ergopraxis 2009; 2(11/12): 14
DOI: 10.1055/s-0029-1245092
wissenschaft

Wissenschaft erklärt: Wissenschaftliche Artikel lesen – Wichtiges schnell erfassen

Roger Hilfiker
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
23. Juni 2010 (online)

Inhaltsübersicht

Wenn man sich schon durch die Bleiwüste eines Artikels quält, dann möchte man die relevanten Informationen wenigstens schnell finden. Mit der richtigen Strategie ist das möglich.

Die praktische Eigenschaft, dass wissenschaftliche Artikel meist ähnlich aufgebaut sind, kann man sich beim Lesen zunutze machen (ergopraxis 9/09, „Aufbau wissenschaftlicher Artikel”). Die ersten Informationen, auf die man bei diesen Artikeln stößt, sind Titel, Autor und Abstract.

Im Titel steht meist entweder die Fragestellung der Studie oder das Ergebnis. Er sollte außerdem bereits einen Hinweis auf die angewandte Methode geben, also ob es sich beispielsweise um eine randomisierte kontrollierte oder um eine qualitative Studie handelt. Daraufhin kann man bereits entscheiden, ob der Artikel interessant sein könnte. Obwohl man Artikel „neutral” lesen sollte, darf man ruhig auf den Namen des Autors achten. Kennt man seine Arbeiten, kann das beim Verstehen des Textes weiterhelfen. Aber: Namen garantieren keine methodisch perfekten Studien!

Im Abstract findet man schließlich die wichtigsten Informationen zu Fragestellung, Methode, Probanden, Resultaten sowie Schlussfolgerung. Diese helfen einem lediglich dabei, sich für oder gegen das Lesen der kompletten Studie zu entscheiden. Um sich eine Meinung über die untersuchte Therapiemethode zu bilden oder um eine Studie zu zitieren, sollte man immer den vollständigen Artikel kennen.

Das Wichtigste steht in vier Sätzen

Man muss einen Artikel nicht unbedingt von Anfang bis Ende durchlesen. Das Wichtigste findet man meist in vier Sätzen, die sich nach einem bestimmten Schema über den ganzen Artikel verteilen: Zuerst liest man den ersten Satz eines Artikels. Dort beschreibt der Forscher, warum es wichtig war, die Studie durchzuführen, und worum es geht. Anschließend liest man den letzten Satz der Einleitung. Hier erfährt man das Ziel der Studie und meist auch, mit welcher Methode der Forscher dieses erreichen wollte. Anschließend kann man direkt zum ersten Satz der Diskussion übergehen. Dort erfährt man, was der Forscher herausgefunden hat – angenehm zusammengefasst und ohne komplizierte Statistik oder Zahlen. Am Ende der Diskussion oder der Schlussfolgerung findet man meistens einen Satz über die Bedeutung der Resultate, also welche Konsequenzen man aus der Studie ziehen sollte.

Die Methode: Schlüssel zur Erkenntnis

Man weiß zwar jetzt, was einem die Studie sagen möchte, allerdings weiß man noch nichts über die Gültigkeit dieser Aussage: Ist die Studie qualitativ hochwertig und sind die Resultate richtig? Kann man sie auf die eigenen Klienten übertragen? Dazu muss man sich in den etwas schwierigeren Teil der Methode begeben. Dieser ist meist folgendermaßen aufgebaut: Ein Abschnitt beschreibt die Studienteilnehmer, ein anderer die Methode beziehungsweise das Studiendesign. Handelt es sich zum Beispiel um eine retrospektive, eine randomisierte kontrollierte Studie oder um eine Kohortenstudie? Außerdem findet man hier Angaben zu den statistischen Methoden, anhand derer man die Resultate interpretieren kann.

Die Diskussion anhand der Resultate verstehen

Die meisten Informationen für Qualitätschecklisten wie die von Law oder PEDro findet man im Methodenteil [1, 2]. Wer diesen einigermaßen verstanden hat, kann einerseits die Resultate leichter interpretieren und andererseits die Diskussion besser nachvollziehen. Außerdem vermag man anhand der Resultate leichter zu überprüfen, ob die Schlussfolgerungen logisch sind, die nicht selten unverhältnismäßig optimistisch klingen. Die wichtigsten Resultate findet man oft in einer Grafik oder einer Tabelle dargestellt. Je nach Studienart muss man zur Qualitätskontrolle unterschiedliche Informationen in den Resultaten suchen. So sollte man bei Studien, welche die Wirkung einer Therapie untersuchen, immer die wichtigsten prognostischen Faktoren zu Beginn des Artikels in allen Gruppen vergleichen. Das heißt: Starten die Klienten aus der behandelten Gruppe mit denselben Bedingungen wie die aus der Kontrollgruppe, um sie am Ende vergleichen zu können? Haben sie beispielsweise anfangs eine ähnlich hohe Schmerzintensität?

Keine voreiligen Schlüsse ziehen!

Beim Interpretieren der Resultate muss man sich fragen, ob man die Schlussfolgerungen auch auf die eigenen Klienten übertragen kann. Hier ist es wichtig, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, sondern einen Artikel mehrmals zu lesen. Ob bewusst oder unbewusst, interpretiert man Resultate je nach Einfluss unterschiedlich. Aus dem Grund muss ein Forscher alle möglichen Interessenskonflikte oder Schwächen angeben – meist ganz am Ende des Artikels. Diese Angaben sollen helfen, mögliche Verzerrungen darzulegen. Ein Forscher, der zum Beispiel selbst an Homöopathie glaubt, wird die methodische Qualität einer systematischen Literaturübersicht mit dem Ergebnis „Homöopathie wirkt nicht mehr als Plazebo” anders beurteilen als ein Vertreter der Pharmaindustrie.