Z Sex Forsch 2009; 22(2): 121-150
DOI: 10.1055/s-0028-1098942
Originalarbeit

© Georg Thieme Verlag Stuttgart ˙ New York

Das Geschlecht des ersten Menschen

Zur mythologischen Herkunft der Ausdrücke Androgynie und Hermaphrodit[1] Michael Groneberg
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Publication Date:
19 June 2009 (online)

Übersicht:

Die Begriffe Androgynie und Hermaphrodit verweisen auf die Geschichten von den drei Urgeschlechtern und von Hermaphroditos, die Platon bzw. Ovid erzählen. Ebenso wie im griechischen Kult um den Gott Hermaphroditos wird in ihnen eine Fantasie der Erfüllung heterosexuellen Begehrens im Bild der Androgynie idealisiert. In diesem Artikel werden die Mythen detailliert präsentiert und Irrtümer sowie Voreingenommenheiten in ihren Interpretationen und Übersetzungen verdeutlicht. Zur Standarddeutung, die in der Verwandlung von Hermaphroditos zu einem androgynen Wesen ein Unglück sieht, wird eine Alternative angeboten. Es folgt ein Einblick in den wichtigen Androgyniediskurs um die Geschlechtlichkeit des ersten Menschen. Der Text schließt mit der Frage nach androgynen Darstellungen in älteren abendländischen Mythologien.

1 Dieser Beitrag entwickelt früher veröffentlichte Untersuchungen weiter. Die entsprechenden Publikationen sind an der jeweiligen Stelle angegeben und enthalten umfangreichere Nachweise und Zitate von Originalquellen. Die Übersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen stammen, wo nicht anders angegeben, vom Autor (MG).

Literatur

1 Dieser Beitrag entwickelt früher veröffentlichte Untersuchungen weiter. Die entsprechenden Publikationen sind an der jeweiligen Stelle angegeben und enthalten umfangreichere Nachweise und Zitate von Originalquellen. Die Übersetzungen aus dem Griechischen und Lateinischen stammen, wo nicht anders angegeben, vom Autor (MG).

2 Traditionell wird der Titel beschönigend als Gastmahl übersetzt, doch drückt der Term Symposium eher das gemeinsame Trinken aus (gr. sympinô: mittrinken, an einem Trinkgelage teilnehmen; sympotês: der Mittrinker; engl. fellow drinker), was durch die Übersetzung als Trinkgelage gut getroffen wird (siehe die Übers. von Schmidt-Berger 1985).

3 Platon lässt von einem Trinkgelage erzählen, das auf das Jahr 416 v. Chr. zu datieren ist. Er hat das Symposium mehr als dreißig Jahre danach in den Jahren der Gründung seiner Akademie geschrieben (nach 385). Der Text ist außerordentlich raffiniert komponiert und dient Platon zu verschiedenen Zwecken (zur Darstellung der Mythologie als ärgster Konkurrentin der Wissenschaft, siehe Groneberg 2004, 2005).

4 Die Werke Platons werden nach der Ausgabe von Stephanus 1578 zitiert. Die ­Angabe der Stephanusseite, gefolgt von der Angabe der Spalte (a–e), findet sich in allen guten aktuellen Platonausgaben. Folgt auf die Spalten- noch eine Zeilen­angabe, richtet sich diese nach der Oxfordausgabe (Burnet 1900–1907). Als Übersetzung ist generell immer noch die von Friedrich Schleiermacher (1804–1855) zu empfehlen (siehe Otto et al. 1994); für das Symposium wird im Folgenden die Übersetzung von Ute Schmidt-Berger (1985) verwendet.

5 Woher Platon die Elemente zu dieser Erzählung genommen hat, ist unklar. Die Geschichte enthält viele verbreitete mythologische Motive (RAC 1988: 662). Es wird vermutet, dass Platon Empedokles’ Anthropogonie aufgegriffen hat, eine Art Proto-Evolutionstheorie, in der aus der Erde einzelne Gliedmassen entstehen, die herumirren, sich zu verbinden suchen und dabei umkommen oder eben sich zu etwas Ganzem fügen.

6 Eine genauere Analyse hierzu findet sich in Groneberg (2004, 2005).

7 So die Theorien des dritten Geschlechts und der sexuellen Zwischenstufen bei ­Ulrichs und Hirschfeld (siehe Groneberg 2005, 2008), der genetischen Disposition zu männlicher Homosexualität (vgl. die Theorie des „schwulen Gens“ in ­Hamer und Copeland 1994) und der Verursachung von Homosexualität durch angeborenes geschlechtsrollentypisches Verhalten des „anderen“ Geschlechts (vgl. Bem 1996: 320–335).

8 Eine seriöse Analyse des Mythos und seiner Rezeption durch Freud findet sich in Brisson (1973). Eine paradigmatische Verwendung des Mythos zur Konstruktion einer intersexuellen Identität wird vorgeführt in John Cameron Mitchells Film „Hedwig and the Angry Inch“ von 2001; der „zornige Zentimeter“ bezieht sich auf das rudimentäre Genitale von Hedwig, das ihr nach einer Mann-zu-Frau-Geschlechtsoperation bleibt und sie damit zu einer „intersexuellen“ Person macht, die identitären Rückhalt im hier besprochenen Mythos findet.

9 Es könnte sich auch um eine popularisierte Version, wenn nicht sogar Parodie von Empedokles’ Lehrgedicht Peri physeôs und der darin enthaltenen Zoogonie handeln. Darin bringen die beiden kosmischen Mächte Liebe und Streit die Dinge zusammen und trennen sie wieder, wodurch sich alles fortentwickelt. Wie wenig Platon von derartigen Erklärungsansätzen hielt, zeigt sich daran, dass er Empedokles (495–435) nie explizit erwähnte; im Phaidon bringt Sokrates Unzufriedenheit mit dieser Art materialistischer Erklärung zum Ausdruck (96 a–97 b). Ob Platon sich im Symposium gegen Empedokles wandte oder gegen eine populäre Auffassung, ist umstritten. Es kann auch beides zugleich der Fall sein. Laut Aristoteles wurden Verse aus Empedokles’ Gedicht von Betrunkenen rezitiert (Niko­machische Ethik VII.5: 1147 a 19–b 19). Es lässt sich daher vermuten, dass auch Zuhörer oder Leser des Symposium zur Zeit seiner Abfassung diese Elemente wiedererkennen konnten. Freud hat sich von den beiden empedokleischen Prinzipien übrigens zu seinen Konzepten von Liebes- und Todestrieb, Eros und Thanatos, inspirieren lassen (Freud 1937: Kap. VI).

10 Es wurde darüber hinaus vermutet, dass Platon Aristophanes lächerlich zu ­machen versucht. So schuf Kenneth Dovers einflussreicher Deutung zufolge Plato eine Parodie billiger ungebildeter Folklore („unsophisticated subliterate folkore“), um zu zeigen, was er von Aristophanes hält (Dover 1966: 44, 47 f. ). Diese Vermutung greift jedoch zu kurz. Wenn Platons Strategie im Symposium darin besteht, zur Verteidigung der Rationalität und ihrer Vertreter wie Sokrates aufgeklärte ­Mythen einzusetzen, um die traditionellen auf ihrem eigenen Feld zu schlagen, dann kann ihm nicht daran gelegen sein, diese als populär und billig lächerlich zu machen. Er muss vielmehr ihre ganze Macht zeigen (vgl. Groneberg 2004, 2005). Denn seine eigene Position erscheint umso stärker, je stärker die konkurrierende Auffassung gemacht wird. Wie gut ihm dies gelungen ist, verdeutlicht das Eigen­leben, das der Mythos der drei Urgeschlechter entwickelt hat.

11 „So also steht es um denjenigen, den die Hiebe der Venus treffen / ob sie ihm ein Knabe mit weiblichen Gliedern schickt / oder eine Frau, deren ganzer Leib Liebe verstrahlt, / woher dies kommt, dorthin strebt er und sucht sich zu paaren / und den Saft zu schleudern in den Leib aus dem hinan gezogenen Leibe“ (Lukrez. De rerum natura IV: 1052–1056, Übers. MG).

12 Die „progressive Rockband“ Genesis brachte 1971 auf ihrem Album Nursery Cryme einen Song mit dem Titel „The Fountain of Salmacis“ heraus, in dem Ovids Geschichte mystisch variiert, aber relativ originalgetreu gesungen wird; (Text von Mike Rutherford, siehe Genesis 1971).

13 So lautet zumindest die Standardversion der Philologischen Gesellschaft Leipzig von 1897. Die stark verdorbenen Manuskripte lassen jedoch auch andere Lesarten zu (vgl. 1897: 127–129), z. B. dass der Abergläubische die Hermen schmückt (Standbilder mit Büste, häufig mit aus dem Sockel ragendem Phallus) und für den Rest des Tages unvernünftig (aphronein) bzw. „außer sich“ ist (so übersetzt Klose, siehe Theophrast 2004). Der vierte Tag des Monats ist Aphrodite und Hermes geweiht, sodass dieser Tag Sinn ergibt, der siebte Apoll, was rätselhaft ist.

14 Eine Reihe von Abbildungen findet sich in Delcourt (1966), eine andere Serie in Raehs (1990). Auch das Studium der Skulpturen ist jedoch unergiebig, da die erhaltenen Werke Nachbildungen von Nachbildungen sind, sodass wir kaum auf die Originale schließen können (Delcourt 1958: 83 f. ).

15 Im Répertoire des peintures grecques et romaines (Reinach 1922) finden sich auf Seite 67, Abb. 1 ein Hermaphroditos mit Eros und Aphrodite; auf Seite 68, Abb. 2, 3, 5, 6, 7 androgyne Genien, meist mit Thyrsosstab; auf Seite 98, Abb. 1, 2, 3, 4, 7 und 99: 1, 2, 3 Hermaphroditos, meist mit Pan oder Silen.

16 So Hermann (s. v. Hermaphroditos in: Roscher 1896–1900) und Couve (1900: s. v. Hermaphroditus). Nilsson (1950: 491, [Fn 2]) behauptet lapidar: „Der Hermaphroditismus ist den ursprünglichen griechischen Vorstellungen so fremd, dass es nicht nötig ist, hier darauf einzugehen.“

17 Bereits Dümmler (1897: 22–32) schränkt Hermanns Position ein und argumentiert, dass androgyne Elemente in Kleidertausch, Verwandlungsmythen und Kosmogonien ursprünglich griechisch sein können und nicht generell als semitischen Ursprungs anzusehen und zu verwerfen sind. Ebenso Jessen (1912: 714, 716). ­Delcourt (1958: 28–50, 69, 131) argumentiert ausführlich für den hellenischen ­Ursprung von Hermaphroditos.

18 Hesiod, Plutarch und Proklos sprechen davon, dass der vierte Tag des Monats geeignet sei, „eine Lagergenossin nach Hause zu führen“, „einen Hausstand zu gründen“ bzw. „ein gutes Einverständnis in einer Ehe und einem Haus herbeizuführen“, und die letzten beiden erwähnen, dass der Tag deshalb Hermes und Aphrodite geweiht sei. Delcourt (1966) folgt Jessen (1912: col 718) in der Auffassung, dass Aphrodite und ein phallischer Hermes Schutzgötter nicht so sehr der ehelichen als der sexuellen Vereinigung gewesen seien. Das lässt sich an diesen Quellen allerdings ebensowenig nachvollziehen wie bei Theophrast und Alkiphron, wo es ebenfalls um das Heim bzw. die Gewinnung eines zweiten Ehemannes geht. Nach RAC (1988: 661) changiert die Rolle des Hermaphroditos zwischen dem „Beschützer der menschlichen Begattung“ und dem „Förderer der irdischen Fruchtbarkeit“.

19 „Nec duo sunt, sed forma duplex, nec femina dici / nec puer ut possit, nec utrumque et utrumque videtur“. Mit den spitzen Klammern kennzeichne ich Ausdrücke, die der Lesbarkeit dienen, aber im Original fehlen. Von Albrecht (1994) übersetzt: „keine zwei Leiber, sondern eine Zwittergestalt, die man weder Frau noch Mann nennen kann; sie erscheint als keines von beiden und doch als beides.“

20 Nach Delcourt und Hoheisel (RAC 1988: 666) beweise die Art, „wie Ovid den ohnmächtigen Zwitter darstellt“, wie „das utrumque […] zu einem neutrum degradiert“ wurde. Dies ist am Original nicht nachvollziehbar.

21 Alternative Überlieferung in eckigen Klammern: „Ergo, ubi se liquidas, quo vir descenderat, undas / semimarem fecisse videt mollitaque in illis / membra, manus tendens, sed iam non [non iam] voce virili, / Hermaphroditos ait: <nato date munera vestro / et pater et genetrix, amborum nomen habenti: / quisquis in hos fontes vir venerit, exeat inde / semivir et [ut] tactis subito mollescat in undis.> / motus uterque parens nati rata verba biformis / fecit et incesto [incerto] fontem medicamine tinxit.“

22 So auch Delcourt (1952: 80; 1966: 7). Zweigeschlechtlichkeit erscheine nicht als Bereicherung, sondern als Mangel, als Geschlechtslosigkeit. Dies lässt sich am Original nicht erhärten, das explizit beide Aspekte nennt.

23 „Et répandirent dans la fontaine un suc impur et malfaisant“ (Übers. Lafaye 1928). Das im Original fehlende „malfaisant“ lässt keinen Zweifel aufkommen, dass es sich um böses Gift handle.

24 Lat. „medicamen“ hat die Doppelbedeutung von Heilmittel und Gift oder Zaubermittel, so dass eine Übersetzung in beide Richtungen möglich ist. Der Ausdruck „Droge“ soll diesen Doppelaspekt erhalten und den Rausch der sexuellen Vereinigung suggerieren.

25 Die Band Genesis hat dies ebenso gedeutet. Dort ist es einerseits „die Kreatur“, die sich nach der Verwandlung noch äußert, anderseits Salmacis: „The creature ­crawled into the lake. / A fading voice was heard: / «And I beg, yes I beg that all who touch this spring / May share my fate» / Salmacis: / «We are the one / We are the one»“ (Genesis 1971).

26 Schöne Beispiele hierfür sind der Hermaphrodit von Barracco und ein schwebender auf der Vase Gnathia im Kunsthistorischen Museum Wien, Antikensammlung (Abb. in Delcourt 1966: Tafel IV). Der ebenso gestaltete Kopf des Hermaphrodite Chablais ist nicht echt antik. Der Songtext der Band Genesis (1971) nimmt eine ähnliche Deutung der Erhebung vor. Dort wird die Verschmelzung Salmacis’ mit Hermaphroditos von überirdischer Ruhe begleitet: „unearthly calm descended from the sky / And their flesh and bone were strangely merged / Forever to be ­joined as one“.

27 Um es mit den Worten der Band Genesis (1971) zu sagen: „Both had given everything they had. / A lover’s dream had been fulfilled at last, / Forever still beneath the lake.“ Hier klingt in der ewigen Ruhe die Erlösung aus der Welt des Begehrens an, die in dieser Fantasie, wie im populären Mythos der Urgeschlechter, wie in der gnostischen Sehnsucht, gewonnen wird durch immerwährende sexuelle Verschmelzung zu einem Wesen.

28 In einer französischen Version heißt es statt „weibisch“ „débilitant“, d. h. deprimierend oder schwachsinning machend, und statt „der Männlichkeit berauben“ „amollir“, d. h. weich machen, schwächen, erschlaffen lassen: „D’ou vient la triste réputation de Salmacis? Comment se fait-il que ses eaux débilitantes énervent les membres et les amollissent par leur contact? C’est ce que je vais vous apprendre; car on ignore cette cause, quoique les propriétés de la source soient bien connues.“ (Übers. Lafaye 1928).

29 „Unde sit infamis, quare male fortibus undis / Salmacis enervet tactosque remolliat artus, / discite. causa latet, vis est notissima fontis.“ Male ist das Adverb von malus; „male fortibus“ heißt soviel wie „schlecht für die Kräfte“.

30 Dies entspricht in etwa der Übersetzung von Breitenbach in der einsprachigen Reclamausgabe von 1971, die auf 1958 zurückgeht: „Welch eine Wirkung die weichlichen Wellen der Salmacisquelle üben, das weiß man: das Wasser entnervt und verweichlicht die Glieder, die es berührt. Der Grund ist verborgen: den sollt ihr vernehmen!“

31 Im Original lautet der letzte Satz: „Eros, hos kallistos en athanatoisi theoisi, lysimelês, pantôn de theôn pantôn t’anthrôpôn damnatai en stêthessi noon kai epiphrona boulên“.

32 RAC 1988: 655 f. Der Beitrag stammt u. a. von der Hermaphroditos-Expertin Marie Delcourt (geschrieben mit Karl Hoheisel).

33 Ovid. Met. IV: 17–20, Übers. Breitenbach; „[…] tibi enim inconsumpta iuventa est / tu puer aeternus, tu formosissimus alto / conspiceris caelo; tibi, cum sine cornibus adstas, / virgineum caput est; […]“.

34 „Huc adverte favens virgineum caput“.

35 Zur Fixierung der ästhetischen Geschlechterdifferenz im 18. Jh., die die Frau zum „schönen Geschlecht“ macht und ihr die Schönheit vorbehält siehe Trapp (2003, 2006). Zum neuzeitlichen Ausschluss jugendlich männlicher Schönheit als Objekt männlichen Begehrens vgl. die Diskussion zwischen Trapp und van Eickels (Groneberg 2006: 156–160).

36 Plinius d. Ä. schreibt um 77 n. Chr., dass „androgyn“ früher sei als „hermaphroditisch“ (Naturalis Historia VII: 34).

37 Auch die Ausdrücke human und Humus, die auf lat. humus: Erde, Erdboden zurückgehen, haben dieselbe, letztlich indoeuropäische, Wurzel. Demnach wird der Mensch als „Erdenbewohner“ bezeichnet (siehe Duden. Herkunftswörterbuch).

38 Man unterscheidet die Priesterschriften, die mit Sicherheit frühestens aus der Zeit des Exils stammen, von den nichtpriesterlichen. Von diesen ist umstritten, wann sie entstanden und wie sie zusammengesetzt wurden. Die seit Johannes Wellhausen Ende des 19. Jh. verbreitete Annahme, dass sie aus dem 9. Jh. stammen und aus zwei Traditionen (Jahwe und Elohim) zusammengefügt sind, wird neuerdings bezweifelt. Das Material scheint jedenfalls vor-exilisch, also älter zu sein als die Priesterschriften (siehe Coogan 2001: Introduction to Genesis).

39 Dies ist der genau bedachte Titel von Simone de Beauvoirs Hauptwerk „Le deuxième sexe“, das auf Deutsch ungenau mit „Das andere Geschlecht“ übersetzt ist (siehe de Beauvoir 1949, 2002).

40 Die Tendenz zur Androgynie ist in jüdischen und gnostischen Lehren der Antike sowie in der mittelalterlichen jüdischen Mystik anzutreffen (Mopsik 2003).

41 Agacinski (2005: 133 ff.  ) spricht sich gegen die androgyne Leitidee aus, da die Anwesenheit beider Geschlechter im ersten Menschen oder in jedem Menschen auch nicht die Hierarchisierung verhindere. Ihre Beobachtung ist richtig, dass die Idee der psychischen Androgynie dem dominanten Mann ermöglicht, auch noch das Weibliche zu absorbieren, wie dies in der Aneignung der weiblichen Gebärfähigkeit durch den Mann geschieht, die z. B. bei Platon vielfach belegt ist, z. B. in Sokrates’ „Geburtshelferschaft“ oder in der Privilegierung der seelischen und geistigen Zeugung und Fortpflanzung im Symposium. Dies setzt jedoch die Deutungshoheit der Männer in der Schriftinterpretation voraus, die gegenwärtig nicht mehr gegeben ist. In Abwesenheit sozialer männlicher Dominanz und vor allem männlicher Deutungshoheit könnte eine androgyne Grundannahme theologischer oder anthropologischer Art ein angemessener Ausdruck einer egalitären Haltung und Gesellschaft sein (vgl. dazu Marcuse 1974: 409–421).

42 Von Soden (1991: 51, 1994: 615) unterscheidet nur zwei Typen, je nachdem, ob in der Zweigeschlechtlichkeit ein Problem gesehen wird (Atramchasis, Gen. 2) oder nicht (Enuma Elish, Gen. 1) und differenziert nicht die Reflexion des Übergangs von einem Urmenschen zu zwei Geschlechtern von der klaren Hierarchisierung. Dies erschwert die Verständlichkeit seiner Beurteilung des Atramchasis-Mythos, den er mit Gen. 2 zusammenstellt, obwohl er für diesen babylonischen Mythos ­einen androgynen Urmenschen unterstellt und in den erhaltenen Textstücken ­keine Geschlechter-Hierarchie erkennbar ist.

43 §§ 157–159 beschreiben eindrücklich den Menschen des Vergnügens, der sei wie die Schlange. Es ist der Geist, der leiten und führen müsse, wie später auch bei Augustinus.

44 Die erste der beiden Stellen wurde später verfasst (Midrach Rabba I. Genèse Rabba: 633–39). Der Midrasch zur Genesis wurde in der zweiten Hälfte des fünften Jh. n. Chr. niedergeschrieben und basiert auf einer Tradition mündlicher Kommentierung einzelner Stellen, die bis ins zweite vorchristliche Jh. zurück reicht. Eine Kanonisierung des alten Testaments, die einen festen Bezugspunkt für Kommentare lieferte, war erst gegen 200 v. Chr. erfolgt (Ibid. Introduction: 10–13).

45 Es handelt sich um die Schrift ohne Titel, kurz SoT, verfasst von einem Ägypter, vielleicht von einem in Ägypten lebenden Juden (Tardieu 1974: 33 f. ) oder aber von einer Person, die Ägypten bewundert.

46 An der ältesten Stelle zu Beginn des zweiten Jhd. spricht der christliche Verfasser der Praedicatio Petri den Christen eine dritte Art der Gottesverehrung zu (Clemens von Alexandria. Stromateis VI.5: 41). Der Kirchenvater Tertull schreibt 197 in Karthago, dass die Christen „drittes Geschlecht“ genannt werden („tertium genus dicimur“: ad nat. I, 8,). Um 242 nennen sich die Christen selbst so („sumus tertium genus hominum“: Pseudocyprian. De pascha computus: c.17). Ob diese Bezeichnung in geschlechtlicher oder sexueller Konnotation abschätzig gegen die Christen gebraucht wurde, muss dahingestellt bleiben. Sowohl Jungfräulichkeit als auch „widernatürliche Unzucht“ konnte als „tertium genus“ bezeichnet werden (vgl. von Harnack 1924: 286, [Fn 4] mit Stellennachweisen).

47 Die Quelle könnte Plinius der Ältere gewesen sein, der einen solchen Bericht Calliphanes zuschreibt, während die Annahme über die Brüste auf Aristoteles zurückgehe (Naturalis Historia VII: 15).

48 Die Übersetzung von Perl wurde leicht modifiziert. Eine Entsprechung für den Ausdruck Zwitter findet sich im lateinischen Original nicht: „Androgyni, quos etiam Hermaphroditos nuncupant, quamvis ad modum rari sint, difficile est tamen ut temporibus desint, in quibus sic uterque sexus apparet, ut, ex quo potius debeant accipere nomen, incertum sit; a meliore tamen, hoc est a maculino, ut appellarentur, loquendi consuetudo praevaluit. Nam nemo umquam Androgynaecas aut Hermaphroditas nuncupavit.“

49 „[…] de monstrosis apud nos hominum partubus“. Die Übersetzung Perls „für solch monströse Missgeburten bei uns Menschen“ verdoppelt unnötigerweise die Abwertung, denn „partus“ bedeutet einfach die Nachkommenschaft.

50 Die Stelle lautet in der Übersetzung von Sodens (1994; 625): „[272 …] ihrer Brust. [273 …] der Bart; [274 …] Wange des Mannes. [275 In den Gär]ten und den Straßen [276 frei]ten einander die Gattin und ihr Gatte. [277 Die Mutter]leiber sind versammelt, [278 es sit]zt da Nintu, [279 zäh]lt die Monate. [280 Im Haus] der Schicksale riefen sie aus den zehnten Monat.“

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Dr. M. Groneberg

Departement für Philosophie · Universität Fribourg

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