ergoscience 2010; 5(1): 1-2
DOI: 10.1055/s-0028-1109987
Gasteditorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gasteditorial

B. Stubner1
  • 1Bildungskonzepte für Gesundheit und Ethik
Further Information

Birgit M. Stubner M. A.

Bildungskonzepte für Gesundheit und Ethik

Schedelstr. 37

90480 Nürnberg

Email: Ria.Stubner@web.de

Publication History

Publication Date:
15 January 2010 (online)

Table of Contents

Zusammendenken, was zusammen gehört: Ethik, Geschichte und Theorie in der Ergotherapie

Die aktuellen Entwicklungen und Fragen rund um den Aufbau primärqualifizierender Studiengänge in den Gesundheitsfachberufen fordern nachhaltige Überlegungen zur Fachsystematik, zu spezifizierbaren Kernkompetenzen und umsetzbaren Curricula in plausiblen Qualifikationsrahmen heraus. Für die an der Lebenswelt orientierte Ergotherapie scheint es in diesem Zusammenhang sinnvoll, von Beginn an einen Zusammenhang zwischen Ethik, Geschichte und Theorie des Berufes anzunehmen und mitzudenken. Verankert im Wissenskanon der Ergotherapie könnte dies den Beruf zunehmend als praktisch ausgerichtete Disziplin, akademische Wissenschaft und wertvolle Institution im Gesundheitswesen nach innen und außen sichtbar machen.

Die Argumente einer gleichberechtigten Fächertrias von Ethik, Geschichte und Theorie in der Ergotherapie können an dieser Stelle nicht ausführlich entfaltet, ihre Implikationen und durch sie eröffnete Handlungsoptionen nicht eingehend beleuchtet werden. Es soll vielmehr nachdrücklich angeregt werden, eine fachöffentliche Auseinandersetzung hierzu zu führen. Wie wichtig und erhellend die wechselseitige Befruchtung von historischen, theoretischen und ethischen Erkenntnissen für den Fortgang der Professionalisierung der Ergotherapie ist, mag indes ein Beispiel aus dem Studium der deutschen Geschichte der Ergotherapie veranschaulichen.

Tradiert und zeitgemäß zugleich

Die Hannoveraner Psychiater Janz und Hillers haben bereits 1959 für das von Jentschura herausgegebene Lehrbuch „Beschäftigungstherapie – Einführung und Grundlagen” die Frage untersucht, was der Ergotherapie in ihren verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten als Gemeinsames zugrunde liegt, welche spezifische Aufgabe sie in der Gesundheitsversorgung übernimmt und wie die Wirkungsgrundlagen der Ergotherapie konzeptionell erfasst werden können ([2], S. 212 – 224). In ihrer Gedankenführung passiert dabei etwas sehr Interessantes: Zum einen wird als erkennbare Gemeinsamkeit der verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten der Beschäftigungstherapie in der damaligen Orthopädie, Tuberkulosebehandlung und Psychiatrie die „Betätigung [sic!] des Patienten” ([2], S. 213, Hervorhebung Stubner) markiert. Zum zweiten wird das „helfende Bemühen um die Persönlichkeit des Kranken” [2] auf der Grundlage eines „gesunden Betätigungstrieb[es] [sic!]” ([2], S. 215, Hervorhebung Stubner) als das alle Bereiche einende inhaltliche Wirkziel markiert. „[D]ie angehende Beschäftigungstherapeutin (…) muß sich (…) mit allem Ernst zu dem Bemühen aufgefordert wissen, die Individualität jedes Kranken einfühlend zu verstehen, sich mit ihr innerlich auseinanderzusetzen und sie mit einer Behandlungsart anzusprechen, die mehr und etwas anderes sein soll als bloße Ausfüllung der freien Zeit, zerstreuende Ablenkung oder mechanische Funktionskorrektur” ([2], S. 213). Zum dritten wird in einer vergleichenden Betrachtung zwischen historisch verankerter Arbeitstherapie Simonscher Prägung und „junger” Beschäftigungstherapie in der Psychiatrie eine Differenzierung der „Art der Betätigung [sic!] des Kranken” ([2], S. 217, Hervorhebung Stubner) herausgearbeitet. Diese kann einen Schwerpunkt auf „ästhetischem Sinngehalt” (als sinngebundene Tätigkeit, sinnbezogene Verrichtung) oder auf „praktischem Nutzzweck” (als zweckgebundene Tätigkeit, zweckbezogene Verrichtung) haben [2]. Dabei wird mit dem Begriff „Ästhetik” all das bezeichnet, „was der Mensch in sich selbst und in seiner Umwelt als eine sinnhaltige, über das bloß Zweckhafte hinausgreifende, lebendige Einheit tätig wahrnimmt” ([2], S. 218). Viertens wird betont, dass derlei ästhetische Erfahrung notwendig mit Unschöpferischem und Zweckgebundenem, mit Mühe, Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit einhergeht. Und fünftens schließlich werden die eigenen begriffstheoretischen Bemühungen vor dem Hintergrund „praktisch-organisatorischer” (Verwirklichung der therapeutischen Leistung), indikatorischer (Unterscheidung von Behandlungsarten) und evaluatorischer Gesichtspunkte (Untersuchung der Wirkungsgesetze) gerechtfertigt ([2], S. 218 – 219).

Verblüffendes erfahren

Verblüffend deutlich tritt uns hier nicht nur eine theoretische Vorleistung deutscher Genese entgegen, die Betätigung (!) als differenzierbares Mittel der Ergotherapie benennt und als komplexes Medium zur Gestaltung des benannten Wirkziels „Freiheit, Einheit und zugleich Bindung der Persönlichkeit” ([2], S. 224) charakterisiert, sodass sie implizit wiederum selbst zum eigentlichen Ziel der ergotherapeutischen Bemühungen gerät. Wir kennen derlei Ausführungen heute eher aus der englischsprachigen Literatur unserer Kollegen aus England, Amerika und Australien. In diesem historischen Text werden darüber hinaus vielfältige Werthaltungen und moralische Normen transportiert, die aus ethischer Perspektive einer eingehenden Betrachtung und Erwägung bedürfen, um das dahinter liegende Verständnis vom Menschen und von unserem Auftrag als (zwischenzeitlich institutionalisiertem) helfendem Beruf erfassen zu können.

Rhythmus und Entwicklung

Diese „Grundlagenarbeit” wurde übrigens 12 Jahre nach ihrem Erscheinen im Zusammenhang mit einer Bestandsaufnahme zur verberuflichten Ergotherapie und theoretischen Auseinandersetzungen um „Therapeutische Faktoren im Werken und Formen” [1] erneut abgedruckt. Da scheint es doch rhythmisch passend, sie knapp 12 Jahre nach der „Wieder”-Einführung des Begriffs der Betätigung als Platzhalter für Kernkonzeptdiskussionen [3] erneut ins berufliche Gedächtnis zu rufen – zumal auch die Diskussion um die Sinnhaftigkeit des Handwerks in der deutschen Ergotherapie eine „reformierende” Neuauflage erhält [4]… ’59 – ’71 – ’99 – 2011 … mit dem Herz in der Hand und der Leidenschaft im Bein werden wir … ;-)

Birgit M. Stubner
(Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats)

Zoom

Literatur

  • 1 Hils K. Therapeutische Faktoren im Werken und Formen. Wissenschaftliche Buchgemeinschaft Darmstadt; 1971
  • 2 Janz H W, Hillers F. Die Beschäftigungstherapie in der Psychiatrie. I. Allgemeine Grundlagen der Psychiatrischen Beschäftigungstherapie. Jentschura G Beschäftigungstherapie – Einführung und Grundlagen Stuttgart; Thieme 1959: 212-237
  • 3 Jerosch-Herold C. et al .Einführende Überlegungen. Übersetzung und Terminologie. Jerosch-Herold C Konzeptionelle Modelle für die ergotherapeutische Praxis. Erstauflage 1999 Heidelberg; Springer 2009 3. überarb. Aufl. XX – XXI
  • 4 Winkelmann I. (Hrsg). Handwerk in der Ergotherapie. Stuttgart; Thieme 2009

Birgit M. Stubner M. A.

Bildungskonzepte für Gesundheit und Ethik

Schedelstr. 37

90480 Nürnberg

Email: Ria.Stubner@web.de

Literatur

  • 1 Hils K. Therapeutische Faktoren im Werken und Formen. Wissenschaftliche Buchgemeinschaft Darmstadt; 1971
  • 2 Janz H W, Hillers F. Die Beschäftigungstherapie in der Psychiatrie. I. Allgemeine Grundlagen der Psychiatrischen Beschäftigungstherapie. Jentschura G Beschäftigungstherapie – Einführung und Grundlagen Stuttgart; Thieme 1959: 212-237
  • 3 Jerosch-Herold C. et al .Einführende Überlegungen. Übersetzung und Terminologie. Jerosch-Herold C Konzeptionelle Modelle für die ergotherapeutische Praxis. Erstauflage 1999 Heidelberg; Springer 2009 3. überarb. Aufl. XX – XXI
  • 4 Winkelmann I. (Hrsg). Handwerk in der Ergotherapie. Stuttgart; Thieme 2009

Birgit M. Stubner M. A.

Bildungskonzepte für Gesundheit und Ethik

Schedelstr. 37

90480 Nürnberg

Email: Ria.Stubner@web.de

Zoom