Z Sex Forsch 2025; 38(03): 175-177
DOI: 10.1055/a-2670-1357
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Sexualpädagogik im Kreuzfeuer. Der Sexualkunde-Atlas 1969 und die Kritik an der schulischen Aufklärung

Marco Kammholz
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Marcus Heyn. Sexualpädagogik im Kreuzfeuer. Der Sexualkunde-Atlas 1969 und die Kritik an der schulischen Aufklärung. Gießen: Psychosozial 2023 (Reihe: Angewandte Sexualwissenschaft, Bd. 34). 563 Seiten, EUR 64,90

In der Geschichte der bundesrepublikanischen Sexualpädagogik lassen sich diverse markante Ereignisse ausmachen. Meist sind es die Phasen sexualpolitischen, -kulturellen und -wissenschaftlichen Umbruchs, die pädagogische Herausforderungen provozieren und historisch zu sexualpädagogisch relevanten Wegpunkten werden. Den Erziehungswissenschaftler Uwe Sielert veranlasste dies, die historischen Entwicklungen der Sexualpädagogik ab der Nachkriegszeit in einen Repressions-, Befreiungs-, Aufklärungs-, Präventions- und Professionalisierungsdiskurs einzuteilen (Sielert 2016: Didaktik der Sexualpädagogik: historische und systematische Kontroversen), die in der Folge für die vergangenen beiden Jahrzehnte um einen Bildungsdiskurs erweitert wurden (Henningsen, Schmidt, Sielert 2017: Gelebte Geschichte der Sexualpädagogik). Wenngleich mit einem hierzu differenten Diskursverständnis (dazu später mehr) widmet sich der Sexualpädagoge Marcus Heyn in seiner an der Universität Hildesheim angenommenen Dissertation einem neuralgischen Punkt in der Geschichte der Sexualpädagogik in Westdeutschland. Seine Studie behandelt mit einer historischen Diskursanalyse die Frage, wie sich mit dem im Jahr 1969 veröffentlichten und durch das Bundesministerium für Gesundheit beauftragten Sexualkunde-Atlas als Aufklärungsmaterial für den Schulunterricht mit Jugendlichen medial auseinandergesetzt wurde. Forschungsanlass sind dem Pädagogen die heftig geführten gesellschaftspolitischen Debatten, die sich spätestens ab dem Jahr 2014 in den Protesten gegen den baden-württembergischen Bildungsplan, welcher Überlegungen zur Verankerung des Themas sexuelle Vielfalt in den Schulunterricht anstellte, entfachten und sich teils bis heute gegen eine sogenannte „Sexualpädagogik der Vielfalt“ richten. Nicht nur die Frage, warum, sondern vor allem wie die Disziplin der Sexualpädagogik, ihr Material und ihre Methoden wiederkehrend „zum Spielball politisch-ideologischer Kämpfe geraten“ (Heyn 2023, S. 13), wird in Sexualpädagogik im Kreuzfeuer am Beispiel eines kurzen historischen Zeitraums behandelt. Materialkorpus der Studie sind 25 in Printmedien veröffentlichte Artikel, davon 16 Leserbriefe, die zwischen Juni und September 1969 in Spiegel, Frankfurter Rundschau (FR), Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Süddeutsche Zeitung (SZ), Die Welt, Bild und Bild am Sonntag (BamS) erschienen sind. Zum untersuchten Material zählen also sowohl sogenannte Boulevard- als auch sogenannte Qualitätsmedien; auch wird der Materialeinbezug nicht hinsichtlich bestimmter Textgattungen eingeschränkt. Die Beiträge reichen von redaktionell erstellten Meldungen ohne Einzelautor*in über Glossen und Meinungskommentare hin zu Gastbeiträgen von Wissenschaftler*innen.

Im ersten Kapitel wird die diskursanalytische Methodik (Diskursanalyse nach Michel Foucault, historische Diskursanalyse nach Jürgen Link, kritische Diskursforschung nach Siegfried Jäger) vorgestellt. Die Studie legt den Fokus auf sprachliche Narrative und Argumentationen, auf die Akteur*innen, die diese kundtun und die Medien, die sie im Zusammenhang der Debatte des Sexualkunde-Atlas in die Öffentlichkeit der späten 1960er-Jahre bringen. Heyn folgt dabei strikt einem von Foucault ausgehenden Forschungsprogramm und will unter Analyse von Sprachhandlungen die diskursive Produktion von Wahrheit und darin Macht entkleiden. Dass sich hierzu unter anderem noch die kognitionswissenschaftliche Metapherntheorie, systemtheoretische Versatzstücke und Butlers Performativitätsansätze hinzugesellen, macht die Untersuchung in theoretischer Hinsicht zu einem methodologisch anspruchsvollen Unterfangen. Allerdings kann der Autor dennoch klarmachen, dass er eine „linguistisch interessierte Dekonstruktionsarbeit“ (ebd., S. 218) verfolgt, mit dem Ziel, die sprachliche Erschaffung von Wirklichkeit zu durchdringen, am Beispiel der von ihm als „diskursives Ereignis“ (ebd., S. 54) charakterisierten Debatte zum Sexualkunde-Atlas.

Kapitel II beschreibt den historischen Kontext und liefert eine Antwort auf die Frage nach den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen jenes Diskursereignisses. Es wird deutlich, wie der Sexualkunde-Atlas auf eine durch die Massenmedien und -kommunikation veränderte Öffentlichkeit trifft und sich im Terrain akuter politischer Veränderungen, zu denen auch die 1968er-Proteste zählen, bewegt. Nicht nur bringt die SPD-Politikerin und damalige Gesundheitsministerin Käte Strobel das Aufklärungsheft inmitten des Wahljahres heraus, sondern sie betritt zugleich Neuland, weil die sexuelle Aufklärung bis dahin nicht zum Schwerpunkt des Gesundheitsministeriums zählte und rechtlich betrachtet erst mit dem 1992 eingeführten Schwangeren- und Familienhilfegesetz genauer staatlich geregelt wird (vgl. ebd., S. 107). Hintergrund der Veröffentlichung durch das Ministerium und prägend für die inhaltliche Ausgestaltung sind wiederum die 1968 von der Ständigen Kulturministerkonferenz (KMK) beschlossenen „Empfehlungen zur Sexualerziehung in den Schulen“, die die Bundesländer auffordern, den Bereich der sexuellen Aufklärung schulisch stärker zu fördern (vgl. ebd., S. 108). Der Sexualkunde-Atlas stellt dabei nicht das erste aufsehenerregende Material dar, denn bereits kurz zuvor hatte die frisch gegründete Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung unter Beteiligung der Ministerin den sehr erfolgreichen Aufklärungsfilm „Helga – Vom Werden des menschlichen Lebens“ produziert und veröffentlicht. Heyn deutet diesen Materialschub als Ergebnis einer sexualpolitischen Dialektik: „Es galt, im öffentlichen Interesse massentaugliche sexualpädagogische Angebote zu unterbreiten, um zugleich die konservativen sexualpolitischen Werte zu stabilisieren“ (ebd., S. 104).

Der Sexualkunde-Atlas selbst besteht aus 48 Seiten im DIN-A4-Hardcover-Format, ist für den Schulunterricht gedacht zur Unterstützung von Lehrkräften in der sexuellen Aufklärung, dient der Wissensvermittlung an die Schüler*innen und adressiert zugleich ebenfalls Eltern und Erzieher*innen. Die Titelunterschrift „Biologische Informationen zur Sexualität des Menschen“ zeigt die inhaltliche Richtung des Atlas an. In 12 Kapiteln wird biologisches Körper- und Sachwissen mit Fokus auf Zeugung, Schwangerschaft, Geburt und Geschlechtskrankheiten unterbreitet, mit dem Anspruch einer wissenschaftlichen Fundierung und neutralen Darstellungsweise (vgl. ebd., S. 118). Heyn macht kenntlich in Zusammenhang mit welchen Wandlungsprozessen der Jugendsexualität der Sexualkunde-Atlas und seine inhaltliche Ausrichtung verstanden werden müssen: Die Mehrheit der jungen Menschen war vorehelich sexuell aktiv, Masturbation und Oralsex als häufige Sexualpraxis durch u. a. die Kinsey Reports empirisch bestätigt, Mittel der Empfängnisverhütung waren verbreitet und der Orgasmus und seine Zyklen durch die Arbeiten von Masters und Johnson medizinisch und medial stärker im Blick. Vor diesem Hintergrund ist erklärbar, warum der Sexualkunde-Atlas sich in einer Abgrenzungsbewegung von strikt konservativ und kirchlich geprägten Sexualitätsvorstellungen wiederfindet. Dies äußert sich bspw. in der Darstellung von Selbstbefriedigung als entwicklungsangemessen und unschädlich, der partiellen Thematisierung (auch weiblicher) sexueller Lust, der weniger strikten Verknüpfung von Ehe und Geschlechtsverkehr und der teilweisen Beschreibung von Schwangerschaft oder Geburt als verhinderbar (vgl. ebd., S. 135). Nichtsdestotrotz bleiben die Darstellungsweisen „bildlich in den Kontext von Zeugung und gesundheitlichen Gefahren des Geschlechtsverkehrs gesetzt“ (ebd., S. 132), was die in den dann untersuchten Artikeln häufig problematisierend herausgestellten Fotografien bezeugen: Sie zeigen einen schwerwiegend von Syphilis-Symptomen befallenen Penis, eine Vulva, aus der der Kindskopf während einer Geburt ragt und die auf einer medizinischen Platte liegende Plazenta (vgl. ebd., S. 130 ff).

In Kapitel III und IV wird schließlich jeder der 25 Artikel einzeln und Zeitung für Zeitung einer Feinanalyse nach wiederkehrendem Untersuchungsmuster unterzogen. Auf nahezu störrische Weise werden auf insgesamt 250 Seiten jeweils die Zeitungsinstitution, der*die Autor*in, das Storytelling und die Gesamtinterpretation der Diskurse in der behandelten Pressepublikation zusammengefasst. Der Autor macht sich die Mühe, lexikalische, syntaktische, rhetorische und teils typografische Formen herauszuarbeiten und auf die Vermittlungsstrategien und Argumentationsmuster zu übertragen. Alles dient entsprechend dem methodischen Vorgehen der Auskunft über Narrationen und Sprachhandlungen. Dabei ist in der Tat erkenntnisreich, wie in den Artikeln, die das Aufklärungsmaterial mehrheitlich ablehnen, linguistisch betrachtet gearbeitet wird: Aus dem Sexualkunde-Atlas wird ständig ein „Sex-Atlas“, die Gesundheitsministerin wird zur Alleinverantwortlichen für die Gefährdung und negative Beeinflussung von Jugendlichen gemacht, es wird verzerrt, verkürzt, vermischt, dramatisiert, behauptet, diffamiert, versinnlicht oder das Sprechen über den Inhalt (Sexualität) wird euphemistisch vermieden und verschleiert.

Dennoch überträgt sich die akribische Mühe im Aufbau der Buchabschnitte auch auf den Leser. Insbesondere Kapitel III ist langatmig und nur mühsam aufzunehmen, was mitunter auch am lehrerhaft anmutenden Vorgehen und Ton des Autors liegen mag. In der rein auf die Sprache gerichteten Analyse der Artikel wird außerdem selten die Frage berührt, ob die Autor*innen nicht vielleicht auch politisch, gesellschaftsanalytisch oder pädagogisch etwas von der Sache verstanden haben und deshalb entschieden, emotional oder polemisch sprechen. Heyns Beurteilungen der jeweiligen Sprechakte suggerieren jedenfalls immer wieder, dass die neutrale Darlegung und Vermittlung von Informationen, dem Ausdruck von Affekten oder der Erregung von Aufmerksamkeit im Kontext (sexual-)politischer Einschätzungen vorzuziehen sind. Dabei sind die untersuchten Artikel aber keine wissenschaftlichen Publikationen, sondern Erzeugnisse publizistischer, feuilletonistischer und politischer Öffentlichkeit, die bekanntlich von widerstreitenden Positionen und Interessen durchzogen ist. Mühe bereitet daher auch die Sprache des Studienautors selbst, die teils lähmend beschreibt („Hinsichtlich syntaktischer Textmerkmale kann ein ausschließlich aktivischer Gebrauch der Verben und der ausschließliche Gebrauch von Aussagesätzen festgestellt werden“ (S. 202)) oder Banales bloß wiedergibt („Es ist anzunehmen, dass Informationen, die sich in den fettgedruckten Abschnitten befinden, vom Autor oder der Redaktion als besonders wichtig eingeschätzt wurden bzw. besonderes Leseinteresse wecken sollen“ (ebd., S. 304). Nimmt man vor diesem Hintergrund verschiedene, historisch wirksame Ideale der sexuellen Aufklärung an, wie das der konservativen Bewahrung, der revolutionären Befreiung oder der sachlichen Nüchternheit, so liegt es nahe, Heyn anhand seiner methodischen und stilistischen Prämissen zum Vertreter jener letztgenannten Strömung zu erklären.

In den letzten beiden Kapiteln findet Heyn wieder zu einer einnehmenderen Sprache und stellt zugleich seine sexualkulturelle Interpretationsfähigkeit unter Beweis. Er kann am Beispiel der medialen Debatte zum Sexualkunde-Atlas zeigen, wie sich das Sexualitätsdispositiv in Westdeutschland wandelt (vgl. ebd., S. 379). Einerseits evoziert durch die Medialisierung und Kommerzialisierung von Sexualität, die Reform des Sexualstrafrechts und die Richtlinien zur schulischen Sexualerziehung, die im Übergang von den 1960er- in die 1970er-Jahre als technisch-ökonomische und rechtliche Entwicklungen von statten gehen (vgl. ebd.) und eine Liberalisierung sexueller Kultur sowie ein Ende des Sittlichkeitsdogmas einläuten (vgl. ebd., S. 386). Andererseits korrigiert Heyn die, seinen Befunden nach, ungenaue Einschätzung, wonach im besagten historischen Zeitraum die sexualfreundlichen bis -begeisterten Stimmen aus dem linksalternativen bis linksradikalen Milieu überwogen und deutlichen Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung genommen hätten. Demgegenüber hält er fest: „Dem Stereotyp, die sexualbezüglichen Diskurse seien in den ‚langen 1960er-Jahren‘ von einem revolutionären Geist beseelt, muss die Untersuchung ebenso eine Absage erteilen, wie dem Sielert’schen Postulat des sexuellen Befreiungsdiskurses der späten 1960er-Jahre“ (ebd., S. 402). Und weiter: „Dass eben mit der Befreiung der Sexualität, die mitnichten revolutionäre Züge trug, zugleich auch konservativ-autoritäre Gesellschaftsentwürfe Kommunikationsmacht erhielten, die den Sexualitätsdiskurs der BRD ebenso bestimmten“ (ebd., S. 405; Herv. i. O.). Damit gelingt der Untersuchung erstens ein an konkretem, aber in der Summe recht begrenztem Material erarbeiteter, neuer Akzent in der Interpretation sexualpädagogischer Geschichte und zweitens eine Möglichkeit, analytisch an die heutigen Angriffe gegen die Sexualpädagogik anzuknüpfen. Es wäre ohne Zweifel spannend, die medialen und teils extrem reißerischen Stellungnahmen zur gegenwärtigen Didaktik der Sexualpädagogik, wie sie sich aktuell zum Beispiel in der Zeitschrift EMMA (Ross (2024): Was passiert in den Kitas?) erneut zeigen, hinsichtlich narrativer und argumentativer (Dis-)Kontinuitäten zu untersuchen.

Abschließend lässt sich noch kritisch und würdigend auf zwei letzte Aspekte von Sexualpädagogik im Kreuzfeuer hinweisen: Die stetige Verwendung des Begriffs der „Sexuellen Bildung“, auch bezogen auf die historischen Zusammenhänge irritiert, handelt es sich dabei doch um ein Konzept der Gegenwart, welches zudem theoretisch nur unzureichend ausgearbeitet ist und sich somit nur denkbar schlecht auf die 1960er-/70er-Jahre anwenden lässt. Sehr positiv fällt die (an die Arbeiten der Historikerin Dagmar Herzog anschließende) konsequente Deutung der Geschichte der Sexualpädagogik als Teil der widersprüchlichen, post-nationalsozialistischen Bewältigung des Dritten Reichs und seiner Sexualmoral auf. In der bestehenden Literatur sexualpädagogischer Autor*innen bleibt dies häufig unterbelichtet oder man lässt die Geschichte der modernen Sexualpädagogik erst 1945 beginnen.

Marco Kammholz (Köln)



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Article published online:
05 September 2025

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