Balint Journal 2010; 11(1): 27-28
DOI: 10.1055/s-0030-1247264
Aus der Historie

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Michael Balint über Georg Groddeck

Michael Balint about Georg GroddeckS. Häfner1
  • 1Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Medizinische Universitätsklinik und Poliklinik, Tübingen
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Publication Date:
16 March 2010 (online)

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Die Publikationsliste von Michael Balint (1896–1970) ist lang und reicht von „Eine jodometrische Bestimmung des Natriums“ als biochemischem oder „Perversio vagy hysteriás tünet?“ („Perver­sion oder hysterisches Symptom?“) als psychotherapeutischem Erstlingswerk bis zu dem allseits bekannten „The Doctor, His Patient and the Illness“, zu Deutsch „Der Arzt, sein Patient und die Krankheit“ [1] [2] [3] [4] . Eine umfassende Auflistung seiner Bibliographie ist auch über die Home­page der Deutschen Balint-Gesellschaft abruf­bar[1]. Darunter befindet sich eine bemerkenswerte ­Rezension zweier Bücher von Georg Groddeck (1866–1934), die zeigt, wie sehr Balint die deutsche Psychosomatik geschätzt hat, und vielleicht auch, wie viele Gemeinsamkeiten der deut­schen Psychosomatik es mit Ungarn gab und gibt [5]. Nicht von ungefähr kam es ja, dass Sandór ­Ferenczi (1873–1933) zusammen mit seiner Frau Gizella mehrfach seine Sommerferien in Groddecks Sanatorium in Baden-Baden verbrachte [6].

Zum Inhalt der Rezension: 1951, gerade wird Groddeck eher mühsam durch Viktor von Weizsäcker (1886–1957) in Deutschland wieder­entdeckt, erscheint im englischen International Journal of Psycho-Analysis eine Rezension über zwei Bücher Groddecks aus der Feder von Mi­chael ­Balint [7] [8] : „Two old and dear friends in a new form changed from German into English“ ­bemerkt Balint einleitend. „The Book of the It“ („Das Buch vom Es“) sei eines seiner Lieblings­bücher, vielleicht die erste medizinische Schrift, die die Idee ernst nehme, dass Krankheiten, die uns körperlich oder somatisch anmuten, eigentlich durch Gefühle verursacht werden und in Wahrheit un- oder falschverstandene Gefühlsausdrücke seien.

Georg Groddeck, genialer Arzt und origineller Schriftsteller, Autodidakt der Psychoanalyse, gilt als einer der Bahnbrecher der psychosomatischen Medizin [9]. 1923 erschien „Das Buch vom Es: psychoanalytische Briefe an eine Freundin“, Groddecks bekanntestes Werk. Die Veröffentlichung dieser fiktiven psychoanalytischen Briefe war eine Sensation. Groddeck entwirft darin die ­Vision einer psychosomatischen Medizin, für die jede organische Krankheit Ausdruck eines see­li­schen Zustandes ist und zeigt die Bedeutung des Unbewussten in unserem alltäglichen Leben und Denken auf. Er entfaltet seine Ideen im Verlauf ­einer Reihe von zwanglosen Briefen eines Arztes, Patrik Troll[2], an eine Patientin – Briefen voller Geist, Poesie und Schalkheit. „Das Buch vom Es“ gehört daher heute zu den Klassikern der psychoanalytischen Literatur.

Balint weist in seiner Rezension auch darauf hin, dass Freud den Begriff des „Es“ von Groddeck und diesem Buch geliehen hat [10] [11] . Mit dem von ihm geprägten Begriff des „Es“, der den ­Bereich des Unbewussten bezeichnet, leistete Groddeck einen wichtigen Beitrag zur psychoanalytischen Begriffsbildung. Der ungezügelte, unsystematische, visionäre Spötter Groddeck, gänzlich unakademisch, ja geradezu literarisch inspiriert und mit einer Radikalität, die ihresgleichen sucht, kam damit Geheimnissen der Psyche näher als viele von Freuds Anhängern – auch in den Augen Freuds.

Das zweite Buch („Exploring the Unconscious“) beinhaltet vor allem eine Auswahl von Beiträgen aus der „Arche“, jener Patientenzeitschrift, die vor allem von Groddeck geschrieben und finanziert wurde, und deren Leser fast ausschließlich Freunde und ehemalige Patienten waren.

In der eher kurzen Rezension, die sogar zwei Bücher zugleich ­abhandelt, weist Balint zum Schluss noch auf einen drolligen Übersetzungsfehler hin: So wäre es besser gewesen, „Brust“ mit „chest“ anstelle von „breast“ zu übersetzen, denn es sei doch ziemlich zweischneidig, zu behaupten, „that one’s heart is in one's breast“.

Literatur

  • 1 Balint M, Petow M. Eine jodomerische Bestimmung des Natriums.  Biochem Z. 1924;  4 242-243
  • 2 Balint M. Perversio vagy hysteriás tünet? [„Perversion or hysterical symptom?“].  Gyógyászat. 1925;  65/49 1104-1105
  • 3 Balint M. The Doctor, His Patient and the Illness. International Universities Press; 1957
  • 4 Balint M. Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. Stuttgart: Klett-Cotta; 1964
  • 5 Häfner S. Lebensweg Michael Balints. In: Häfner S, Hrsg. Die Balintgruppe. Praktische Anleitung für Teilnehmer. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 2007: 3–7
  • 6 Giefer M. Hrsg. Briefwechsel Sándor Ferenczi – Georg Groddeck. Frankfurt am Main, Basel: Stroemfeld Verlag; 2006
  • 7 von Weizsäcker V. Vorbemerkung zu Georg Groddeck: Psychosomatische Forschung als Erforschung des Es. Aus einem nicht gehaltenen Vortrag.  Psyche. 1951;  4 481
  • 8 Balint M. [Rezension von „Georg Groddeck: Exploring the Unconscious. London: Vision Press Ltd. 1950“ und „Georg Groddeck: The Book of the It. London: Vision Press Ltd. 1950“].  The International Journal of Psycho-Analysis. 1951;  32 250-251
  • 9 Häfner S. Georg Groddeck – Vater der Psychosomatik.  Z Psychosom Med Psychoanal. 1994;  40 249-265
  • 10 Nitzschke B. Zur Herkunft des „Es“: Freud, Groddeck, Nietzsche – Schopenhauer und E. von Hartmann.  Psyche. 1983;  37 769-804
  • 11 Küchenhoff J. Groß Es oder klein es? Anmerkungen zu dem Artikel von Bernd Nitzschke über die „Herkunft des Es“.  Psyche. 1985;  39 144-149

1 http://www.balintgesellschaft.de/publikationen/bibliographie.php

2 In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant, dass Georg Groddecks Spitznamen in der Familie „Pat“ war.

Dr. med. S. Häfner

Medizinische Universitätsklinik und Poliklinik · Abteilung Innere Medizin VI · Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Silcherstraße 5

72076 Tübingen

Deutschland

Email: steffen.haefner@med.uni-tuebingen.de

URL: http://www.psychosomatik-tuebingen.de