ZFA (Stuttgart) 2008; 84(10): 457-459
DOI: 10.1055/s-0028-1083789
DEGAM-Nachrichten

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Alles sexy, oder was? – Frühlingstreffen des EGPRN in Antalya 2008

„Make it sexy!” – Spring Meeting of the EGPRN in AntalyaG. Theile 1
  • 1Institut für Allgemeinmedizin, Medizinische Hochschule Hannover, Hannover
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Publication Date:
17 October 2008 (online)

Heutzutage ist alles sexy. Junge Frauen mit großen Augen in kurzen Röcken, wie sie unlängst der Eurovision Song Contest in einer Überdosis bot, ja, die sind sexy, das wissen wir schon lange. Junge Männer mit Brustfell, offenem Hemd und Goldkette, na ja, da kann man schon drüber streiten. Aber Praxiscomputerdaten? Findet mein Kollege sexy, sagt er. Versorgungsforschung?? Ist noch nicht sexy, soll es nach der öffentlich proklamierten Meinung eines renommierten Methodikers aus dem hohen Norden aber unbedingt werden. Und nun hat es auch die Allgemeinmedizin erwischt: „Make it sexy!” jubelte eine junge Vasco da Gama [1] Vertreterin zum Abschluss der EGPRN Frühjahrskonferenz in Antalya ins Mikrofon. Sie erfreute damit zumindest die teilweise nicht mehr ganz so jungen Herren der vordersten EGPRN-Riege so sehr, dass sofort laut und ein wenig übermütig über die Entwicklung eines Messinstruments zur Bestimmung der Sexyness der Allgemeinmedizin nachgedacht wurde. Ein Konsens konnte aufgrund der fortgeschrittenen Stunde und der überraschenden Fragestellung nicht so gleich erzielt werden; aber dass die Zahl der nachwachsenden Allgemeinmediziner dabei eine Rolle spielen müsse, darin war man sich einig. So endete das diesjährige Frühjahrstreffen des European General Practice Research Network (EGPRN) in Antalya mit einem Appell zur Lösung eines Europa einigenden Problems: Wie kann man die Allgemeinmedizin – für junge, talentierte, (sexy?) Menschen – attraktiv machen? Die Antwort steht noch aus, dürfte eher komplex und auch für den nächsten Kongress noch nicht zu erwarten sein.

Es fing jedoch einfacher an. Vom 8. bis zum 11. Mai 2008 kamen 135 Hausärzte und allgemeinmedizinische Wissenschaftler aus 30 europäischen Ländern zum wissenschaftlichen und persönlichen Austausch im Sheraton Voyager Hotel in der touristischen Hauptstadt der Türkei zusammen. Wer zum ersten Mal bei einem EGPRN-Kongress dabei war, hatte ein blaues Pünktchen auf seinem Namensschild, denn eine offene und aktive Aufnahme von Neulingen ist bewusst intendiert und gehört zur Kultur eines Netzwerkes. Das klappt gut, macht Spaß und könnte für zukünftige DEGAM Kongresse übernommen werden.

Wie vor jedem EGPRN-Meeting wurden auch diesmal sogenannte PreConference Workshops angeboten. Die Themen: „Analysis of qualitative Material”, „Collaborative Studies”, „Asking focused research Questions” und „Open research Market” sowie die recht günstige Gebühr von 25 € pro Workshop machen deutlich, dass sich dieses Angebot überwiegend an junge europäische Wissenschaftler richtet und zur Aufnahme neuer nationaler wie internationaler Forschungsvorhaben ermuntern möchte.

Der eigentliche Kongress wurde am kommenden Tag vom alten und neuen EGPRN Präsidenten Paul von Royen eröffnet und stand unter der thematischen Überschrift „Musculoskeletal disorders in primary care”. Van Royen machte deutlich, dass es auf europäischer Ebene insgesamt nur wenige Forschungsaktivitäten zu diesem bevölkerungsmedizinisch sehr relevanten Krankheitsfeld zu verzeichnen gibt. Die Wahl dieses Themas für einen Kongress sollte auf diesen Umstand aufmerksam machen und zu einem Umdenken und -lenken animieren.

Danielle van der Windt aus Amsterdam betonte in ihrer Keynote-Lecture, dass muskuloskeletale Beschwerden ein multifaktorielles Geschehen darstellten, Ursache und Wirkung des Schmerzgeschehens seien nicht immer klar auseinander zu halten und bildeten bei einer nicht geringen Zahl an hausärztlichen Patienten eine prognostisch ungünstige Spirale („The more you have, the more you get”). Aus diesem Grunde sollten sich zukünftige Forschungsvorhaben auf die Prognostizierbarkeit solcher Krankheitsverläufe konzentrieren. Patienten mit einem erhöhten Risiko könnten dann frühzeitig identifiziert und die Interventionen entsprechend ausgerichtet werden [2].

Christian Mallen vom Primary Care Musculosceletal Research Centre der Keele University berichtete in der zweiten Keynote-Lecture über das Forschungs- und Praxisnetzwerk North Staffordshire Osteoarthritic Project (NorStOP) [3]. Auswertungen der Praxiscomputerdaten des Netzwerkes ergaben u. a. dass 30% aller über 50-jährigen arthrotische Veränderungen an den Händen haben, die Hälfte davon mit ausgeprägten Beschwerden. Eine Herausforderung in der Diagnostik und Therapie von muskuloskeletalen Erkrankungen stelle das Phänomen der Multimorbidität dar. Welchen Einfluss das parallele Vorhanden sein mehrerer chronischer Erkrankungen auf den Patienten im Allgemeinen und auf die Ausprägung seiner Muskel- und Gelenkbeschwerden im Besonderen habe, sei bisher völlig ungeklärt.

Weitere Vortragende, die das Thema „Musculoskeletal disorders” aufgriffen waren:

Radost Asenova aus Plovdiv, die über die Epidemiologie dieser Erkrankungen in bulgarischen Hausarztpraxen berichtete. Sebastien Cadier aus Brest, der die Frage stellte: „Polymyalgia rheumatica: is PMR-As usable in general practice?” und sie mit „Yes, seems to be useful” beantwortete. Sita Bierma-Zeinstra aus Rotterdam, die mit einer doppelt-verblindeten RCT zeigte, dass Glucosaminsulfate keinen größeren Effekt auf die Verbesserung der Schmerzsymptomatik und die Gelenkfunktion bei Coxarthrose hatten als Placebotabletten 4. Luybima Despotova-Toleva aus Plovdiv, die über die Möglichkeiten und Grenzen des Internet referierte, patientenorientierte Informationen über muskuloskeletale Erkrankungen zu generieren. Pekka Mäntyselkä 5 aus Kuopio, der einen Zusammenhang zwischen persistierenden muskuloskeletalen Schmerzen und erhöhten Blutzuckerspiegeln bzw. manifestem Diabetes mellitus sieht.

Daneben gab es wie immer eine Vielzahl an Vorträgen in parallelen Sitzungen mit einer bunten allgemeinmedizinisch interessierenden Mischung und eine ausführliche Postervorstellung. Erfahrene EGPRN-Besucher wollen dabei eine Zunahme von Interventionsstudien, ein Mehr an Untersuchungen zu Forschungsstrukturen und systematisch-nachhaltiger Zusammenarbeit und eine allgemeine Verbesserung der sprachlichen Kompetenzen und Präsentationstechniken beobachtet haben.

Besonders prägnante Darstellungen ihrer Forschungsergebnisse gelangen:

Jelle Stoffers mit der Vorstellung der Ergebnisse der AMUSE-Studie, wonach bei Verdacht auf tiefe Beinvenenthrombose anhand einer systematischen Erfassung von klinischen Parametern und zusätzlichem D-Dimer Test Überweisungen aus der Hausarztpraxis an Phlebologen um die Hälfte gesenkt werden konnten; das Risiko einer Lungenembolie für nicht überwiesene Patienten war klein, die Rate an tatsächlichen Thrombosen bei den überwiesenen Patienten hoch. Katrin Bombeke mit ihrer Präsentation über den (gescheiterten) Versuch, die Patientenzentriertheit von Studenten mithilfe eines Kommunikationstrainings zu verbessern. Karen Barr aus Aberdeen mit einem Raum-Zeitlichen Analyseansatz (spatiotemporal pattern), dessen Ergebnisse die Hypothese stärken, dass die idiopathische Fazialisparese eine infektiöse Erkrankung sein könnte. Jochen Cals 6 aus Maastricht mit der Vorstellung einer cluster randomisierten Studie zu Interventionen mit dem Ziel der Reduktion antibiotischer Therapie bei Infektionen der unteren Atemwege.

Die Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, erwähnt werden soll aber noch, dass es insbesondere ganz junge Wissenschaftler waren, die mit ihren Präsentationen formal wie inhaltlich überzeugen konnten. Ein Trend, der dem europäischen Netzwerk hoffentlich erhalten bleibt, denn Orte, an denen engagierte junge Menschen zusammenkommen, gründen Zukunft.

Mit der Zukunft der Allgemeinmedizin und den Möglichkeiten, wieder mehr junge Ärzte für dieses Fach gewinnen zu können, damit beschäftigt sich auch das europäische „Manpower Project”, dessen finanzielle Unterstützung seitens des EGPRN-Forschungskomittees auf dem diesjährigen Frühjahrskongress beschlossen wurde. Eine Gruppe um Lieve Peremans aus Antwerpen wird mit einem ressourcenorientierten Forschungsansatz versuchen zu ermitteln, welches Faktoren sind, die Hausärzte und Hausärztinnen motivieren, in ihrem Beruf zu bleiben. Oder anders ausgedrückt: Es soll ergründet werden, was Allgemeinmedizin sexy macht! Ein Vergleich der Befragungsergebnisse aus verschiedenen europäischen Ländern wird aufzeigen können, wo es Gemeinsamkeiten gibt und wie ein europäisches Netzwerk motivierende Kräfte bündeln und aktivierende Prozesse unterstützen kann.

Wie immer bei EGPRN gab es auch in Antalya ein soziales Rahmenprogramm. Am Abend des ersten Hauptkonferenztages bestand die Möglichkeit wahlweise ein Ambulatorium oder ein Mutter-Kind-Zentrum zu besuchen, um so Einblicke in die alltägliche Arbeit von Allgemeinmedizinern in der Türkei zu erhalten. Dass diese sich gerade in ländlichen Gegenden auf die elementare Basisversorgung der Bevölkerung beschränken muss, wurde bei der Besichtigung der Räumlichkeiten des Ambulatoriums schnell deutlich. Die Ausstattung kann nur als bescheiden beschrieben werden. Liege, Schreibtisch und Stethoskop waren die wesentlichen Ausstattungsmerkmale. Entsprechend liegt der Schwerpunkt der ärztlichen Tätigkeit auf Beratungen, präventiven Maßnahmen wie das Impfen und der regelmäßigen Kontrolle der medikamentösen Behandlung von chronischen Erkrankungen. Traditionsgemäß beendete ein geselliger Abend die Konferenz; verraten sei nur so viel: Polonaise und andere frohe Gruppentänze zogen eine unsichtbare Demarkationslinie zwischen Nord und Südeuropa durch den Raum – und die eine Hälfte Europas hatte viel Spaß dabei!

Das diesjährige EGPRN Herbsttreffen findet vom 16. bis zum 19. Oktober in Budapest statt, zeitgleich mit dem Versorgungsforschungskongress in Köln. Das Netzwerk der europäischen Allgemeinmediziner wird sich diesmal mit dem Thema „Integrated Management of Cardiovascular Diseases” beschäftigen, während es in Köln um „Innovationstransfer – von der Forschung zum Patienten” gehen wird. Was da jetzt sexier klingt oder welcher Veranstaltung es besser gelingen wird, das jeweilige Fach attraktiver zu machen, diese Einschätzung bleibt nun jedem Leser selbst überlassen.

Interessenskonflikte: keine angegeben.

Literatur

  • 1 Kruschinski C, Blauth E, Peters-Klimm F. Allgemeinmedizinische Aus- und Weiterbildung: Was können und was sollten wir vom Ausland lernen?.  Z Allg Med. 2008;  84 243-245 , berichteten zuletzt über das Vasco da Gama Movement in der ZfA
  • 2 Kuijpers T, Windt DAW van der, Boeke AJP. et al . Clinical prediction rules for the prognosis of shoulder pain in general practice.  Pain. 2006;  120 ((3)) 276-285
  • 3 Mallen CD, Peat G, Thomas E. et al . The assessment of the prognosis of musculoskeletal conditions in older adults presenting to general practice: a research protocol.  BMC Musculoskelet Disord.. 2006;  7 84
  • 4 Rozendaal RM, Koes BW, Bierma-Zeinstra SMA. et al . Effect of Glucosamine Sulfate on Hip Osteoarthritis.  Ann Intern Med.. 2008;  148 268-277
  • 5 Mantyselkä P, Miettola J, Niskanen L. et al . Chronic pain; impaired glucose tolerance and diabetes: a community-based study.  Pain. 2008;  137 ((1)) 34-40
  • 6 Cals JWL, Hopstaken RM, Butler CC. et al . Improving management of patients with acute cough by C-reactive protein point of care testing and communication training (IMPAC3T): study protocol of a cluster randomised controlled trial.  BMC Family Practice. 2007;  8 15

Korrespondenzadresse

Dr. G. TheileMPH 

Medizinische Hochschule

Hannover

Institut für Allgemeinmedizin

Carl-Neuberg-Str. 1

30625 Hannover

Email: theile.gudrun@mh-hannover.de

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