Zahnmedizin up2date 2010; 4(1): 19-38
DOI: 10.1055/s-0029-1240770
Kraniomandibuläre Dysfunktion

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Physikalische Therapie und Schmerzmedikation bei der kraniomandibulären Dysfunktion

Meike Stiesch, Matthias Karst, Mattias Fink
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Publication Date:
25 February 2010 (online)

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Einführung

In epidemiologischen Studien konnte gezeigt werden, dass ein Großteil der Bevölkerung Symptome von kraniomandibulären Dysfunktionen (CMD) aufweist. Der Behandlungsbedarf dieser Funktionseinschränkungen wird auf immerhin 5 % der Bevölkerung geschätzt, sodass die Therapie der kraniomandibulären Dysfunktion einen wichtigen Platz in der zahnärztlichen Praxis einnimmt. Da kraniomandibuläre Dysfunktionen häufig mit unphysiologischen Belastungen des Kausystems einhergehen, können in der Folge charakteristische klinische Symptome auftreten. Zu diesen zählen:

funktionsabhängige Gelenkschmerzen, Muskelschmerzen und Funktionseinschränkungen wie Limitationen der Unterkiefermobilität und laterale Deflexionen oder Deviationen [1, 2].

Das therapeutische Ziel bei der konservativen Behandlung der kraniomandibulären Dysfunktion besteht in 1. Linie in einer Reduzierung dieser Leitsymptome sowie einer funktionellen Rehabilitation des Kausystems. Die zahnärztliche Therapie innerhalb dieser Behandlung besteht in der Regel in einer Okklusionsschienentherapie, die eine Reduktion der Leitsymptome, wie z. B. Limitationen der Unterkiefermobilität, sowie der Gelenkschmerzen zum Ziel hat. Hierzu werden in der Literatur eine Vielzahl verschiedener Schienenkonzepte diskutiert, die sich hinsichtlich ihrer Funktion in 3 große Gruppen unterteilen lassen [[3], [4]]:

die Relaxierungs-/Stabilisierungsschienen, die Distraktionsschienen sowie die Repositionsschienen.

Alle Schienenkonzepte haben langfristig die Sicherung einer physiologischen statischen und dynamischen Okklusion in horizontaler und vertikaler Relation, die Relaxierung der Kaumuskulatur sowie die Entlastung bzw. die Stabilisierung physiologischer Belastungsverhältnisse der Gelenkstrukturen zum Ziel [[5], [6]].

Aufgrund der multifaktoriellen Ätiologie der kraniomandibulären Dysfunktion sowie der häufigen Koinzidenz mit myogenen und arthrogenen Funktionsstörungen des gesamten Bewegungsapparats sollte in vielen Fällen ein interdisziplinäres Behandlungskonzept angestrebt werden [[7], [8], [9], [10]]. So ist es in den letzten Jahren bei der Behandlung von Patienten mit kraniomandibulären Dysfunktionen zunehmend zu einer Zusammenarbeit zwischen Zahnmedizin, physikalischer Medizin und Schmerzmedizin gekommen. Die Empfehlungen bei der Behandlung kraniomandibulärer Dysfunktionen unter Mitbeteiligung der physikalischen Therapie reichen hierbei von minimalen Therapiekonzepten, begrenzt auf den Bereich des kraniomandibulären Systems, bis hin zu weitreichenden therapeutischen Konsequenzen für das gesamte Bewegungs-system (Tab. [1]).

Tabelle 1 Therapieempfehlungen in Abhängigkeit von der Diagnose. Schienentherapie physikalische Therapie medikamentöse Therapie Antiphlogistika Muskelrelaxantien myofasziale Beschwerden x x x x Diskusverlagerung mit Reposition schmerzhaft x x x x nicht schmerzhaft x x Diskusverlagerung ohne Reposition x x x x Arthralgie x Arthrose x x Hypermobilität x

Anamnese

Ausgangspunkt für die Therapieentscheidung stellt in jedem Fall eine ausführliche Anamnese und Diagnostik dar (Abb. [1]). Die erweiterte CMD‐Anamnese erstreckt sich dabei neben Fragen bezüglich des Kauorgans, der Kopf- und Halsregion auch auf schmerzhafte Funktionsstörungen der Schultergürtelpartie und der Wirbelsäule. Zudem berücksichtigt sie ergonomische Modalitäten (Zwangshaltungen) des Arbeitsplatzes sowie Schlafgewohnheiten. Zugleich ist der psychosoziale Hintergrund unbedingter Bestandteil der Anamnese, da psychische Belastungssituationen und Stressfehlverarbeitung einen Auslösemechanismus der beschriebenen Parafunktionen darstellen können [[11]]. Häufig sind hierbei weitere Funktionsstörungen an anderen Organsystemen (Herz-Kreislauf-System, Gastrointestinaltrakt) und andere psychische Auffälligkeiten der Gemütslage für eine Stressfehlverarbeitung richtungsweisend [[12]]. Hier ist es oft schwierig, die Notwendigkeit einer zusätzlichen psychotherapeutischen Betreuung abzuschätzen. Da eine psychotherapeutische Betreuung von Patienten oft abgelehnt wird, empfehlen wir den Patienten in der Regel ein professionelles Stressmanagement. Dieser Begriff ist nicht negativ belegt und ebnet häufig den Weg in die begleitende Psychotherapie. Als Entscheidungshilfe für eine Überweisung in die Psychotherapie dient dabei der Grundsatz, dass die vom Patienten subjektiv geschilderten Beschwerden bei der klinischen Untersuchung nicht objektivierbar sind, also eine erhebliche Diskrepanz zwischen Befund und Befinden besteht.

Abb. 1 Zeitlicher Ablauf der Anamnese, Diagnostik und Therapie der CMD.

Zur raschen Orientierung bei der Anamnese eignet sich zur Unterstützung bei der Anamneseerhebung ein validierter Fragebogen als Selbstauskunftsinstrument, der eine krankheitsbedingte Behinderung und Funktionseinschränkung des Kauorgans zuverlässig erfasst. Wir verwenden hierfür den Funktionsfragebogen „CMD‐Hannover“, mit dem zuverlässig und schnell das Vorliegen einer CMD abgeschätzt werden kann. Zugleich eignet sich der Fragebogen zur Verlaufskontrolle einer begonnenen Therapie (als PDF unter www. cranioconcept.de/downloads).

Diese Vorgehensweise ist für den Patienten nicht belastend. Sie bietet in einer Spezialambulanz ebenso wie in einem raschen Routinebetrieb erhebliche Vorteile, da sie die Dauer einer umfassenden Anamnese erheblich verkürzt und den Patienten als „Mitarbeiter“ in seine eigene Behandlung einbindet.

Literatur

Prof. Dr. med. dent. Meike Stiesch

Klinik für Zahnärztliche Prothetik und Biomedizinische Werkstoffkunde

Carl-Neuberg-Straße 1

30625 Hannover

Phone: 05 11/5 32-47 74

Fax: 05 11/5 32-47 90

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