Z Sex Forsch 2009; 22(3): 189-206
DOI: 10.1055/s-0029-1224588
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Rat und Wissen suchen in Zeiten von Aids

Zwei Briefkorpora aus den Jahren 1983–1995 im Vergleich[1] Peter-Paul Bänziger
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Publication Date:
15 September 2009 (online)

Überblick:

Der Beitrag untersucht Briefe mit Ratgesuchen zur Aids-Thematik, die zwischen 1983 und 1995 bei zwei Beratungsinstitutionen eingingen. Es handelt sich um die Aids-Hilfe Schweiz und um die „Liebe Marta“, die Kolumne der bekannten Ratgeberin Marta Emmenegger, die seit 1980 beinahe täglich im Blick, der auflagenstärksten schweizerischen Tageszeitung, publiziert wurde. Es kann gezeigt werden, dass der Einfluss der jeweiligen konkreten Beratungsinstitutionen auf die Inhalte der Briefe sehr gering ist. Die Anforderungen der Beratungskommunikation allgemein werden jedoch zumindest in formaler Hinsicht eingehalten. Zugleich wird deutlich, dass sich – zumindest bei biopolitisch relevanten Themenbereichen wie Aids – das behandelte Thema auf die Form der Kommunikation selbst auswirkt. Im Zusammenhang mit der „Aids-Krise“ verliert Beratungskommunikation ihren tendenziell offenen, kritischen Charakter und reduziert sich hauptsächlich auf die Diffusion von und Suche nach normativem Wissen.

1 Dieser Text präsentiert teilweise Ergebnisse eines vom Schweizerischen Nationalfonds SNF geförderten Forschungsprojekts (vgl. Bänziger 2008). Ich danke Julia Stegmann und Annika Wellmann für Hinweise und Kommentare, Roger Staub für die Bereitschaft, meine Fragen zu beantworten. Für die Möglichkeit, in ihren Archiven zu recherchieren, bin ich ferner der Aids-Hilfe Schweiz, der Zürcher Aids-Hilfe, dem Bundesamt für Gesundheit sowie dem Verlagshaus Ringier zu Dank verpflichtet.

Literatur

1 Dieser Text präsentiert teilweise Ergebnisse eines vom Schweizerischen Nationalfonds SNF geförderten Forschungsprojekts (vgl. Bänziger 2008). Ich danke Julia Stegmann und Annika Wellmann für Hinweise und Kommentare, Roger Staub für die Bereitschaft, meine Fragen zu beantworten. Für die Möglichkeit, in ihren Archiven zu recherchieren, bin ich ferner der Aids-Hilfe Schweiz, der Zürcher Aids-Hilfe, dem Bundesamt für Gesundheit sowie dem Verlagshaus Ringier zu Dank verpflichtet.

2 Das Projekt „Liebe Marta. Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion sexueller Selbstverhältnisse im Blick (1980–1995) und in aktuellen Internetforen“ befindet sich zur Zeit in der Abschlussphase.

3 Briefe aus Deutschland erhielt die „Liebe Marta“ auch, weil ihre Kolumne zeitweise von der Münchner Abendzeitung übernommen wurde.

4 Korpus der „Lieben Marta“ (im Folgenden „LM“), Nr. 6206, 21.1.1987: 2. Die Orthographie und Zeichensetzung der Zitate folgt dem Original.

5 LM, Nr. 12763, 4.5.1990.

6 LM, Nr. 8281, 17.11.1987: 1 und 11.

7 LM, Nr. 13197, 20.5.1992: 1.

8 LM, Nr. 8284, 12.1.1988: 2.

9 LM, Nr. 13065, 11.10.1991.

10 Vgl. zu diesem Begriff und zur Abgrenzung von der Diskussion über die „neoliberale Gouvernementalität“ Lessenich 2008: 14 und 83 ff.

11 LM, Nr. 13305, 8.12.1986.

12 LM, ohne Nr., 13.7.1993.

13 LM, Nr. 13796, 15.10.1990.

14 LM, ohne Nr. (Dossier «Aids»), 9.2.1987.

15 LM, Nr. 154, 17.10.1985.

16 Diese Zahl dürfte zudem – relativ gesehen – eher hoch liegen, weil die Briefe zur vorliegenden Thematik gesondert gesammelt wurden und deshalb hier mit geringeren Verlusten zu rechnen ist.

17 So rechtfertigte ein Ratsuchender seinen Brief folgendermaßen: „Gestern habe ich im Fernsehen gehört, dass man sich bei Aids-Problemen an Sie wenden kann“ (Staatsarchiv Zürich (im Folgenden StAZH), W II 15 2001 / 041.78, Brief vom 3.7.1985; vgl. auch StAZH, W II 15 2001 / 041.81, Brief vom 28.1.1987).

18 Die AHS verstand sich als nationale Dachorganisation, die strategische Aufgaben wahrnahm, während die lokalen Aids-Hilfen für die Beratung und die Betreuung von Kranken zuständig waren. Vgl. StAZH, W II 15 2001 / 041.5, Leitbild (1987): 6.

19 Für die weiteren Jahre sieht die Verteilung folgendermaßen aus: 1984: 2, 1985: 7, 1986: 13, 1988: 20, 1989: 14, 1990: 13, 1991–95: 18 („Liebe Marta“); 1985: 5, 1986: 40; 1988: 20, 1989–92: 5 (AHS).

20 Hierbei handelt es sich selbstverständlich um die im Archiv erhaltenen Dokumente. Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass in großem Umfang Material verloren gegangen oder nicht mehr gesammelt worden wäre.

21 Vgl. ZAH, Erster Geschäftsbericht 1985 / 86, 5; ZAH, Jahresbericht 1987: 12; ZAH, Jahresbericht 1988: 12; ZAH, Jahresbericht 1989: 12 (alle in: Archiv der ZAH, Jahresberichte 1985–1989, ohne Signatur). Auch die Zahl der telefonischen Beratungen der ZAH erreichte in den Monaten Januar und Februar 1987 einen absoluten Höhepunkt.

22 Vgl. ZAH, Jahresbericht 1987: 12 (Archiv der ZAH, Jahresberichte 1985–1989, ohne Signatur).

23 Ebd.

24 StAZH, W II 15 2001 / 041.81, Brief vom 23.1.87: 1.

25 StAZH, W II 15 2001 / 041.81, Brief vom 23.1.87. Mit dem Stichwort „Sandoz“ spricht die Verfasserin den verheerenden Brand einer Basler Chemiefabrik am 1. November 1986 an. Damals gelangten tausende von Kubikmetern mit Chemikalien angereicherten Löschwassers in den Rhein.

26 StAZH, W II 15 2001 / 041.79, Brief vom 10.2.87.

27 „[…] non vengono più obbligati a sottoporsi ad un esame del sangue“ (StAZH, W II 15 2001 / 041.79, Brief vom 6.3.87).

28 StAZH, W II 15 2001 / 041.89, Brief vom 1.6.1988 (Eingangsstempel).

29 LM, Nr. 4701, 29.6.87. Marta Emmenegger moderierte jeweils am Montagabend eine Beratungssendung („Sex nach Neun“) auf der privaten Zürcher Radiostation Radio Z.

30 Vgl. StAZH, W II 15 2001 / 041.95, Brief vom 21.3.86.

31 StAZH, W II 15 2001 / 041.78, Brief vom 11.7.86.

32 LM, Nr. 10624, 8.2.1980; dabei handelte es sich um die erste Kolumne der „Lieben Marta“ überhaupt.

33 5LM, Nr. 6003, Datum unbekannt; StAZH, W II 15 2001 / 041.79, undatierter Brief.

34 Vgl. Interview mit Roger Staub, geführt am 2.12.2008. Staub war bis 1986 Mitglied im Vorstand der AHS, nahm Ende 1986 Einsitz im „Kreativteam STOP AIDS“ und ist heute der Leiter der Sektion Aids im Bundesamt für Gesundheit.

35 LM, Nr. 6004, 3.3.1987.

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Dr. des. P.-P. Bänziger

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