Einleitung
Die erste Leitlinie zur Diagnostik und Therapie des Ulcus cruris venosum der Deutschen
Gesellschaft für Phlebologie wurde im Jahre 1996 veröffentlicht und war die Ausgangsbasis
für bislang zwei Überarbeitungen. Die erste Überarbeitung mündete in der ersten S3-Leitlinie
der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie. Die Arbeiten zu dieser nach Evidence based
Medicine (EbM)-Maßstäben erarbeiteten Version begannen im Frühjahr 2002 und endeten
nach zahlreichen Diskussionen in den eingebundenen Expertengremien im Frühjahr 2004.
Schließlich wurde die Leitlinie auf den Internetseiten der Deutschen Gesellschaft
für Phlebologie (DGP) und der Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlicher Medizinischer
Fachgesellschaften (AWMF) im Mai 2004 publiziert. Die in der zweiten Version vorgesehene
Überarbeitung und die zwischenzeitlich gewonnenen Erkenntnisse führten zu einer Revision
der bis Anfang 2008 publizierten Artikel zum Thema im Frühjahr 2008 und zu einer umfassenden
Überarbeitung der zweiten Leitlinienversion, die nach ausführlicher Diskussion in
der Expertenkommission und danach im Vorstand und Beirat der DGP im Konsens beschlossen
und für die Veröffentlichung freigegeben wurde. Diese letzte, neue Version ist auf
der Internetseite der DPG unter der URL: http://www.phlebology.de und auf den Leitlinienseiten
der AWMF unter der URL: http://www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/037-009.htm seit August
2008 veröffentlicht und somit öffentlich einsehbar.
Die neue Version der Leitlinie umfasst folgende Kapitel:
I.Vorbemerkungen
II.Definitionen
III.Epidemiologie und sozioökonomische Daten
IV.Pathophysiologie
V.Diagnostik
VI.Therapeutisches Vorgehen
VI.1.Medizinische Kompressionstherapie
VI.2.Operative Therapie
VI.3.Sklerotherapie
VI.4.Lokaltherapie
VI.5.Physikalische Therapie
VI.6.Systemische medikamentöse Therapie
VI.7.Schmerztherapie
VI.8.Behandlung exogen hemmender Einflüsse und von Komplikationen
VII.Körperbild, Erwerbstätigkeit und soziale Unterstützung, Depressionen und Angst
VIII.Wiederholungsbegutachtungen (Reassessment) und Nachfolgebehandlung
IX.Implementierung der Leitlinie in den klinischen Alltag
X.Verantwortlichkeit der Entwicklung der Leitlinien zur Diagnostik und Therapie des
Ulcus cruris venosum
XI.Anmerkungen zur Aktualisierung 2008
XI.Anlagen
In den Anlagen finden sich
-
die Liste der Referenzquellen/Literatur, die mehr als 600 Literaturstellen aufweist,
-
das Kapitel 5.4 des Leitlinienmanuals der AWMF und der ÄZQ mit der Klassifikation
der Evidenz von Referenzquellen, die zur Evaluierung der Evidenz der Literatur verwendet
wurde,
-
die revidierte Version der „CEAP-Klassifikation” (C = Klinische Zeichen, E = Etiology,
A = Anatomie, P = Pathophysiologie) der Chronischen Venösen Insuffizienz (CVI),
-
die Stadieneinteilung der Chronischen Venösen Insuffizienz – CVI – nach der Widmer’schen
Klassifikation,
-
die „Nomenclature of the veins of the lower limbs: An international interdisciplinary
consensus statement”,
-
eine Tabelle: Wachstumsfaktoren, in denen die auf die Wundheilung Einfluss nehmenden
Wachstumsfaktoren näher erläutert werden,
-
sowie eine Liste wichtiger Internet-Links in Bezug auf die Leitlinien der Deutschen
Gesellschaft für Phlebologie zur Diagnostik und Therapie des Ulcus cruris venosum.
Folgende neuen Aspekte wurden in die neue Leitlinie aufgenommen
1. Epidemiologie und sozioökonomische Daten
Das Ulcus cruris venosum stellt mit 57 – 80 % aller chronischen Ulzerationen die häufigste
Ursache nicht spontan abheilender Wunden (arterielle Ulzerationen 4 – 30 %, gemischt
arterio-venöse Ulzerationen ca. 10 %, übrige Formen ca. 10 %). Die neuesten Studien
lassen darauf schließen, dass der Anteil von Ulzerationen multifaktorieller Genese
ansteigt.
Aufgrund der vorhandenen Datenlage kann die jährliche Inzidenz venöser Ulzerationen
auf 15 – 30 pro 100 000 Personen geschätzt werden.
Nicht-Heilen ist mit folgenden Faktoren assoziiert: frühere chirurgische Eingriffe,
Anwesenheit von insuffizienten Venae perforantes, Reflux in den Leitvenen, höheres
Patientenalter, Rezidiv-Ulkus, Ausmaß des Ödems, Dauer der CVI, Dauer des aktuellen
Ulkus, Größe des Ulkus. Die initiale Größe des Ulkus ist der beste Indikator der Zeit
bis zur Abheilung.
Die beachtliche sozioökonomische Bedeutung der Chronischen venösen Insuffizienz ist
bedingt durch die hohe Anzahl der Erkrankten, die Kosten der Untersuchungen und Behandlungen,
die Verschlechterung der Lebensqualität und die Einbuße von Arbeitsfähigkeit während
der Erkrankung. Das Problem ist verschärft durch die Tatsache, dass die Erkrankung
progredient verläuft und zu Rezidiven neigt. Schätzungen der jährlichen Gesamtkosten
der CVI variieren zwischen 600 bis 900 Millionen € in Westeuropäischen Ländern, entsprechend
1 – 2 % des gesamten Gesundheitssystem-Budgets, bis 2,5 Milliarden € (3 Milliarden
US $) in den USA. Viele der Kostenangaben basieren auf Schätzungen und Vergleiche
sind schwierig, weil es keine allgemein gültige bzw. anerkannte Definition der Kosten
gibt.
2. Diagnostik
Zur Beschreibung der Ursache und Ausprägung der venösen Insuffizienz soll nun regelhaft
die CEAP-Klassifikation verwendet werden, auch die empfohlene Diagnostik ist nun CEAP-Stadien-adaptiert.
Als Standard-Diagnostikum bei abgeheilter und aktiver Ulzeration ist die (farb-kodierte)
Duplex-Sonografie anzusehen. Bzgl. der Anamneseerhebung und auch weitergehender serologischer
Diagnostik wird auf den hohen Prozentsatz von Ulcus cruris venosum-Patienten mit Thrombophilie
verwiesen.
3. Therapeutisches Vorgehen
3.1 Kompressionstherapie
Die Kompressionstherapie ist weiterhin zusammen mit der Bewegung Grundlage nicht invasiver
Maßnahmen. Sie kann alleine bzw. in Kombination mit invasiven Maßnahmen angewendet
werden. Es konnte in verschiedenen unabhängigen Studien gezeigt werden, dass eine
konsequente Kompressionstherapie die Abheilung von venösen Ulzera beschleunigt und
die Rezidivrate deutlich reduziert. Mit zunehmendem Arbeitsdruck der Kompressionsverbände
und/oder Kompressionsstrümpfe steigt dabei die Abheilungs- und sinkt die Rezidivrate.
Beim Ulcus cruris venosum hat sich der Kompressionsstrumpf zunehmend auch primär in
der Therapie bewährt. Zahlreiche Studien konnten zeigen, dass die Lebensqualität (LQ)
während einer Kompressionstherapie verbessert ist.
3.2 Operative Therapie
Die Ausschaltung epifaszialer Varizen an Beinen mit venöser Ulzeration führt im Vergleich
zur rein konservativen Therapie zu einer beschleunigten Abheilung der Ulzerationen,
zu einer höheren Abheilrate und zu einer verringerten Rezidivrate. Vom theoretischen
Standpunkt ist es bezüglich der Verbesserung der Hämodynamik unerheblich, welches
invasive Verfahren genutzt wird, um epi- und transfasziale Refluxwege auszuschalten.
Prinzipiell kommen folgende Verfahren in Frage:
-
Die chirurgische Entfernung und/oder Unterbrechung mittels Skalpell, Ligatur, Kryosonde,
Zange, Sonden. Hierzu liegen die meisten und langjährigsten Erfahrungen vor.
-
Die verschließenden/sklerosierenden Verfahren durch Verwendung endovaskulärer Laser,
endovaskulär applizierter Hoch- (Radio-)Frequenz und durch endovaskuläre Applika-tion
von irritierenden chemischen Substanzen (Sklerotherapie im engeren Sinne). Bei den
sklerosierenden Verfahren liegen die meisten und langjährigsten Erfahrungen bei der
endovaskulären Applikation von irritierenden chemischen Substanzen vor.
Vom praktischen Standpunkt hat jedes Verfahren Vor- und Nachteile bezüglich der Belastung
durch Einbringen potenziell gefährlicher Chemikalien, durch evtl. notwendige lokal
und/oder systemisch wirkende Analgetika bzw. Narkotika, die Länge des operativen Eingriffes
und das Ausmaß der Gewebetraumatisierung.
Das intra- und perioperative Risiko im Rahmen operativer Verfahren bei multimorbiden
Patienten ist von nicht unwesentlicher Bedeutung bei der Abwägung von Vor- und Nachteilen
im Rahmen der Behandlung von venösen Beinulzera. Je höher die Komorbidität der betroffenen
Patienten ist, desto eher sollte an die Möglichkeit geringer invasiver Verfahren in
der Beseitigung oberflächlicher wie transfaszialer Refluxstrecken gedacht werden.
Bzgl. der operativen Behandlung des Ulcus cruris-Bereiches selbst ist die sogenannte
„Shave”-Therapie weiterhin die operative Methode der Wahl des therapieresistenten
Ulcus cruris venosum.
3.3 Lokaltherapie
Eine optimierte kausale Therapie und eine die Wundheilung nicht störende (z. B. durch
Traumatisierung des Wundbettes) Wundauflage reichen in der Regel aus, um die Wundheilung
anzuregen und das Ulkus zum Abheilen zu bringen. Eine prinzipielle Überlegenheit einer
bestimmten Wundauflage gegenüber anderen wurde bislang nicht gefunden. Ein genereller
Vorteil von Wundauflagen, die ein sogenanntes „feuchtes Wundmilieu” (feuchte Wundbehandlung)
ermöglichen, ist belegt. Einigkeit herrscht allgemein über die Anwendung feuchthaltender
Verbände und auch über die Notwendigkeit eines entsprechenden Gleichgewichts im Feuchtigkeitsgehalt
des Verbandes. Es besteht zudem Evidenz, dass die Schmerzhaftigkeit venöser Ulzera
unter hydrokolloidalen und Schaumstoff-Wundverbänden geringer ausgeprägt ist.
Zahlreiche neue Aspekte und Lösungsvorschläge bzgl. der Lokaltherapie werden kritisch
betrachtet: kollagenhaltige Wundauflagen, Amelogenin, (Manuka) Honig, Wasserstoffperoxid,
Applikation von polarisiertem, polychromatischem, nicht-kohärentem Licht, Applikation
gepulster elektromagnetischer Felder oder von gepulstem Gleichstrom, Applikation von
Ultraschall und die Topische Unterdruckbehandlung TNP.
3.4 Systemische medikamentöse Therapie
Auch für Iloprost in Kochsalz als Infusion über 3 Wochen und für Rosskastanienextrakt
wurde eine in RCTs nachgewiesene Verbesserung der Abheilung nachgewiesen. Diese war
zuvor schon bekannt für: ASS, Pentoxiphyllin, Prostaglandin E1, Diosmin-/Hesperidin,
Kumarin-/Troxerutin, Sulodexide.
3.5 Schmerztherapie
Ein signifikanter Anteil von Patienten (⅔ aller Patienten mit venöser Ulzeration)
leidet an ausgeprägten Schmerzen, sie weisen dadurch eine ausgeprägte Minderung ihrer
Lebensqualität auf. Schmerz liegt bei den subjektiv empfundenen Leiden dabei an erster
Stelle. Folgen dieser Schmerzen sind Einschränkungen der Motilität wie Mobilität und
Einschlaf- wie Durchschlafstörungen. Es treten ausgeprägte Einschränkungen des Soziallebens
und des Berufslebens auf, so müssen die Hälfte der Patienten ihre Berufstätigkeit
krankheitsbedingt niederlegen und noch mehr sind in der Ausübung ihrer Freizeitaktivitäten
behindert, auch sind Körperbild und vitale Körperdynamik negativ beeinflusst. 50 %
aller Patienten mit starken Schmerzen durch venöse Ulzerationen nehmen aber nur milde
oder gar keine Analgetika ein. Die komplexe, kausale Therapie der venösen Erkrankung
mit dem Ziel der Abheilung der Ulzeration ist die effektivste Schmerztherapie. Eine
die kausale Therapie begleitende, dem Typ und der Stärke der Schmerzen des Patienten
angepasste Schmerztherapie ist aber indiziert, um die schmerzbedingte Mobilitätseinschränkung,
Schlafstörungen und andere schmerzbedingte Lebensqualitätseinschränkungen zu verbessern.
Bezüglich der Schmerzreduktion im Rahmen der Lokalbehandlung sei auf die diesbezüglichen
Empfehlungen weiter oben verwiesen; eine adäquate Lokaltherapie wird zugleich schmerzlindernd
sein. Die Art des Wundverbandes entscheidet auch über die Schmerzen beim Verbandwechsel.
Hier haben sich Verbände in Bezug auf Wundschmerz und Wundumgebungstraumatisierung
überlegen gezeigt, die wenig adhäsiv sind.
3.6 Behandlung exogen hemmender Einflüsse und von Komplikationen
Eine an die jeweilige individuelle Situation angepasste nicht medikamentöse und ggf.
zusätzlich medikamentöse Thromboseprophylaxe ist von herausragender Bedeutung bei
Ulcus cruris-Patienten, da tiefe Venenthrombosen an den Beinen mit einer gravierenden
Verschlechterung bezüglich der Schwere der Venösen Insuffizienz verbunden sind. Die
Abheilung bestehender Ulzerationen verschlechtert sich, die Rezidivquote abgeheilter
Ulzerationen erhöht sich. Zu bedenken ist hierbei, dass ein hoher Anteil der Patienten
mit venöser Ulzeration an einer hereditären Thrombophilie leidet. Weiter zu bedenken
ist, dass vorangehende Phlebothrombosen an sich mit einem gegenüber Venengesunden
deutlich (∼ 8-fach) gesteigerten Risiko, erneut Phlebothrombosen zu erleiden, verbunden
sind.
4. Körperbild, Erwerbstätigkeit und soziale Unterstützung, Depressionen und Angst
Die zustimmende Körperbewertung und die vitale Körperdynamik sind bei Patienten mit
venösem Ulkus durch das venöse Ulkus ausgeprägt zum Negativen hin verändert. Die Beeinträchtigung
ist fast so stark wie bei psychosomatischen Erkrankungen, wobei festgestellt werden
muss, dass rein somatische Erkrankungen das Körperbild im Vergleich am geringsten
und psychosomatische Erkrankungen am stärksten negativ beeinträchtigen.
Im Erwerbsleben stehende Patienten mit venöser Ulzeration leiden signifikant weniger
an der Beeinträchtigung der vitalen Körperdynamik als Patienten, die nicht erwerbstätig
sind. Dies spricht dafür, alles zu tun, was möglich ist, um die Erwerbstätigkeit zu
erhalten bzw. sie wiederherzustellen.
Etwa Œ aller Patienten mit venösen Ulzerationen leiden an Depressionen und Angst,
wobei diese Problematik mit der Stärke des Wundschmerzes und Wundgeruches korreliert.
5. Wiederholungsbegutachtungen (Reassessment) und Nachfolgebehandlung
Infolge der ausgesprochen hohen Rezidivquote venöser Ulzerationen (60 – 75 %) ist
in Abhängigkeit von der Sanierung des zugrunde liegenden Krankheitsbildes eine konsequente
Weiterbetreuung des Patienten auch nach der Abheilung der Ulzeration(en) wünschenswert.
Eine allgemeingültige Standardlösung zur Förderung der Compliance gibt es nicht, es
müssen Personen- und Situations-bezogene Lösungen gesucht werden. Die Betreuung von
Patienten mit einem aktiven oder abgeheilten Ulcus cruris venosum in darauf spezialisierten
Einrichtungen reduziert die Rezidivhäufigkeit.