PPH 2009; 15(3): 138-140
DOI: 10.1055/s-0029-1225476
Psychiatrie-Erfahrene

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Recovery und Kunst als Aktivismus

L. Pembroke
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Publication Date:
01 July 2009 (online)

Ich werde politisch unkorrekt sein und mich unbeliebt machen, wenn ich erkläre, dass ich nicht an die so sehr propagierte „Recovery” glaube. Ich habe Artikel über die „12 Kernkompetenzen der Recovery” gelesen. Man hat sie in eine Kiste gesteckt, zur Ware gemacht, sie mit einer Marke versehen und politisch ausgebeutet, hat zum Beispiel gesagt: Recovery = bezahlte Arbeit, irgendeine Arbeit, Toiletten putzen um 6 Uhr morgens für einen winzigen Lohn, welche, ist egal. Nun, es ist nicht egal. Ich glaube auch nicht, dass man den Fachleuten Recovery beibringen kann. Ich will nicht, dass unser Potenzial, „so gut wie möglich” zu leben, wieder in irgendeine Gesetzeskiste gepackt wird. Ich will auch nicht, dass Überlebendengruppen und Aktivisten nur Arbeit und Ausbildung als primären Maßstab für Genesung darstellen, weil sie das Gefühl haben, das sei das einzige, was zählt. Bezahlte Arbeit und Ausbildung sind absolut lobenswerte Ziele, aber wenn das alles ist, was als Genesung gilt, so laufen diejenigen, die nicht die akademische Eignung haben, die Universität zu besuchen oder es einfach nicht wollen, oder diejenigen, die weiter ehrenamtliche Arbeit leisten, Gefahr, das Gefühl zu haben, ihre Genesung könnte irgendwie zweitklassig sein.

Anstatt Genesung auf eine bestimmte Liste von Dingen festzulegen, wäre es mir lieber, man würde sich darauf konzentrieren, die Menschen dabei zu unterstützen, so gut zu leben, wie sie können – wie auch immer das sein mag. Kreativität und Kunst stehen zweifellos in Zusammenhang mit Wohlbefinden, Kommunikationsvermögen und Selbstwertgefühl, aber ich will nicht, dass man einen empirischen Nachweis dafür entwickelt, dass Kreativität gut für uns ist. Das wäre so, als würde man einen Beweis dafür führen, dass Baden gut tut. Eine Wohlfahrtseinrichtung hat eine Broschüre darüber herausgebracht, warum Freunde gut für unsere seelische Gesundheit sind, eine andere hat Übungen im Freien als „Ökotherapie” bezeichnet, und die Verbesserung der unmittelbaren Umgebung einer Person heißt jetzt „Nido-Therapie”. Die selbstverständlichsten Dinge werden auf einmal „Therapie” genannt und haben eine Beweisgrundlage. Das zieht sich durch die gesamte Gesundheitsfürsorge. Dinge, die eigentlich selbstverständlich sein sollten und die man früher wie Händewaschen, Essen oder Konversation erledigt hat, müssen heute offizielle Politik sein, damit sie geschehen können. Praktisch alles wird Therapie genannt. Bei dieser Geschwindigkeit wird auch Atmen bald eine Therapie sein. Und jetzt alle zusammen: EIN und AUS!

Als Aktivisten kürzlich bei einer Welt-Psychiatrie-Konferenz auftauchten und dort mit roten Clownsnasen Straßentheater machten, haben die Pharmaunternehmen, die die Konferenz finanzierten, zu ihnen gesagt, ihre Nasen seien „gefährlich”. Offenbar gibt es für Humor keinen empirischen Nachweis, also ist es jetzt offiziell: Wir brauchen einen Nachweis, um lachen zu können! Ich glaube nicht, dass es möglich ist, die Wirkung von Dingen wie Kreativität, Humor, Spiritualität, Hoffnung oder Liebe zu messen.

Als ich im Teenageralter über visuelle Kunstformen das ausdrückte, worüber ich nicht sprechen konnte, war das ein Ventil und nicht mehr. Für mich ein nützliches wohl, aber wäre es Gegenstand einer förmlichen Auswertung gewesen, so hätte ich auf einer Skala für sichtbare Verbesserung wohl keine Punkte erzielt. Worauf es ankommt, ist das, was in uns drin geschieht, und ich bin nicht sicher, ob ich das genau definiert haben möchte.

Traurigerweise hat man unsere visuelle Kunst als akademische Übung pathologisiert. Meine Comic-Serie in Self-Harm: Perspectives from Personal Experience [‎[2]] wurde von einer feministischen Akademikerin wie bei einer Untersuchung des Geisteszustands analysiert, weshalb ich allen Mitüberlebenden rate: Falls man eure Arbeit irgendwo verwenden möchte, stellt vorher genau klar, was man damit vorhat. Kunst kann auch positiv von Dritten als Statement benutzt werden. Dieselben Cartoons wurden als Poster gedruckt, und ich erfuhr, dass die Bewohner einer Hochsicherheitsklinik diese Poster an ihre Zimmertüren geklebt hatten. Dies ermöglichte ihnen, etwas auszudrücken, das sie verbal nicht ohne weiteres äußern konnten, und weil es Kunst war, war es akzeptabel.

Anstatt Kunst und Kreativität zur Therapie zu machen, weil sie die Genesung unterstützen könnten, wäre es mir lieber, man würde den Nutzern seelischer Gesundheitsdienste einen einfacheren und weniger gettoisierten Zugang zur Kunst verschaffen. Anstatt für Dienstenutzer spezielle Klassen mit Therapeuten zu bilden, sollten wir den Menschen helfen, überall Kurse und Workshops zu belegen oder Künstler und Lehrer kommen lassen. Das sollten Leute mit jeglichem Hintergrund sein und nicht bloß solche mit Therapie-Ausbildung. Gleichzeitig weiß ich den Wert von Veranstaltungen zu schätzen, die nur für Überlebende gedacht sind, weil sich manche dort sicherer fühlen, aber dann sollte man mehr Künstler aus der Gruppe der Überlebenden die Schulung durchführen lassen. Wir brauchen Leute mit guten künstlerischen und kommunikativen Fähigkeiten, aber das müssen nicht ausschließlich Therapeuten sein.

Überlebenden-Kunstprojekte können für manche Menschen ein guter Anfang sein, aber für einzelne bleibt es sehr schwierig, Zugang zu Mitteln zu bekommen, um ihre kreative Tätigkeit zu fördern. Wer von Soziahilfe lebt, für den ist es unmöglich, Zuschüsse direkt zu erhalten, und Geldgeber helfen denjenigen meist nicht, die keinen „Namen” haben. Kreativ zu sein ist zweifellos gut für das Wohlbefinden, aber ich will nicht, dass man das benutzt und verkauft wie kognitive Verhaltenstherapie. Gestattet den Menschen, ihre eigene Reise zu unternehmen und unterstützt sie beim Zugang und der Finanzierung. Kunst als Aktivismus ist etwas, woran ich leidenschaftlich glaube. Einer meiner ersten Kontakte mit der Überlebenden-Bewegung war eine Gruppe namens London Alliance for Mental Health Action. Wir protestierten mit Straßentheater gegen die Nationalen Schizophrenie-A-Notfallplakate in den 1980er Jahren. Auf diesen Plakaten waren verzerrte, schwarzweiße Gesichter abgebildet, dazu rote Slogans wie „Er hält sich für Jesus, du hältst ihn für einen Mörder, sie hoffen, er wird verschwinden”.

Wir standen also vor diesen Plakaten und zeigten unser Straßentheater, das aus der Inszenierung einer Zwangsverabreichung von Medikamenten, visuellen Darstellungen der Nebenwirkungen und einem laufenden Kommentar über die klinischen Ausdrücke für diese Nebenwirkungen bestand sowie darüber, was sie bedeuten. Ich spielte den mit der Spritze herumfuchtelnden Arzt im weißen Kittel, und man sagt, ich hätte mich in einen absoluten Mistkerl verwandelt, sobald ich diesen Kittel anzog (ich bin eben auch verrückt, schätze ich). Ich habe im Unterricht und in Reden auf Konferenzen viele kreative, humoristische und dramatische Einfälle benutzt, um ernste Themen rüberzubringen. Es hilft den Menschen, sich den ernsten Teil, der darin steckt, zu merken.

Hier sind einige Beispiele. Ich habe mir zusammen mit einem Freund ein Quiz ausgedacht, bei dem die Leute zu einer bestimmten Anzahl von Fragen zwischen A, B und C wählen sollten. Die Antworten fielen in drei Kategorien: pathologisch, gesunder Menschenverstand und zum Himmel schreiend. Sinn der Übung war, zu zeigen, dass es sich immer lohnt, nach der auf gesundem Menschenverstand beruhenden Erklärung für das Verhalten einer Person zu suchen. Dazu benutzte ich einen ferngesteuerten Dalek (roboterartiger Außerirdischer in einer britischen Science Fiction-Fernsehserie, Anm d. Übers.) und Apparate aus Raumschiff Enterprise. Das sind allgemeine kulturelle Bezugspunkte, die humorvoll eingesetzt werden können, um das Eis zu brechen. Oder man setzt sie humorvoll ein, um schwierige Themen – *ähem* - zu entschärfen. Die CD-ROM „Electric Apple” von Mental Health Media [‎[1]] ist ein fantastisches Beispiel für eine Überlebenden-Ressource an seltsamen und wunderbaren Möglichkeiten, mit Belastungen fertig zu werden und damit umzugehen. Auch Clips können in Präsentationen verwendet werden. Ich habe einen Clip von mir gezeigt, in dem ich ein Cyborg-Kostüm trage und in jemandes „Haut schlüpfe”, der einen Psychiater spielt – als Beispiel für eine therapeutische Intervention, damit die Leute über Interventionen nachdenken, die über das Medizinische und Psychologische hinausgehen. Sie mussten auch lachen. Um die Lächerlichkeit der Behauptung von Psychiatern zu illustrieren, Ketchup auf dem Arm könne jemanden von Selbstverletzungen abhalten, machte ich daraus einen „wissenschaftlichen” Test (wobei das Wissenschaftliche dabei natürlich der weiße Kittel war). Eine Freiwillige ließ mich netterweise Ketchup auf ihren Arm spritzen, und sie versicherte mir, das würde ihr nicht helfen, ihre Selbstverletzungen in den Griff zu kriegen. Die Schlussfolgerung des Experiments war also: Ketchup gehört auf Pommes.

Ein weiteres Beispiel seltsamer Behandlungsformen für Selbstverletzungen, das ich auf einer Präsentation illustrierte, war die Idee, jemandem Wasser über den Kopf zu gießen, in eine Pfeife zu blasen und zu rufen: „Stopp, Stopp, du wirst dich nicht selbst verletzen!”. Ich blies also die Pfeife, rief den Satz und goss Wasser über meinen Kopf. Aber ich wusste, ich kann das nur machen, wenn ich dabei Nase, Brille und Schnurrbart von Groucho Marx trage. Die Leute merken sich den Bezug, weil sie sich an die begleitende Handlung erinnern. Was sie allerdings nicht merkten, war, dass mir das Wasser sofort den Rücken runterlief und ich den ganzen Tag mit nassem Schlüpfer herumlaufen musste. Was man für Aktivismus nicht alles tut…

Viele Überlebende benutzen Kunst als Teil ihres Aktivismus, um etwas rüberzubringen. Von der Verunstaltung der Plakate von Pharma-Unternehmen oder Straßentheater als Protest, bis hin zu Trainings für das „Stimmen hören”, bei dem Menschen in Rollenspielen als Stimmen agieren oder Selbstverletzungstrainings, bei dem die Teilnehmer die Erfahrung machen sollen, sich gegenseitig „genau zu beobachten”. Kreativität und Kunst können in Schulung und Ausbildung viel bewirken und machen den Prozess eben um jenes bisschen bunter, angenehmer und leichter zu behalten. Psychiatrie, Psychologie und Pflege haben bei der Erklärung menschlicher Probleme ihre Grenzen, während die Kunst unsere eigene Wahrheit erzählt und nicht eines anderen Version oder Interpretation unserer Wahrheit. Unsere Worte werden in Bewertungen neu geschrieben, aber Kunst lässt sich nicht so ohne weiteres neu schreiben, und wir brauchen dafür keine Beweisgrundlage (hurra, kann man da nur sagen). Medizin- und Pflegeschulen fangen an, die Kunst Überlebender in der Lehre zu verwenden, weil dies dazu ermuntert, Erfahrungen auf eine andere Art und in einem anderen Rahmen oder Bezugssystem wahrzunehmen. Sie kann ein wirkungsvolles Instrument sein, die Wahrnehmung zu erweitern und Menschen auf eine andere Art als nur durch akademische Berichte oder Statistiken zu erreichen.

Als ich die Tanz-DVD „Dedication to the Seven: Hearing Voices in Dance” und das Begleitbuch produziert habe [‎[3]], war das für mich keine Therapie, noch war es meine Recovery. Vielmehr eröffnete es neue Möglichkeiten, über die Stimmen, die ich höre und sehe, zu sprechen, ihnen eine körperliche „Gestalt” zu geben, die ich anderen mitteilen kann. Allerdings muss ich mich einigen meiner Dämonen stellen, um tanzen zu können. Ich zahle also einen gewissen Preis, aber der Nutzen ist für mich groß genug, um das in Kauf zu nehmen. Den Unterricht zu besuchen, ist für mich nicht leicht, denn wegen meiner Stimmen kann ich manchmal den Lehrer kaum hören. Einmal hat er irgendwie gemerkt, dass ich ihn nicht höre und hat sich vor mich gestellt und mich am Arm gefasst, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen. Er war kein Therapeut. Er hat es gemerkt, weil er einfach die Fähigkeit dazu hatte. Der Unterricht kann mich wegen der geistigen Anstrengung, die er erfordert, für den Rest des Tages komplett erledigen. Im Gegensatz zu manchen Stars, die gerne erzählen, wie sehr sie zur Ausübung ihrer Kunst ihre Verrücktheit brauchen, tötet bei mir akuter Stress die Kreativität ab.

Allgemeiner Aktivismus, Unterstützung von Gleichgesinnten, eine Handvoll kritisch denkender Fachleute und ein paar Leidenschaften in meinem Leben haben für mein Überleben gesorgt (obgleich ich nicht glaube, dass es die Anforderungen der Definition von „Recovery” erfüllen würde). Ich war schon kreativ, bevor ich verrückt wurde, also vergessen Sie die romantische Vorstellung, dass künstlerisches Genie und Wahnsinn miteinander verknüpft sind, so wie ich die vereinfachte Vorstellung ablehne, dass Kunst eine weitere Therapieform sei, so wie Verhaltenstherapie. Ich arbeite gerade an einem neuen Tanzfilm zum Thema Katatonie, der meine Beschreibung in Kontrast zu den klinischen Beschreibungen stellt. Der Tanz soll versuchen, den Aufruhr zu zeigen, der unter der Ruhe stattfindet. Eine Freundin hat mich gefragt: „Wie kannst du einen Tanz über Katatonie machen, wenn du dich nicht bewegst?” Ich sagte ihr, sie solle sich einen Vogel vorstellen, der über einen See gleitet. Sein oberer Körper scheint in Ruhe zu verharren, gleichzeitig wissen wir aber, dass seine kleinen Füße darunter wie wild paddeln. Das ist es, was ich hoffe, vermitteln zu können. Ich freue mich auf den Tag, an dem bei einer Diskussion auf einer Psychiatrie-Konferenz jeder seinen Standpunkt singen oder tanzen muss, denn ich glaube, wir alle müssen die Kreativität in uns entdecken.

Der Artikel ist zuerst erschienen im „Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing” 2007, 14.Jg., S.768-770. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages Blackwell Publishing Ltd.

Übersetzung aus dem Englischen: Uwe Gerritz

Literatur

  • Mental Health Media Electric Apple. CD-ROM. Mental Health Media. 2002
  • Pembroke L. Self-Harm: Perspectives from Personal Experience. Survivors Speak Out, London (but is currently only available from Mind) 1994
  • Pembroke L. Dedication to the Seven: Hearing Voices in Dance. DVD and booklet. Mind Publications, London. 2005

L. Pembroke

London

Email: loopy@theqsychotic.org.uk

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