Pädiatrie up2date 2009; 4(2): 159-177
DOI: 10.1055/s-0028-1103425
Neuropädiatrie/Psychiatrie

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schizophrene Erkrankungen

Heiner  Meng, Barbara  Bailey
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Publication Date:
22 June 2009 (online)

Schizophrenie in der pädiatrischen Praxis?

Schizophrenien gehören nach wie vor zu den schwersten sowie medizinisch und volkswirtschaftlich teuersten psychischen Erkrankungen. Die Frage ist berechtigt, ob sich Pädiater mit diesem Thema belasten sollen, sind Schizophrenien doch die Erkrankung überwiegend erwachsenenpsychiatrischer Kliniken.

Abb. 1 Früherfassung und Frühintervention schizophrener Erkrankungen sind aus heutiger Sicht unabdingbar, um den Verlauf der Erkrankungen günstig zu beeinflussen. Quelle: Picture Press.

Prodromalstadien in der Adoleszenz. Die Häufigkeit schizophrener Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen beginnt nach der Pubertät stark anzusteigen [1]. Betrachtet man den weiteren Verlauf der Inzidenz psychotischer Erkrankungen im Erwachsenenalter, so fällt der Erkrankungsgipfel zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr auf (Abb. [2]). Bedenkt man, dass diesen Erkrankungen Prodromalsymptome um viele Jahre vorausgehen, entdeckt man leicht, dass diese Prodromalzustände typische Beeinträchtigungen der Adoleszenz sein müssen. Damit koinzidieren diese Vorstadien schizophrener Erkrankungen aber mit einem Lebensabschnitt, der bereits in normalen Entwicklungen anfällig ist für entwicklungspsychologische Auffälligkeiten postpubertärer Zustände. Da diese präschizophrenen Zustände in der Regel unspezifisch sind, wird leicht erkennbar, dass wir es mit besonderen differenzialdiagnostischen Herausforderungen zu tun haben.

Abb. 2 Alter beim Auftreten schizophrener Krankheitszeichen [2] a bei Männern und b bei Frauen.

Erstkontakt. Es ist ein Charakteristikum dieser Patienten, dass sie sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht primär an Kinder- und Jugendpsychiater, sondern an Pädiater und Allgemeinpraktiker wenden. Patienten haben, bevor sie in eine spezialisierte Behandlung kommen, durchschnittlich 2,38 Kontakte zu Helfern, wobei Helfer ohne psychiatrische Fachausbildung die größte Gruppe darstellen [3]. Dies gilt umso mehr, je unspezifischer die Symptome sind und je langsamer sich die Problematik entwickelt. Andererseits stellt dies eine Chance zur Früherfassung präpsychotischer Zustände dar.

Merke: Pädiater und Hausärzte genießen den Vertrauensvorsprung, der notwendig ist, um diesen verunsicherten Patienten den Weg in das spezialisierte Helfersystem zu ebnen, das kompetent mit der Störung umgehen kann.

Damit wird deutlich, dass das Thema präpsychotischer Zustände sehr wohl eine wichtige Frage für die pädiatrische Praxis ist.

Bedeutung der Früherkennung. Dass Früherfassung und ggf. Frühintervention aus heutiger Sicht unabdingbar sind, um einen günstigen Einfluss auf den Verlauf psychotischer Erkrankungen ausüben zu können, ist unbestritten. Ein verzögerter Behandlungsbeginn wurde mit den folgenden nachteiligen Faktoren in Zusammenhang gebracht:

Verzögerter Behandlungsbeginn Nachteile4

  • verzögerte und unvollständige Remission

  • längere Behandlungsdauer

  • mehr Rückfälle

  • geringere Compliance

  • höheres Depressionsrisiko

  • höheres Suizidrisiko

  • deutlich höhere Behandlungskosten

Adoleszenz als „Krankheit”?

Verstehen wir die Pubertät als die Phase der Transformation des Körpers in einen Zustand der Generativität, so lässt sich davon die Adoleszenz abgrenzen als der Lebensabschnitt, in dem sich das psychische Erleben an den postpubertär veränderten Körper anpasst. Die Adoleszenz tritt zeitlich verzögert zur Pubertät auf. Diese Zeitverzögerung führt zum typischen Zustand eines Adoleszenten, in dem er gezwungen ist, mit noch unreifen psychischen Strukturen in einem sexuell reifen Körper zu leben. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer relativen Ich-Schwäche.

Merke: Diese relative Ich-Schwäche führt einerseits zu den typischen Phänomenen wie postpubertäre Unsicherheiten und Auffälligkeiten im Verhalten und in der Befindlichkeit, aber andererseits auch dazu, dass Jugendliche in ihren Möglichkeiten überschätzt bzw. überfordert werden.

Im Zusammenhang mit unserem Thema führen die normalen Unsicherheiten und Schwankungen in der Entwicklung von Jugendlichen zu einer gefährlichen Konzeption der Adoleszenz als einem Lebensabschnitt, in dem die meisten Jugendlichen etwas auffällig sind. Nicht selten treffen dadurch Eltern, die mit einem auffälligen Kind Hilfe suchen, auf Helfer, welche die Auffälligkeiten auf normale postpubertäre Schwankungen zurückführen und zur Geduld auffordern. Dies kann sich im Nachhinein als ungünstiger Trugschluss herausstellen, wenn Monate später die Diagnose einer Psychose gestellt werden muss (Abb. [3]).

Abb. 3 Unsicherheiten und Schwankungen in der Pubertät können zu der falschen Vorstellung von dieser Phase als einem „quasi-pathologischen” Zustand verleiten. Ein verzögerter Behandlungsbeginn bei schizophren Erkrankten kann die Folge sein. Quelle: Photo Disc, Symbolbild. Auffälligkeit oder postpubertäre Schwankung? In einer eigenen Untersuchung sind wir dieser Frage vertieft nachgegangen und haben die Phase 6 – 12 Monate vor Inanspruchnahme jugendpsychiatrischer Hilfe einer Gruppe von schizophrenen Jugendlichen mit einer Gruppe von nicht-psychotischen, aber psychiatrisch auffälligen Jugendlichen sowie einer Kontrollgruppe von unauffälligen Schülern verglichen 5. Dabei zeigte sich bei einer Vielzahl von Parametern immer wieder ein ähnliches Bild, bei dem gesunde Jugendliche im Vergleich zu psychisch auffälligen Jugendlichen quasi symptomfrei waren. Für die Basissymptome (s. S. 163) zeigte sich einerseits ein ähnlicher proportionaler Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Erkrankung und der Anzahl der Basissymptome in den sechs Monaten vor Inanspruchnahme jugendpsychiatrischer Behandlung (bzw. vor der Untersuchung der Schüler). Andererseits bestätigte sich auch hier, dass gesunde Jugendliche kaum über Basissymptome berichten.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass normal entwickelnde Jugendliche in praktisch allen psychopathologisch relevanten Bereichen trotz Pubertät und Adoleszenz weitgehend unauffällig sind. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass es sich im Hinblick auf Psychose-Früherfassung lohnt, bei auffälligen Kindern und Jugendlichen genau hinzuschauen und nicht vorzeitig zu entwarnen. Dies ist ein Wunsch, der von vielen betroffenen Eltern an Kinder- und Jugendpsychiater herangetragen wird, die mit der Behandlung ihrer psychotischen Kinder betraut sind.

Schizophrenie bei Kindern?

Schizophrene Erkrankungen bei Kindern sind sehr selten. Man unterscheidet die Very-early-Onset-Schizophrenien (VEOP: Beginn vor dem 12. Lebensjahr) von den Early-Onset-Schizophrenien (EOP: 13. – 19. Lebensjahr).

  • Man muss bei der Very-early-Onset-Schizophrenie mit einer Inzidenz von unter 1,6/100 000 Kinder ausgehen, mit einem Überwiegen von Knaben im Verhältnis von 2 : 1 [6]. Dabei ist anzumerken, dass bei diesem frühen Beginn die Symptomatik in der Regel langsam einsetzt.

  • Die Inzidenz der Early-Onset-Schizophrenie ist mit 0,23 % deutlich höher, allerdings mit einer ähnlichen Geschlechtsverteilung. Nach einer sprunghaften Zunahme nach dem 13. Lebensjahr steigt sie kontinuierlich und erreicht ihren Häufigkeitsgipfel im frühen Erwachsenenalter [6].

Die Diagnose einer Schizophrenie in der Kindheit oder in der Adoleszenz ist nicht immer einfach. Die Spezifität psychotischer Symptome in der Kindheit und Jugend ist geringer als bei Erwachsenen. So können beispielsweise Halluzinationen und desorganisiertes Denken im Kindes- und Jugendalter auch bei anderen Zuständen beobachtet werden als bei schizophrenen Erkrankungen [7]. Die Differenzialdiagnose ist anspruchsvoll, was den pädiatrischen Facharzt allerdings weniger kümmern sollte, da die Diagnose einer Schizophrenie im Kindes- und Jugendalter durch einen kinder- und jugendpsychiatrischen Facharzt gestellt werden sollte.

Literatur

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Dr. med. Heiner Meng

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