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DOI: 10.1055/s-0029-1243467
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart ˙ New York
Ist der Rückenschmerz nozizeptiv oder neuropathisch bedingt? - Differenzialdiagnose ermöglicht bessere Therapie
Publication History
Publication Date:
01 December 2009 (online)
- Enorme volkswirtschaftliche Kosten
- Wissenschaftliches Tool für die tägliche Praxis
- Wenn nozizeptive und neuropathische Schmerzen nebeneinander bestehen
- Analgetika gezielt einsetzen


Bild: Thieme Verlagsgruppe (Karl H. Wesker)
Mehr als die Hälfte aller hierzulande lebenden Erwachsenen wird jedes Jahr von Rückenschmerzen geplagt. Rund 20 % der Frauen und 15 % der Männer haben sogar chronische Rückenschmerzen, die definitionsgemäß beinahe täglich auftreten und länger als 3 Monate anhalten. Am häufigsten konsultieren die Betroffenen Orthopäden und Chirurgen. Doch auch bei Allgemeinärzten und hausärztlich tätigen Internisten sind Rückenschmerzen immer ein Thema, sind sie doch in der Hausarztpraxis der vierthäufigste Grund für eine Konsultation, berichtete Prof. Thomas Kohlmann, Greifswald.
#Enorme volkswirtschaftliche Kosten
Laut Statistischem Bundesamt verursachten Dorsopathien im Jahr 2006 Therapiekosten von 8,3 Milliarden Euro und kommen uns damit ebenso teuer wie die antihypertensive Therapie. Insgesamt summieren sich die direkten und indirekten Kosten der "Volkskrankheit" Rückenschmerzen pro Jahr auf bis zu 20 Milliarden Euro.
"Wir brauchen damit auch eine Deutsche Gesellschaft für Rückenschmerzen", forderte Kohlmann. Besonders kostenträchtig sind laut Kohlmann und Christina Wenig, Greifswald, neuropathische Schmerzen höherer Schweregrade. Solche Schmerzen mit neuropathischer Komponente machen etwa ein Zehntel aller Dorsopathien aus. Werden sie entsprechend den Leitlinien effektiv behandelt, lassen sich deutlich Kosten einsparen.
#Wissenschaftliches Tool für die tägliche Praxis
Dabei ist es für das therapeutische Prozedere entscheidend, ob ein nozizeptiver Schmerz oder ein Schmerzsyndrom mit neuropathischer Komponente vorliegt - eine nicht immer ganz einfachere Differenzierung. Einfacher kann man es sich machen, wenn man sich zum Screening des mittlerweile weltweit verbreiteten painDETECT®-Fragebogens bedient.
Dieses internationale wissenschaftliche Tool ist auf die tägliche Praxis zugeschnitten und hilft auch "fachfremden" Ärzten konkrete Indizien für mögliche Neuropathien schnell zu identifizieren: Ergibt der Fragebogen, mit dem sich 4 verschiedene Schmerzmuster spezifizieren lassen, einen Score von 19 Punkten und mehr, existiert bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen mit mehr als 90 %iger Wahrscheinlichkeit eine neuropathische Schmerzkomponente, erklärte PD Rainer Freynhagen, Tutzing.
Bereits seit 10 Jahren gibt es das painDETECT-Projekt, das initiiert wurde, um Informationen über Häufigkeit und Schweregrad (neuropathischer) Schmerzen bei verschiedenen Erkrankungen zu gewinnen. Weil er sich einfach und dennoch vielseitig einsetzen lässt, haben zahlreiche Praxen und Kliniken den Fragebogen als Standardtool zur Datenerhebung und Qualitätssicherung implementiert. Das Resultat ist eine der weltweit umfangreichsten epidemiologischen Schmerzdatenbanken mit einer Vielzahl von Daten zu Schmerzlokalisation, Schmerzverlauf sowie Komorbiditäten wie Depression, Angst- oder Schlafstörungen.
#Wenn nozizeptive und neuropathische Schmerzen nebeneinander bestehen
Lokalisierte Schmerzen im Rückenbereich werden zwar als nozizeptive Schmerzen eingestuft. Strahlen die Schmerzen auch in die Extremitäten aus, ist jedoch vermutlich zusätzlich eine neuropathische Komponente mit im Spiel. "Dieses Nebeneinander von nozizeptiven und neuropathischen Schmerzanteilen bezeichnet man als Mixed-Pain-Syndrom", sagte Prof. Ralf Baron, Kiel. In einer painDETECT-Studie ließ sich nachweisen, dass bei mehr als einem Drittel der 8000 Teilnehmer mit Rückenschmerzen eine signifikante neuropathische Komponente vorhanden war.
Verantwortlich gemacht für die radikuläre Ausstrahlung von Rückenschmerzen wird die mechanische Kompression einer Nervenwurzel, etwa infolge eines Diskusprolapses oder eines Postdiskektomiesyndroms. Dass es sich dabei um einen neuropathischen Schmerzanteil handeln muss, zeigen die Erfolge der operativen Dekompression bei einem Großteil der Patienten. Dennoch findet sich in der Bildgebung häufig kein strukturelles Korrelat, das die Nervenwurzel komprimiert, obwohl der Patient sämtliche Symptome einer Radikulopathie aufweist. Das trifft vor allem auf Patienten mit chronischen Lumboischialgien zu.
Außer der mechanischen Kompression tragen damit wohl noch andere neuropathische Schmerzmechanismen zur Symptomatik einer Radikulopathie bei. Auch der Anteil neuropathischer Komponenten am Schmerzgeschehen unterscheidet sich von Fall zu Fall. "Die quantitative Abschätzung der beteiligten Schmerzmechanismen ist allerdings wesentlich, da die neuropathische Schmerzkomponente im Gegensatz zu den nozizeptiven Schmerzen einer völlig anderen Therapie bedarf", gab Baron zu bedenken.
#Analgetika gezielt einsetzen
So sind nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR), die beim nozizeptiven Schmerz zu den First-line-Medikamenten zählen, beim neuropathischen Schmerz wenig hilfreich. Hier kommen vielmehr die sogenannten Koanalgetika, wie Antidepressiva und Antikonvulsiva wie Pregabalin (Lyrica®) sowie Opioide in Betracht. Den Effekt von Pregabalin in dieser Situation zeigt beispielsweise eine Studie von Mallison et al. Hier wurden 4271 Patienten mit neuropathischen Rückenschmerzen 6 Wochen lang mit dem Antikonvulsivum therapiert. Dabei zeigte sich auf einer visuellen Analogskala eine Schmerzreduktion um 58 %.
Karl Filip, Landsberg am Lech
Quelle: Pressekonferenz "Schmerzen kosten nicht nur Nerven - Neueste Daten zur differenzierten und ökonomischen Bewertung und Therapie von chronischen Schmerzpatienten" anlässlich des Deutschen Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) 2009; Veranstalter: Pfizer Pharma GmbH, Berlin


Bild: Thieme Verlagsgruppe (Karl H. Wesker)