Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2008; 43(7/08): 522-528
DOI: 10.1055/s-0028-1083094
Fachwissen
Notfallmedizin
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Schmerzlinderung durch Cannabinoide? – Bedeutung des Endocannabinoidsystems und der Cannabinoide für die Schmerztherapie

Endocannabinoids and Cannabinoids in Pain MedicineMatthias Karst, Michael Bernateck
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Publikationsdatum:
31. Juli 2008 (online)

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Zusammenfassung

Cannabinoide können Sensibilisierungsprozesse inhibieren und Opioidwirkungen verstärken. Überzeugende klinische Daten für den Akutschmerzbereich liegen bislang nicht vor. Ein Cannabis–Based–Medicine–Spray, eine Kombination aus Delta9–Tetrahydrocannabinol und Cannabidiol, wurde zur Behandlung neuropathischer Schmerzen bei Patienten mit Multipler Sklerose zugelassen. Die Beimischung von Cannabidiol in einer oromukosalen Formulierung erhöht dabei die therapeutische Breite von Delta9–Tetrahydrocannabinol. Cannabinoide, die überwiegend an peripheren Cannabinoidrezeptoren binden und rezeptorunabhängige Effekte aufweisen (z.B. ajulämische Säure), und Substanzen, die Endocannabinoid–metabolisierende Enzyme inhibieren, könnten analgetische Effekte von cannabimimetischen Effekten weiter differenzieren.

Abstract

The endocannabinoid system reduces sensitization processes. Low doses of cannabinoids may enhance the potency of opioid–drugs and reduce the risk of tolerance to opioids. So far no cannabinoid has been approved for the treatment of acute pain due to lack of consistent data. In contrast, a Cannabis Based Medicine spray consisting of delta9–tetrahydrocannabinol and cannabidiol has been approved for the treatment of neuropathic pain in patients with multiple sclerosis. The adjunct of cannabidiol and the oromucosal formulation increase the therapeutic index of delta9–tetrahydrocannabinol. The differentiation of analgetic effects and cannabimimetic effects may be increased while compounds – such as ajulemic acid – are used which preferentially act on peripheral cannabinoid receptors and exert receptor independent effects. A further approach in this direction is the use of enzymes which metabolize endocannabinoids.

Kernaussagen

  • Das Endocannabinoidsystem (ECS) setzt sich aus Cannabinoidrezeptoren (CB) und endogenen Liganden zusammen. Die Cannabinoidrezeptoren werden im Zentralnervensystem (CB1), im peripheren Nervensystem (CB1 und CB2) und auf Immunzellen (CB2) exprimiert. Die wichtigsten Endocannabinoide sind Anandamid (AEA) und 2–Arachidonylglycerol (2–AG).

  • Bei präsynaptischer Lage der CB–Rezeptoren ist das ECS für die Feinsteuerung einer Vielzahl von Funktionen des ZNS und des peripheren Nervensystems zuständig.

  • Vor allem die Aktivität an den peripheren CB1–Rezeptoren trägt zur Analgesie bei.

  • CB2–Rezeptoren werden auf C–Fasern exprimiert und nach einer Schädigung der Nervenfasern hochreguliert. Sie werden aber auch auf den Keratinozyten der Epidermis exprimiert. Ihre Aktivierung führt zu einer Analgesie für noxische Temperaturreize, indem Beta–Endorphin produziert und ausgeschüttet wird.

  • Das ECS steht mit dem Arachidonsäurezyklus in enger Beziehung. Die antiinflammatorische Wirkung von Indometacin und Flurbiprofen ist auf funktionierende CB1–Rezeptoren angewiesen.

  • Die koordinierte Freisetzung von 2–AG und AEA führt zur Aktivierung deszendierender Schmerzhemmbahnen und zur stressinduzierten Analgesie (SIA).

  • Es bestehen synergistische Effekte zwischen der Cannabinoid– und Opioidanalgesie, wodurch Toleranzeffekte gegenüber Opioiden reduziert werden können.

  • Im Gegensatz zu tierexperimentellen Befunden sprechen die wenigen vorliegenden klinischen Daten nicht für den Einsatz exogen zugeführter Cannabinoide zur Akutschmerztherapie.

  • Mehrere randomisierte, plazebokontrollierte Studien lassen den Schluss zu, dass Delta9–Tetrahydrocannabinol (THC) und die Kombination aus THC und Cannabidiol (CBD) Spastik und Schmerz reduzierende Effekte bei Patienten mit Multipler Sklerose aufweisen.

  • Die Beimischung von CBD in einer oromukosalen Verabreichung – „cannabis based medicine” (CBM) – verbessert die therapeutische Breite von THC.

  • Unter dem Handelsnamen Sativex® wurde das CBM–Spray von der kanadischen Gesundheitsbehörde 2005 zur symptomatischen Linderung von neuropathischen Schmerzen, die im Zusammenhang mit einer MS–Erkrankung bestehen, zugelassen.

  • Analgetische und antiinflammatorische Effekte könnten von psychotropen Störwirkungen noch besser differenziert werden durch Cannabinoide, die überwiegend periphere Cannabinoidrezeptoren aktivieren, und durch Substanzen, die durch Inhibition von Enzymen des Endocannabinoidsystems zu einer erhöhten Konzentration von endogenen Liganden beitragen.

Literatur

Dr. med. Michael Bernateck
PD Dr. med. Matthias Karst

eMail: bernateck.michael@mh-hannover.de