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DOI: 10.1055/s-0029-1224599
© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York
Wille, Schuld und Störung
Kommentar zu den Überlegungen von Peer Briken sowie von Peter Fromberger und Jürgen L. MüllerPublikationsverlauf
Publikationsdatum:
15. September 2009 (online)

In Peer Brikens Beitrag „Wie frei ist der Mensch mit Paraphilie?“ geht es um die Frage, wann sexuelle Motive und die mit ihnen unter bestimmten Umständen verbundene Beziehungsfeindlichkeit die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und die Entscheidungsfreiheit in einem derartigen Ausmaß stören, dass das Individuum nicht mehr „Herr im eigenen Haus“ ist. Die Frage ist also, wann das Individuum keinen Entscheidungsspielraum mehr hat, keine alternative Handlungsweise mehr erdenken und durchführen kann, beziehungsweise sich nicht mehr als Urheber seiner Handlungen begreift, sondern sich selbst „wie ferngesteuert“ erlebt. Es ist einzusehen, dass Richter genau diese Frage beantwortet haben wollen, um entscheiden zu können, ob sie Täter für ihr Handeln verantwortlich machen (schuldig sprechen) oder für die Handlungen vielfältige Umstände ursächlich in Betracht zu ziehen haben – wann also kein „menschliches Versagen“ vorliegt.
Briken führt klar aus, dass diese Frage eine objektive von außen relativ leicht beurteilbare Seite hat (z. B. Feststellung von Krankheiten, die Hirnleistungen beeinträchtigen) und eine sehr subjektive, das Erleben des betroffenen Täters nachempfindende Seite. Da speziell die zweite Seite immer nur in Annäherung erreichbar ist, gibt es in der forensischen Psychiatrie eine Reihe von diagnostischen Perspektiven, die einen indirekten Blick in das subjektive Erleben des betroffenen Täters ermöglichen sollen und die zu untereinander vergleichbaren Ergebnissen in diesem subjektiven Prozess des Verstehens von Motiven führen sollen. Dazu gehören bei Pädophilen die Schwere der gleichzeitig bestehenden Bindungsstörung, die Einschätzung der Fähigkeit zur Selbst- und Objektwahrnehmung, das Ausmaß der allgemeinen Impulsivität und einiges mehr.
Besonders wichtig in Brikens Beitrag ist seine Beobachtung, dass man raffinierte Tatvorbereitung, planmäßiges Vorgehen oder besonders lang hingezogenes Tatgeschehen – was bei Affekttaten als Zeichen erhaltener kognitiver Kontrolle gilt – bei Phänomenen wie Pädophilie oder auch Sadismus eben nicht als Zeichen besonderer Selbstkontrolle und Freiheit zur Entscheidung werten kann, da hier der Handlungsspielraum von ganz anderer Seite eingeschränkt ist, nämlich von einem dauernd wirksamen Drang, der zwar aufgeschoben aber nicht aufgegeben werden kann. Zur Abschätzung der unwiderstehlichen Kraft dieses Dranges werden seit Hans Gieses Zeiten Kriterien wie die suchtartige Progredienz des Dranges in der Rechtssprechung angeführt, aber auch noch andere, wie sie in den „Mindestanforderungen an Schuldfähigkeitsbegutachtungen“ von einer Expertenkommission festgelegt wurden (Bötticher et al. 2005).
Peter Fromberger und Jürgen L. Müller weisen mit Recht darauf hin, dass die Kriterien der Schuldfähigkeit in der Forensik nicht ohne weiteres mit dem geisteswissenschaftlichen Konstrukt der Willensfreiheit gleichzusetzen sind, obwohl es natürlich manche Überschneidungen gibt (z. B. in der Erfassung des Entscheidungsspielraumes – andere Handlungsweisen sind prinzipiell möglich – und in der Erfassung der Selbstkontrolle).
Die Willensfreiheit ist prinzipiell ein nur subjektiv erfassbarer Begriff, dem nur hermeneutisch in einer auf innere Konsistenz und Verstehen aufgebauten Wissenschaft nachgegangen werden kann. Die forensische Wissenschaft hat sich darauf geeinigt, bei bestimmten vorliegenden Zeichen einer Beeinträchtigung von Entscheidungsspielraum und Kontrolle durch benennbare Störungen von verminderter oder aufgehobener Schuldhaftigkeit auszugehen. Sollten die empirischen Wissenschaften neue Zeichen einer solchen Beeinträchtigung finden (z. B. durch bildgebende Verfahren), dann bedarf es noch eines weiteren Schrittes, nämlich eines neuen Meinungsbildungsprozesses unter Experten, um die Bedeutung dieser Zeichen für die Willensbildung des Individuums abzuschätzen. Hier spielen wieder vergleichende hermeneutische Prozesse eine Rolle.
Das bei Fromberger und Müller angeführte Beispiel von der Insel, auf der heterosexueller Geschlechtsverkehr aufgrund einer gesellschaftlichen Übereinkunft als obsolet gilt, und auf der man als heterosexuell empfindender Mensch plötzlich in die Lage versetzt wird, etwas, was man subjektiv als völlig normal empfindet, unterdrücken zu müssen, hat mich aus mehreren Gründen nicht überzeugt. Natürlich hat uns gerade der Umgang mit der Homosexualität im Rechtssystem der letzten hundert Jahre manche Lektion erteilt – aber ist denn Homosexualität mit pädosexueller Orientierung wirklich gleichzusetzen? Schon Krafft-Ebing war ganz anderer Meinung, weil er wusste (und wir haben inzwischen viele empirische Belege dafür), dass ein Großteil pädosexueller Übergriffe keineswegs mit einer dauernden sexuellen Orientierung auf Kinder einhergeht, sondern eher einem „Ausweichen“ in partnerschaftlichen Konfliktsituationen entspricht. Aber selbst bei den seit der Pubertät erotisch auf Kinder ausgerichteten Männern besteht oft gleichzeitig das Bewusstsein einer tragischen Unvereinbarkeit eigener und kindlicher sexueller Bedürfnisse. Im Gegensatz zur Homosexualität, wo Gegenseitigkeit der Bedürfnisse kein Problem darstellt, geben auch sehr überzeugte Pädophile zu, dass eine solche Gegenseitigkeit mit einem Kind wenn überhaupt nur äußerst selten erreichbar ist (vgl. Berner und Hill 2004; Berner 2002).
Mir erscheint die ganze Debatte um Willensfreiheit und Schuldfähigkeit gerade in den deutschsprachigen Rechtssystemen deutlich überzogen. Man könnte über weite Strecken auf sie verzichten. In einer vergleichenden Studie über Gesetzgebung und Praxis der Unterbringung psychisch gestörter Rechtsbrecher in Europa machen Salize und Dressing (2005) deutlich, dass Länder, deren Rechtssysteme sich weniger vom römischen Recht ableiten als beispielsweise das deutsche, wesentlich pragmatischer mit der Schuldfrage umgehen. Im englischen, walisischen, irischen aber auch in einigen skandinavischen Systemen (Schweden und Dänemark) spielt die Schuldfrage nur beim Homizid eine bedeutende Rolle. In allen anderen Fällen entscheidet der Grad der Störung und die der Störung angemessene Behandlungsmethode über Therapie und Unterbringung (high, medium and low security placement). Sollten krankhafte Störungen eine Unterbringung erforderlich erscheinen lassen, dann werden Sicherheitsfragen und Unterbringungszwang nicht anders gehandhabt als bei zivilrechtlich untergebrachten Patienten ohne Straftat. Im Hinblick auf die dann tatsächlich verordneten und durchgeführten Therapien und Unterbringungen scheinen sich die Rechtssysteme viel weniger zu unterscheiden als im Bereich der damit verbundenen Rechtsprozeduren und Sanktionen, beziehungsweise der rechtlichen und medizinischen Kontrollsysteme, die dann für Entlassungen verantwortlich sind (Salize und Dressing 2005). Vielleicht würde sich das ändern, wenn auch auf dem Gebiet des Rechts wissenschaftliche Vergleiche zwischen den Ländern Europas mehr Förderung erhielten. Die Datenlage darüber ist nämlich dürftig.
Literatur
- 1 Berner W. Pedophilic sexual orientation: A fuzzy expression. Arch Sex Behav. 2002; 31 480-481
- 2 Berner W, Hill A. Pädophilie – eine sexuelle Orientierung?. In: Richter-Appelt H, Hill A, Hrsg. Geschlecht zwischen Spiel und Zwang. Gießen: Psychosozial, 2004; 153–177
- 3 Bötticher A, Nedopil N, Bosinski H AG et al. Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten. NStZ. 2005; 25 57-120
- 4 Salize H J, Dressing H. Placement and Treatment of Mentally Disordered Offenders – Legislation and Practice in the European Union. Groß Umstadt: Pabst Science Publishers, 2005
Prof. Dr. W. Berner
Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie · Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Martinistraße 52
20246 Hamburg
eMail: berner@uke.uni-hamburg.de