Instituts beitragen. Ich hoffe sehr, dass es beiden gelingt, DFG-Fördermittel für die vierte Welle der Studentenuntersuchung einzuwerben, und wünsche mir, dass Sie ein solches Projekt unterstützen. 

Sie sind sicher gebunden – an das Institut?

Immerhin habe ich fast 40 Jahre hier gearbeitet. Was die Mobilität betrifft, bin ich ein Dinosaurier, so viel Sesshaftigkeit ist antiquiert und heute ein wenig absurd. Ja, ich bin sicher gebunden, also auch gut gelöst. Ich habe nicht den Drang, jede Woche nachzusehen, was Ihr so treibt. Und das ist gut so. 

Herr Schmidt, vielen Dank für das Gespräch.

1 Zum Leben und Werk Gieses vgl. Dannecker M. Hans Giese (1920–1970). In: Sigusch V, Grau G, Hrsg. Personenlexikon der Sexualforschung. Frankfurt / Main: Campus 2009

2 Giese H, Schmidt G. Studenten-Sexualität. Verhalten und Einstellung. Eine Umfrage an 12 westdeutschen Universitäten. Reinbek: Rowohlt 1968

3 Giese H. Der homosexuelle Mann in der Welt. Stuttgart: Enke 1958, 1964

4 Schmidt G, Sigusch V. Zur Frage des Vorurteils gegenüber sexuell devianten Gruppen. Stuttgart: Enke 1967

5 Sigusch V, Schmidt G. Jugendsexualität. Dokumentation einer Untersuchung. Stuttgart: Enke 1973; Schmidt G, Sigusch V. Arbeiter-Sexualität. Eine empirische Untersuchung an jungen Industriearbeitern. Neuwied: Luchterhand 1971

6 Vgl. u. a. Sigusch V, Schmidt G. Psychosexuelle Stimulation durch Bilder und Filme. Geschlechtsspezifische Unterschiede. In: Schmidt G, Sigusch V, Schorsch E, Hrsg. Tendenzen der Sexualforschung. Stuttgart: Enke 1970

7 Vgl. u. a. Schmidt G, Hrsg. Jugendsexualität. Sozialer Wandel, Gruppenunterschiede, Konfliktfelder. Stuttgart: Enke 1993; Schmidt G, Hrsg. Kinder der sexuellen Revolution. Kontinuität und Wandel studentischer Sexualität 1966–1996. Gießen: Psychosozial 2000; Schmidt G, Matthiesen S, Dekker A, Starke K. Spätmoderne Beziehungswelten. Report über Partnerschaft und Sexualität in drei Generationen. Wiesbaden: VS Verlag 2006

8 Zum Leben und Werk von Bürger-Prinz vgl. Grau G. Hans Bürger-Prinz (1897–1976). In: Sigusch V, Grau G, Hrsg. a. a. O. 2009

9 Zum Leben und Werk Schorschs vgl. Sigusch V. Eberhard Schorsch (1935–1991). In ­Sigusch V, Grau G, Hrsg. a. a. O. 2009

10 Vgl. u. a. Pfäfflin F. Ein Kapitel aus der Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. Z Sexualforsch 1991; 4: 258–264

11 Zeh B. Hans Giese und die Sexualforschung der 50er Jahre. Z Sexualforsch 1995; 8: 359–368

12 Giese H, Hrsg. Psychopathologie der Sexualität. Stuttgart: Enke 1962

13 Giese H. Das obszöne Buch. Stuttgart: Enke 1965

14 Schorsch E. Sexualstraftäter. Stuttgart: Enke 1971

15 Schorsch E, Becker N. Angst, Lust, Zerstörung. Zur Psychodynamik sexueller Tötungen. Reinbek: Rowohlt 1977 (Neuauflage Gießen: Psychosozial 2000)

16 Schorsch E, Galedary G, Haag A, Hauch M, Lohse H. Perversion als Straftat. Dynamik und Psychotherapie. Berlin: Springer 1985

17 Arentewicz G, Schmidt G, Hrsg. Sexuell gestörte Beziehungen. Konzept und Technik der Paartherapie. Berlin: Springer 1980, 1986; Stuttgart: Enke 1993; Hauch M, Hrsg. Paartherapie sexueller Störungen. Das Hamburger Modell: Konzept und Technik. Stuttgart: Thieme 2006

18 Vgl. u. a. Pfäfflin F, Junge A. Geschlechtsumwandlung. Abhandlungen zur Transsexualität. Stuttgart: Schattauer 1992

19 Schmidt G. Das große Der Die Das. Über das Sexuelle. Herbstein: März 1986; ders. Das Verschwinden der Sexualmoral. Über sexuelle Verhältnisse. Hamburg: Klein 1996; ders. Das neue Der Die Das. Über die Modernisierung des Sexuellen. Gießen: Psychosozial 2004

20 Giese H, Hrsg. rororo sexologie. Ca. 25 Bände, 1968–1975

21 Vgl. u. a. Reiche R. Kritik der gegenwärtigen Sexualwissenschaft. In: Schmidt G, Sigusch V, Schorsch E, Hrsg. a. a. O. 1970

22 Dannecker M, Reiche R. Der gewöhnliche Homosexuelle. Eine soziologische Untersuchung über männliche Homosexuelle in der Bundesrepublik. Stuttgart: Fischer 1974

23 Hauch M, Hrsg. a. a. O. 2006

24 Arentewicz G, Schmidt G, Hrsg. a. a. O. 1980, 1986, 1993

25 Schorsch E et al. a. a. O. 1986

26 Vgl. u. a. Rieber I, Meyer AE, Schmidt G, Schorsch E, Sigusch V. Stellungnahme zu stereotaktischen Hirnoperationen an Menschen mit abweichendem Sexualverhalten. Sexualmed 1976; 5: 442–450 (Nachgedruckt in: Psychologie heute 1976; 3, Nr. 7: 27–32; Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 1976; 59: 216–222)

27 Vgl. u. a. Sigusch V, Hrsg. Aids als Risiko. Über den gesellschaftlichen Umgang mit einer Krankheit. Hamburg: Konkret Literatur Verlag 1987

28 Vgl. u. a. Sigusch V. Lob des Triebes. Schmidt G. Kurze Entgegnung auf Volkmar Siguschs „Lob des Triebes“. Beide in: Dannecker M, Sigusch V, Hrsg. Sexualtheorie und Sexualpolitik. Ergebnisse einer Tagung. Stuttgart: Enke 1984

29 Sigusch V. Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Frankfurt / Main: Campus 2005

30 Clement U, Starke K. Sexualverhalten und Einstellungen zur Sexualität bei Studenten in der BRD und in der DDR. Ein Vergleich. Z Sexualforsch 1988; 1: 30–44

31 Vgl. u. a. Schmidt G, Hrsg. a. a. O. 1993; ders., Hrsg. a. a. O. 2000; Starke K. Nichts als die ­reine ­Liebe. Beziehungsbiographien und Sexualität im sozialen und psychologischen Wandel. Ost-West-Unterschiede. Lengerich: Pabst 2005; Schmidt et al. a. a. O. 2006

32 Vgl. Schorsch E. Perversion, Liebe, Gewalt. Aufsätze zur Psychopathologie und Sozialpsychologie der Sexualität 1967–1991. (Herausgegeben von Schmidt G, Sigusch V). Stuttgart: Enke 1993

33 Vgl. u. a. Schorsch E. Kurzer Prozess? Ein Sexualstraftäter vor Gericht. Hamburg: Klein 1991

34 Vgl. u. a. Schmidt G, Schorsch E. Sexuelle Liberalisierung und Emanzipation. Gegenwarts- und Zukunftsmodelle. Nervenarzt 1974; 45: 147–152

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