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DOI: 10.1055/s-0028-1082645
© Karl F. Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG
Den Patienten eine Haltung zu sich selbst, zueinander und zum Leben nahebringen, die sich am besten als achtsam bezeichnen lässt.
Publication History
Publication Date:
12 January 2009 (online)

Dipl. Soz.-Ges.-Päd.; Dr. rer. medic. Anna Paul
Studium der Sozialpädagogik; Zusatzqualifikation in Psychosomatischer Gesundheitsbildung und Mind/Body Medicine; Leiterin der Ordnungstherapie und Mind/Body Medicine an den Kliniken Essen-Mitte und Leiterin der Arbeitsgruppe Prävention & Gesundheitsförderung am Stiftungslehrstuhl für Naturheilkunde und Integrative Medizin der medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen; Schwerpunktgebiete: Weiterentwicklung der Mind/Body-medizinischen Patientenversorgung als komplementärmedizinische Therapie in Klinik, Forschung und Lehre, Transfer der Mind/Body Medicine in die Prävention und Gesundheitsförderung.
DZO:
Was ist neu bei der Behandlung mit der sog. Mind/Body Medicine?
Dr. Paul:
Die Mind/Body Medicine (MBM) orientiert auf die Aktivierung und Stärkung der Selbstheilungskräfte der Patienten. MB-medizinische Interventionen regen Fähigkeiten wie Entspannung, Stressbewältigung, soziale Unterstützung und das Treffen von gesundheitsfördernden Entscheidungen bei Ernährung und Bewegung an. In der europäischen Naturheilkunde sowie in außereuropäischen Medizintraditionen wie etwa der chinesischen oder der ayurvedischen sind Zusammenhänge zwischen Lebensführung und Gesundheit seit langem Gegenstand der Behandlungen. Die Beschäftigung mit dem Phänomen Stress und mit stressbedingten chronischen Erkrankungen, die wachsende Kenntnis über die Funktionsweise des Immunsystems sowie die Entwicklung bzw. Entdeckung von Methoden der Selbstfürsorge wie etwa der Progressiven Muskelentspannung, des Yoga oder der Meditation führten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Nordamerika zur Entwicklung der sogenannten Mind/Body Medicine (MBM). Verstärkt wurde diese Entwicklung noch durch die in der Gesundheitspolitik zunehmende Beachtung präventiver Strategien und durch die Erweiterung der pathogenetisch geprägten Sicht, die bis dahin die Schulmedizin geprägt hatte, durch den salutogenetischen Blick. Neben der Frage nach der Entstehung und Bekämpfung von Krankheiten gewann damit die Suche nach Gründen für den Erhalt und die Förderung von Gesundheit an Bedeutung. Anders als in Europa standen und stehen in Amerika erhebliche Mittel zur Erforschung und Evaluierung lebensstilorientierter Methoden und Programme zur Verfügung. Eine evidenzbasierte MBM muss sich daher an den Interventionen orientieren, die in Amerika entwickelt und evaluiert worden sind. Mangels einer adäquaten Übersetzung hat damit auch der Begriff der Mind/Body Medicine Eingang in unseren Sprachgebrauch gefunden.
DZO:
Wie kann der betreuende Arzt ein ähnliches Konzept in der Praxis umsetzen?
Dr. Paul:
Das ist auf vielen Ebenen möglich und sinnvoll. Zuallererst haben wir natürlich die Möglichkeit, unser eigenes Leben so einzurichten, dass wir trotz der institutionellen und finanziellen Vorgaben und Engpässe für unsere eigenen Gesundheitsressourcen sorgen. Wenn es gelingt, den Patienten in der verfügbaren Zeit ungeteilte Aufmerksamkeit, Zuwendung und Wertschätzung zu geben, ihnen wirklich zuzuhören und sie als Person wahr- und ernst zu nehmen, schaffen wir ideale Bedingungen für eine heilsame therapeutische Beziehung. Und wir sind mit unserer Haltung zu uns selbst und zum Patienten natürlich auch Modell für die Haltung, die wir beim Patienten im Bezug zu sich selbst anregen möchten. Die Qualität unserer Beziehung zum Patienten ist daher eines der wirksamsten Elemente des Genesungsprozesses. Und diese Qualität können wir bewusst gestalten.
Was die Vermittlung von MB-Techniken und das Angebot von MB-Programmen angeht, da ist es sinnvoll, wenn wir selbst vertiefte Kenntnisse und Erfahrungen darin erwerben und/oder, dass wir uns in unserer Region in ein Netz von Anbietern einbinden, an die wir die Patientinnen und Patienten je nach ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten vermitteln können.
DZO:
Wo kann sich der behandelnde Arzt konkret über Mind/Body Verfahren informieren? Wo gibt es Weiterbildungsangebote?
Dr. Paul:
Mind/Body Medicine umfasst Einzelmethoden wie auch evaluierte Programme. Kurse werden z. B. vom Benson-Henry Institute in Boston (www.mbmi.org) oder in Deutschland von unserem Lehrstuhl angeboten. Die Mind/Body Summer School findet jährlich im August und ein Vertiefungsseminar ab Januar 2009 in Essen statt (Infos unter www.mindbodymedicine.de). Auf dieser Internetseite kann man sich auch einen guten Überblick über Mind/Body Verfahren verschaffen. Manche dieser Verfahren werden im Bereich der Psychoonkologie therapeutisch eingesetzt; ebenso sind die MBM-Verfahren häufig in Kliniken mit integrativen und naturheilkundlichen Konzepten wiederzufinden. Informationen über MBM Programme wie z. B. das MBSR (Mindfulness based stress reduction) nach Kabat-Zinn erhält man über den MBSR Verband Deutschland (www.mbsr-verband.org).
DZO:
Wie wird vorgegangen, wenn sich ein Patient mit einer Krebserkrankung bei Ihnen vorstellt?
Dr. Paul:
Im Anschluss an die stationäre Behandlung, begleitend oder nach Chemo-/ Strahlentherapie, bieten wir ein teilstationäres naturheilkundliches Tagesklinik-Programm speziell für onkologische Patienten an, das alle Aspekte einer gesundheitsfördernden Lebensgestaltung adressiert. Die Patienten kommen 11 Wochen lang einmal die Woche für 6 Stunden in die Tagesklinik und bekommen für die Zeit zwischen den Treffen Anleitungen für das Umsetzen der Methoden in ihren Alltag. Im Kontext einer unterstützenden Gruppe erlernen die Patienten Methoden wie Meditationen, Qigong, Yoga. Sie reflektieren ihre Ängste, Erwartungen und Befürchtungen, aber auch ihre Freuden und Passionen. Es ist Raum für die Auseinandersetzung mit den Themen Tod, Abschied, Endlichkeit und den Möglichkeiten, den gegenwärtigen Moment achtsam, voll und lebendig zu leben. Die Patienten lernen Techniken der kognitiven Umstrukturierung kennen, die es erlauben, sich aus negativen Gedankenkreisen zu befreien und von Katastrophisierungen abzusehen. Naturheilkundliche Selbstanwendungen mit Wasser, Kräutern, Wickeln und Auflagen sowie heilsame Berührung und Massage werden vermittelt und mit dem betreuenden Arzt in den ärztlichen Visiten besprochen. Und die Gruppe entwickelt sich über die elf Wochen zu einem schützenden und unterstützenden Raum, in dem geweint, gelacht und voller Lebendigkeit gemeinsam gelebt werden kann.
DZO:
Wie sieht die Kostensituation bei diesen Verfahren aus? Werden die Kosten von den Kassen übernommen?
Dr. Paul:
In der Klinik für Integrative Medizin und Naturheilverfahren, Innere V, Kliniken Essen-Mitte, wird die Mind/Body Medicine im Rahmen der integrativen Medizin im Bereich der naturheilkundlichen Ordnungstherapie eingesetzt. Die Mind/Body Medicine kommt neben der konventionellen Medizin und den naturheilkundlichen Behandlungen als komplementäres Verfahren zur Anwendung. Der stationäre Aufenthalt in unserer Klinik, wie auch die Inanspruchnahme der naturheilkundlichen onkologischen Tagesklinik wird von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Mit den privaten Kassen sollte die Kostenübernahme im Vorfeld besprochen werden. Im ambulanten Bereich, wie z. B. in unserer Ambulanz für Naturheilkunde und TCM sind die MBM-Interventionen Selbstzahlerleistungen. Grundsätzlich können die stationären Leistungen nur mit einer ärztlichen Einweisung, die unseren Diagnosen entsprechen, gegenüber den Kassen geltend gemacht werden. Die Kosten reichen von ca. 60 Euro für eine 50 Minuten dauernde Mind/Body Therapie bis zu ca. 300 Euro für einen 10 Wochenkurs in Stressreduktion durch Achtsamkeit. Die ambulanten Interventionen entsprechen aber weder im Umfang noch in der Intensität denen der stationären Leistungen. Diese sind eng verschränkt mit all den anderen Behandlungen und zeigen meist eine höhere Wirksamkeit.
DZO:
Welches Entspannungstraining halten Sie für Krebspatienten als besonders geeignet?
Dr. Paul:
Für jeden Menschen ist die Entspannungsmethode am besten, die sie oder er mit Freude regelmäßig und dauerhaft ausführt und bei der zu spüren ist, dass sie wirkt. Dann ist man motiviert, dranzubleiben und die Fähigkeit, Spannungen in Geist und Körper loszulassen, zu entwickeln. Wir möchten, dass unsere Patienten eine oder mehrere solcher für sie passenden Methoden finden und erlernen. Deshalb stellen wir immer mehrere Methoden vor und regen eine mehrwöchige reflektierte Praxis an. Das Spektrum reicht von der Progressiven Muskelentspannung über kurze atemfokussierte Minientspannungen zu Meditations- und Visualisierungstechniken, Yoga und Qigong bis hin zur bewussten Ausübung von liebevoller Güte und Vergeben. Am Ende des 11-Wochen-Programms haben dann die meisten unserer Patienten eine oder mehrere Methoden so verinnerlicht und liebgewonnen, dass sie sie auch ohne die Unterstützung durch Gruppe und Therapeut selbstständig weiter ausführen, was wir durch mehrere Befragungen im Langzeitverlauf bestätigt bekamen. Jenseits von Methoden und Techniken bringen wir unseren Patientinnen und Patienten eine Haltung zu sich selbst, zueinander und zum Leben nahe, die sich am besten als achtsam bezeichnen lässt.
DZO:
Welche Rolle spielen Sport und Ernährung in diesem Behandlungskonzept?
Dr. Paul:
Die gesundheitsfördernde Wirkung von Bewegung für Krebspatienten ist unumstritten (siehe Artikel Paul, Altner, Spahn, S. 173 ff.). Wir versuchen daher, ähnlich wie bei den Entspannungsmethoden, in unserem Angebot den Patienten mehrere Bewegungsformen nahezubringen, damit sie eine finden, die ihnen gefällt und bei der sie mit Freude dranbleiben möchten. Das sind eher sportliche Bewegungsformen wie Walking oder Nordic Walking, Fahrradfahren und Laufen, aber auch sanftere Formen wie Yoga und Qigong oder auch eine Form der achtsamen Bewegung, bei der systematisch alle Gelenke in einer bewussten und spielerisch-tänzerischen Qualität in Bewegung gebracht werden. Zum Praktizieren im Alltag geben wir unseren Patienten zum Teil auch CDs mit den Bewegungsanleitungen mit nach Hause. Das gilt übrigens auch für Entspannungsübungen.
Die Wirkungen einer zum großen Teil vegetarischen Vollwerternährung im mediterranen Stil erleben unsere Patienten täglich, da sich unsere Küche ganz auf diese Ernährungsform eingestellt hat. Auch die Patienten der Tagesklinik erhalten als Teil ihrer Behandlung jeweils ein vollwertiges Mittag- oder Abendessen. In Informationsveranstaltungen zum Thema Ernährung bei Krebserkrankung, durch praktische Lehrküchen, individuelle Ernährungsberatung und die Bereitstellung von Rezeptsammlungen bekommen die Patienten theoretische wie auch praktische Anleitungen, wie sie durch gesunde Ernährung ihre Ressourcen stärken können.
DZO:
Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Was tun Sie für sich, um gesund zu bleiben?
Dr. Paul:
Ich versuche, mit mir selber aufmerksam und fürsorglich umzugehen, indem ich die Signale aus meinem Innern ernst nehme, ohne dabei den Humor zu verlieren. Ich nehme mir vor, die „tägliche Katastrophe” als Herausforderung und als Einladung zu einer freundlichen Haltung zu mir selbst und zu meinen Mitmenschen zu nutzen. Genieße bewusst das kollegiale Miteinander in unserer Abteilung und freue mich über unsere Entwicklungen.
Morgens beginne ich mit einer Meditation, die ich mit einer Affirmation für den Tag beende. Über den Tag kehre ich mental immer wieder bei mir ein, indem ich kurz meinen Körper und den Atem wahrnehme. Über die Woche verteilt praktiziere ich regelmäßig Yoga, mache Ausdauertraining und entspanne mich in der Sauna. Ich pflege meine Partnerschaft und meine Freundschaften, esse vollwertig und trinke am Abend genüsslich ein Glas guten Rotwein.
DZO:
Frau Dr. Paul, vielen Dank für das Gespräch.
Korrespondenzadresse
Dr. rer. medic. Anna Paul
Ltg. Ordnungstherapie,
Mind/Body
Medicine
Innere V, Naturheilkunde und
Integrative
Medizin
Kliniken
Essen-Mitte
Knappschafts-Krankenhaus
Am Deimelsberg 34a
45276 Essen
Email: a.paul@kliniken-essen-mitte.de