DO - Deutsche Zeitschrift für Osteopathie 2008; 6(03): 4-5
DOI: 10.1055/s-0028-1083639
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Hippokrates Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG Stuttgart

Im Gespräch mit... – Jean–Jacques Papassin

Christoph Newiger
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Publication Date:
01 August 2008 (online)

Herr Papassin, wie steht es zur Zeit um die Osteopathie in Frankreich?

Nach aktueller Gesetzeslage ist die Ausübung der Osteopathie und der Titel „Osteopath D.O.” Ärzten, Masseur–Physiotherapeuten und Osteopathen erlaubt. Dazu müssen sie eine vorgeschriebene Anzahl spezifischer Ausbildungsstunden in festgelegten Fächern absolviert haben um das Diplom in Osteopathie (D.O.) zu erlangen.

Im August dieses Jahres wird jedes Departement die Namen aller offiziell anerkannten Osteopathen veröffentlichen. Dies verschafft den Patienten mehr Sicherheit und den Anspruch auf eine teilweise oder komplette Rückerstattung der Behandlungskosten durch die Krankenkassen. Zudem wird die Osteopathie durch die Reglementierung transparenter. Das Gesetz schreibt übrigens auch eine obligatorische und kontinuierliche Weiterbildung aller Osteopathen vor.

Weshalb haben Sie den Beruf des Osteopathen gewählt?

Meine Begeisterung für den Sport und das Interesse am zwischenmenschlichen Kontakt führten mich dazu, mich zuerst zum Diplom–Masseur und –Physiotherapeuten ausbilden zu lassen. Die sehr enge Sichtweise bei der Behandlung des Patienten und die zu starke Abhängigkeit von den Ärzten haben mich dann in die Arme der „Grande Dame” Osteopathie getrieben.

Weshalb haben Sie Ihr Studium in England absolviert?

1984 wohnte ich in Grenoble. Es gab zu diesem Zeitpunkt nur sehr wenige Osteopathen und die meisten waren an der European School of Osteopathy in Maidstone diplomiert. Jean–Pierre Barral hat mich davon überzeugt, seinem Beispiel zu folgen. Er war auch mein „Pate” während des Studiums.

Wie sieht Ihre Tätigkeit heute aus: arbeiten Sie in der Praxis oder widmen Sie sich hauptsächlich dem Unterricht?

Meine Arbeit ist dreigeteilt:Ich arbeite ausschließlich als Osteopath in einer eigenen Praxis. Im Kontakt mit dem Patienten kann ich die verschiedenen Techniken und Behandlungsschemen, die ich durch meine klinische Erfahrung und in Studien erarbeite, prüfen und belegen. Ein Dozent sollte sich nie vom Praxisalltag entfernen, da er sonst ein Professor der „Virtual Osteopathic Reality” wird. Leider habe ich dies in einigen Fällen beobachten können.

Ich unterrichte verschiedene praktische und theoretische Fächer an diversen Osteopathiezentren. Auch leite ich Weiterbildungskurse in Frankreich, Deutschland und der Schweiz.

Und schließlich bin ich akademischer Direktor im Centre international d'ostéopathie in St. Etienne. Dies gibt mir die Möglichkeit, für die folgenden Generationen ein kohärentes Studienprogramm zu erarbeiten. Ein Programm, das einerseits der aktuellen Gesetzgebung Rechnung trägt und andererseits das Konzept und die Prinzipien der traditionellen Osteopathie aufrechterhält.

Sie unterrichten oft in Deutschland. Worin unterscheiden sich französische und deutsche Osteopathen?

Ich habe in Schlangenbad am Internationalen Kongress des VOD Kurse und Vorträge gehalten und wirke bei der Ausbildung meiner Kollegen an der Still Academy mit. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich sehe ich bei den Osteopathen das gleiche Streben, Wissen und Intuition, Handwerk und Kunst zu vereinen.

Sie haben GOT von England nach Frankreich gebracht. Was macht diese Technik so faszinierend?

Ich hatte das große Privileg, Osteopathie als Konzept, in der Praxis und physiologisch bei den Koryphäen John Wernham, Tom Dummer und Irwin Korr zu studieren. Dank dieser außerordentlichen Ausbildung habe ich begriffen, dass GOT mehr ist als nur eine osteopathische Technik. GOT berücksichtigt die fundamentalen Gesetze der Osteopathie, initiiert die Dynamisierung vitaler Prozesse, ist, soweit man es beherrscht, von großer Kraft und Präzision und somit Ausdruck des Wesens der Osteopathie.

Sie haben GOT erweitert. Was haben Sie hinzugefügt, was geändert?

GOT, wie es uns in England durch die Schüler von Littlejohn vermittelt wurde, hat folgendes Prinzip: Rhythmus und Amplitude der Bewegung des Therapeuten bringen sich in Resonanz mit dem Gewebe und den Organen des Patienten, egal in welcher Tiefe die Dysfunktion sich befindet. Motilität und Mobilität der Struktur werden dadurch wiederhergestellt.

Ich unterrichte GOT seit 1990. Stets hat die rhythmische Bewegung die Schüler verwundert und amüsiert, da sie im Allgemeinen an Techniken mit kurzem Hebelarm gewohnt sind. Es stellte sich die Frage, ob diese wirksame Behandlung sich in eine simple Bewegung zur Entspannung und Lockerung der Muskulatur vereinfachen ließe, sozusagen eine Vorbereitung des Thrust. Meine Idee war es, die Phasen der Diagnose und Behandlung zu trennen, um dadurch die Parameter Quantität und Qualität der Bewegung, Amplitude und Tiefe, Rhythmus und Fokus bewusster wahrzunehmen. Dadurch, dass GOT als Technik präsentiert wurde, hat es sich innerhalb der akademisierten Osteopathie zu einem nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil unserer Kunst entwickelt.

GOT, wie ich es heute unterrichte, ist „allgemein”: Es gibt dem Therapeuten die Möglichkeit, osteopathische Dysfunktionen des Bewegungsapparates zu behandeln, egal ob deren Ursache osteoartikulär, viszero–parietal oder neuromembranär ist.

Sie sind ein Experte für Embryologie. In Ihrem Unterricht stellen Sie einen Zusammenhang zwischen Embryologie und Biotypologie her. Können Sie dies kurz erläutern?

Die angewandte Embryologie gibt uns einen Schlüssel zum Aufbau des menschlichen Körpers. Sie zeigt klar die Logik der strukturellen und funktionellen Transformationen der Bewegungsparameter unseres Körpers.

Die osteopathische Semiologie und Behandlung berücksichtigt die individuellen Eigenschaften des Patienten: Morphologie, Temperament, Gesten und Mimik. All diese wichtigen Daten werden aus der biotypologischen, embryologischen, endokrinen, neurovegetativen und biochemischen Natur des Individuums abgeleitet.

Die Berücksichtigung embryologischer und biotypologischer Fakten erlauben es dem Osteopathen, den Patienten als Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt in seiner Evolution zu behandeln, das heißt die Behandlung optimal an den Patienten anzupassen.

Sie analysieren drei verschiedene Zu–stände der Wirbelsäule: im Ruhezustand, im Gehen und in der freien Bewegung. Können Sie uns kurz erklären, warum?

In beinahe zwanzig Jahren Arbeit als Osteopath habe ich gute und weniger gute Behandlungsresultate erzielt. Im Wissen, dass die Analyse der Misserfolge mich weiterbringt, habe ich daran gearbeitet, meinen Tastsinn zu schärfen und so die Diagnose zu verfeinern. Ich habe die Präzision meiner Manipulationen geübt, um die Effizienz der Behandlung zu steigern. Trotz dieser Strategie blieben einige enttäuschende Resultate unerklärlich. Zehn Jahre Forschung in Anatomie, Biomechanik und Klinik haben mich dazu geführt, die Wirbelsäule als universelles Werkzeug zu sehen.

Sie kann zum Beispiel ihre Länge verändern, je nachdem wie viele mobile Wirbelsegmente aktiv sind. Die Form und Zahl der Krümmungen sind variabel, so wie die Lokalisierung der Scharniere und Rotationszentren.

Das biomechanische Verhalten unserer Wirbelsäule passt sich somit unserer Aktivität an.

Die unzähligen Möglichkeiten lassen sich in drei Basismechanismen zusammenfassen: das statische Gleichgewicht, das dynamische Gleichgewicht im Gehen und das dynamische Gleichgewicht in der freien Bewegung (Sport, Tanz, Arbeitsgeste usw.). So stellt sich die Frage: weshalb sollte die Wirbelsäule stets in der gleichen Position getestet werden? Birgt dies nicht das Risiko einer partiellen, inkompletten Analyse?

Die Methode der drei Säulen erlaubt uns, die Rolle jedes Wirbels in den verschiedenen Funktionen zu definieren, die Wirbelsäule in ihren verschiedenen Anforderungen zu testen und die Dysfunktion in einer spezifischen Position und mit einer spezifischen Technik zu korrigieren.

Ich gebe zu, dass ich diese Erkenntnisse nicht ohne Stolz weitergebe, denn sie bieten meinen Kollegen eine logische, therapeutische Lösung und ein besseres Behandlungsresultat für ihre Patienten.

Zu Ihnen ganz persönlich: wo und wie leben Sie?

Wir wohnen nahe Grenoble, in den Alpen, umgeben von wunderschönen Bergmassiven, die wir das ganze Jahr über erkunden. Wir pflegen die Kunst des guten Lebens und züchten Blumen und Gemüse.

Und was tun Sie in Ihrer Freizeit?

Ich sammle alte Bücher der Anatomie und klinischen Medizin (vom 16. bis zum 19. Jahrhundert) und höre begeistert Jazz und klassische Musik.

Meine große Leidenschaft ist das Touren–Skifahren, das praktiziere ich regelmäßig. Hier schöpfe ich Energie in der Schönheit der Natur und genieße die Momente der Einsamkeit und Fülle.

Besten Dank, Herr Papassin...

Ich danke der DO für dieses Interview und wünsche allen deutschen Osteopathen, das große Privileg mit Begeisterung zu leben und Zeugen und Schaffende einer sich stetig weiterentwickelnden Osteopathie zu sein.

„Wir konnten weiter nach vorn sehen, weil wir auf den Schultern der Riesen saßen.”