Ende August sind die Olympischen Spiele 2008 in Peking zu Ende gegangen. Bereits im
Vorfeld geriet das seit Jahrzehnten schwelende Tibet-Problem in den Blick der internationalen
Öffentlichkeit. In der autonomen Region Tibet und den angrenzenden Gebieten kam es
zu Gewaltausbrüchen zwischen Tibetern und Chinesen. Der olympische Fackellauf war
von Demonstrationen begleitet. Außerdem besuchte der Dalai Lama, geistlicher und weltlicher
Führer der Tibeter im Exil im Mai wie schon im letzten Jahr die Bundesrepublik. Der
Bericht über diesen Besuch beleuchtet die politischen, religiösen und kulturellen
Hintergründe der Vorgänge auf dem Dach der Welt.
Bild: Dr. Jörg Siedenburg
Der Dalai Lama ist Projektionsfläche für vielerlei Erwartungen und die Sinnsuche einer
zunehmend ernüchterten postindustriellen Gesellschaft. Auf der anderen Seite ist der
buddhistische Lehrer aber nicht nur spirituelles, sondern auch politisches Oberhaupt
seines Volkes. Er möchte allen Menschen jeweils das sein, was sie auf ihn projizieren
und von ihm erwarten. Vor einigen Wochen waren er und sein Volk im Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit: Im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele in
Peking 2008 war es in der autonomen Region Tibet und angrenzenden Gebieten zu zahlreichen
Protesten und auch gewaltsamen Aufständen von Tibetern gekommen, die von chinesischen
Sicherheitsbehörden niedergeschlagen wurden.
Unüberbrückbar scheinen die Gegensätze zwischen den Tibetern und ihren Unterstützern
auf der einen und der chinesischen Regierung, ihren Vertretern und Befürwortern auf
der anderen Seite. Während die öffentliche Sympathie der letzten Wochen aufseiten
der ersteren ist, klafft im Bereich der Politik ein Riss: Es finden sich sowohl Unterstützer
der tibetischen Position als auch Pragmatiker der Macht- und Wirtschaftspolitik, aber
auch aus der Wirtschaft, die eher für die chinesische Seite argumentieren.
Besuch in Deutschland
Besuch in Deutschland
Der Dalai Lama besuchte bereits zum 33. Mal Deutschland. Die Veranstaltung in Mönchengladbach
stand unter dem Motto "Frieden und Menschenrechte - die Grundlage der modernen Gesellschaft".
Während beim letztjährigen Besuch in Deutschland vor allem spirituelle Fragen im Vordergrund
gestanden hatten, galt der diesjährige Besuch des Friedensnobelpreisträgers vor allem
der politischen Situation in seinem Heimatland.
Viele würden bei ihm geheimnisvolle, verborgene Kräfte vermuten, so der Dalai Lama
zu seinen etwa 3 000 Besuchern. Man solle nicht zu viel von ihm erwarten - in dieser
Hinsicht habe er nichts anzubieten. Er sei selbst skeptisch gegenüber wundersamen
Heilkräften. Ein positives Denken würde hingegen der seelischen und körperlichen Gesundheit
gut tun. Wenn man sich auf das Wesentliche konzentriere, dann könnten viele Differenzen
und Barrieren zwischen den Menschen abgebaut werden. Alle seien Angehörige derselben
großen Familie. So sei auch die Harmonie zwischen den Religionen wichtig: Es gebe
nicht nur die eine Wahrheit.
Alle Religionen würden lehren, bescheiden zu leben, Konflikte friedlich zu lösen und
Werte wie Mitgefühl, Selbstvertrauen und Toleranz vermitteln. So sei eine bestimmte
Religion für das Individuum seine persönliche Wahrheit - für ihn etwa der tibetische
Buddhismus -, für die Gesamtheit der Menschheit gebe es jedoch viele Wahrheiten, die
respektiert werden müssten. Er verteidige auch den Islam: Nach den Anschlägen am 11.
September 2001 habe man alle Muslime verdächtigt, obwohl es nur eine kleine Anzahl
mit terroristischem Hintergrund gebe. Der großen Mehrheit gelte deshalb seine Liebe
und sein Mitgefühl: Toleranz und Harmonie seien zu bestärken.
Die Grundlage für den äußeren Frieden sei der innere Frieden der Menschen. Die Menschenrechte
seien Grundlage von Frieden und Fortschritt, da erst sie dem Menschen erlaubten, kreativ
zu sein und die Gesellschaft zu entwickeln. In diesem Zusammenhang appellierte er
auch an die Verantwortung von Politik und Wirtschaft. Diese würden manchmal nicht
langfristig und an die nötige Entwicklung der Gesellschaft denken. Das chinesische
Konzept einer harmonischen Gesellschaft an sich sei wundervoll. Allerdings gebe es
dort eine Kluft zwischen Arm und Reich bzw. Stadt und Land. Echte Harmonie könne den
Menschen nicht durch Kontrolle von außen aufgezwungen werden, sondern müsse von innen
kommen. Solidarität und Spiritualität seien entscheidend für die Wahrnehmung von Verantwortung.
Tibet
Tibet
Tibet ist das größte Hochland der Erde: Umgeben von den höchsten Bergketten leben
auf dem Hochplateau zwischen 3 600 und 5 200 m Höhe und seinen Ausläufern auf einer
Fläche von circa 2,5 Millionen Quadratkilometern etwa 6 Millionen Menschen. Die karge
und trockene Natur erlaubt etwas Ackerbau und Viehzucht, ein nicht unwesentlicher
Teil der Bevölkerung lebt noch nomadisch. Infrastrukturprojekte wie Straßenbau und
eine Eisenbahnverbindung bis nach Peking haben das Land erst in den letzten Jahrzehnten
wirtschaftlich erschlossen.
Ziel sei eine innere Autonomie, keine Loslösung
Ziel sei eine innere Autonomie, keine Loslösung
Die jüngsten Unruhen in Tibet hätten ihn überrascht und schockiert. Die junge Generation
sei frustriert und habe deshalb, ebenso wie 1959 und 1987/1988, mit Gewalt reagiert.
Er selbst habe angesichts dessen ein Gefühl der Hilflosigkeit und der Angst. Er persönlich
versuche durch Hoffnung auf der intellektuellen Ebene die innere Ruhe auf der Gefühlsebene
zu bewahren. Dies gelinge ihm durch die Erfahrung aus einem jahrelangen Geistestraining.
Es sei der falsche Weg, wenn Tibeter antichinesisch eingestellt seien: Beide Länder
seien buddhistisch - der Buddhismus sei ja sogar zum Teil aus China nach Tibet gekommen.
Er folge dem Prinzip der Gewaltlosigkeit.
China sei auf dem Weg zur Supermacht: Es habe eine große Bevölkerung und sei eine
starke Militär- und Wirtschaftsmacht. Der Respekt des Restes der Welt sei nur durch
moralische Autorität zu gewinnen. Diese könne man sich aber nur durch Harmonie verschaffen.
Deshalb liege es im Interesse Chinas, die gegenwärtige Krise zu beenden. Dies könne
nur durch gegenseitiges Vertrauen geschehen, und dieses sei wiederum nur durch die
gleichen Rechte zu erreichen. In diesem Sinne sei er bereit, auf die Privilegien seines
Amtes zu verzichten und sogar das Amt des Dalai Lama zur Disposition zu stellen.
Die Frage sei nun, wie der jetzige Konflikt zwischen Tibet und China zu lösen und
zukünftige Konflikte zu vermeiden seien. Eine Loslösung von China läge nicht in seiner
Absicht - die Mehrheit der Tibeter strebe eine innere Autonomie als eine für alle
Seiten akzeptable Lösung an. Entsprechende Minderheitenrechte seien bereits in der
chinesischen Verfassung garantiert. Was die Zukunft bringen werde, sei unsicher, aber
die Unterstützung und Freundschaft von Organisationen, Menschen, Regierungen und Wirtschaft
sei hilfreich, wichtig und nötig, um zu einer für alle Seiten akzeptablen Lösung zu
kommen. China sei ein Freund für viele von diesen, und unter Freunden müsse es möglich
sein, auch Fehler zu benennen.
Dr. Jörg Siedenburg, Frankfurt