Z Sex Forsch 2025; 38(03): 178-179
DOI: 10.1055/a-2670-1302
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The Quest for Sexual Health. How an Elusive Ideal Has Transformed Science, Politics, and Everyday Life

Marco Kammholz
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Steven Epstein. The Quest for Sexual Health. How an Elusive Ideal Has Transformed Science, Politics, and Everyday Life. Chicago, IL/London, UK: The University of Chicago Press 2022. 449 Seiten, EUR 34,50.

Tippt man bei Google „Sex ist gesund“ ein, liefert einem die Suchmaschine in den ersten drei Antworten Beiträge der Krankenkassen AOK, BARMER und DAK. Damit ist unschwer zu erkennen, dass Sexualität überhaupt kein abseitiges oder gar tabuisiertes Thema mehr ist, sondern längst das Interesse von zentralen Gesundheitsinstitutionen erlangt hat. Dass die Förderung sexueller Gesundheit eine stetig wachsende Aufmerksamkeit erhält und sich ganz unterschiedliche Akteur*innen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Aktivismus oder Selbsthilfe auf dieses Ziel einigen können, hat jedenfalls das Forschungsinteresse des Soziologen Steven Epstein geweckt. Der an der privaten Northwestern University in Evanston (Illinois) ansässige Professor der Soziologie stellt in seiner Untersuchung The Quest for Sexual Health die begriffliche und konzeptuelle Verbindung von Sexualität und Gesundheit in Medizin, Politik und Medien in den Mittelpunkt und will vor allem zeigen, wie die Begriffskombination der sexuellen Gesundheit beide seiner Teile einer Veränderung unterzieht. Man könnte in dieser Hinsicht auch sagen, dass sexuelle Gesundheit einen neuen Signifikanten darstellt, der sowohl die Frage nach dem Verständnis und der Bewertung von Sexualität als auch die nach der Definition und „Handhabung“ von Gesundheit berührt. Unter der Chiffre der sexuellen Gesundheit lassen sich nämlich, wie Epstein aufzeigt, teils sehr konträre Ziele und Werte verfolgen, die von Lust, Rechten, Verantwortung, Autonomie, Freiheit, Begehren, Integration bis hin zur Religiosität reichen (vgl. S. 14). Und mehr noch: „I argue that ‚sexual health‘ has been put to use in ways that help give form to how we imagine what it means to be a citizen, achieve happiness or well-being, secure social order, or work collectively toward a better future for the society“ (S. 8; Herv. i. O.). Methodisch bahnt sich die Studie mittels Feldforschung und kritisch-hermeneutischer Analyse einen Weg durch ganz unterschiedliche wissenschaftliche, publizistische und mediale Sphären. Im Studienaufbau geht der Autor in drei Schritten vor.

Kapitel I behandelt die historische Konstruktion des Begriffs der sexuellen Gesundheit. Epstein liefert Einblicke in die Diskurse der Sozialhygiene des frühen 19. Jahrhunderts und Beispiele aus US-amerikanischen Eheratgebern des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die mit dem Anspruch der wissenschaftlichen Fundierung Tipps für ein gesundes und „anständiges“ Sexualleben liefern sollten (vgl. S. 39 ff). In dieser diskursiven Gemengelage wird Sexualität durch die Verbindung mit Gesundheit moralisch „desinfiziert“ und zugleich verwissenschaftlicht (vgl. S. 89 f). Mit einer statistischen Darstellung kann Epstein zudem veranschaulichen, wie von 1910 bis 1950 eine Welle an Publikationen zur Sozialhygiene auf- und wieder abflammt, ab den 1990ern entsteht eine ähnlich hohe und wellenartige Steigerung an Veröffentlichungen unter dem Titel der sexuellen Gesundheit (vgl. S. 52). Grundlage für dieses publizistische Hoch in den 1990er-Jahren bilden für Epstein unter anderem die Begriffs- und Konzeptentwicklungen innerhalb der Weltgesundheitsorganisation (WHO). 1974 entwickelt eine Gruppe von vor allem sexologischen Expert*innen eine WHO-Arbeitsdefinition der sexuellen Gesundheit: „Sexual health is the integration of the somatic, emotional, intellectual, and social aspects of sexual being, in ways that are positively enriching and that enhance personality, communication, and love“ (S. 55). Epstein bescheinigt dieser Erstdefinition ein „Ideal der Positivität“ (S. 57), das in der Folge Sexualität und ihren produktiven und angemessenen Gebrauch zu einem sozialen und persönlichen Gut werden lasse (vgl. S. 58). Eine weitere Expertengruppe der WHO kann sich 1987 aber auf keine objektive Begriffsdefinition einigen (vgl. S. 97). Maßgeblich beeinflusst haben dürfte das der beteiligte bundesdeutsche Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt, der emphatisch auf die Gefahr einer normativen, auf das Gute und Liebevolle beschränkten Definition sexueller Gesundheit hingewiesen hatte (siehe auch Schmidt (1988): „Sexuelle Gesundheit“ als Säkularmoral). Sexualpolitisch entscheidend ist nun Epsteins Beobachtung zur weiteren historischen Entwicklung: Von jenen kritischen Hinweisen scheint nämlich bei der Weiterarbeit der WHO zum Thema ab der Jahrtausendwende keine Spur mehr übrig geblieben (vgl. S. 98). In einem Arbeitsbericht von 2000 und in der Neudefinition von 2006 wird sexuelle Gesundheit umso stärker mit Wohlbefinden, „sexuellen Rechten“ und Verantwortung verknüpft (S. 102–108). Vor diesem Hintergrund hat Epstein 2013 gemeinsam mit Laura Mamo anhand der Inhaltsanalyse von medizinwissenschaftlichen Journals, populären Tageszeitungen und themenspezifischen Homepages dargelegt, wie mit dem buzzword der sexuellen Gesundheit mittlerweile eine Vielzahl an sozialen Problemen adressiert und vor allem gelöst werden soll: Reduktion des STI-Risikos durch Überwachung, Prävention und Behandlung, sexualmedizinische Begleitung von Funktionsstörungen, Kontrolle des Bevölkerungswachstums, Beseitigung sozialer Ungerechtigkeit, Verhinderung von bedrohlichem und „unverantwortlichem“ Sexualverhalten sowie Förderung der sexuellen Selbstverwirklichung und des Wohlbefindens (S. 66–71).

Das zweite Kapitel nimmt die Operationalisierung sexueller Gesundheit in den Blick. Epstein will zeigen, wie durch Standardisierung, Klassifizierung und Diagnostizierung sexuelle Gesundheit zu einem Wissensobjekt und zugleich handlungsleitenden Alltagsbegriff wird. Als Beispiel dienen ihm zunächst die medizinischen Sexualanamnesen, die Risikoverhalten definieren und mit Behandlungsimplikationen verknüpfen (vgl. S. 132) und sexuelle (Dys-)Funktionen anhand von körperlichen und psychischen Kapazitäten begreifbar machen wollen (vgl. S. 135). Ausführlich geht Epstein außerdem auf das neue Kapitel „Conditions related to sexual health“ im ICD-11 ein, welches sexualitäts- und geschlechtsbezogene Phänomene nicht mehr zwingend unter den psychischen Störungen fasst. Bezogen auf die Geschlechtsinkongruenz hebt der Soziologe den entstigmatisierenden und de-psychiatrisierenden Effekt im neuen ICD-11 hervor (vgl. S. 139 ff). Insofern mit dem zeitgenössischen sexuellen Gesundheitsbegriff Kommunikation, Rechte und individuelle Verantwortung im Zentrum stünden, sei es zudem folgerichtig, dass nunmehr das Kriterium der Einwillung(sfähigkeit) entscheidend für die Diagnose einer paraphilen Störung geworden ist (vgl. S. 153). Kritisch äußert Epstein sich zur im ICD-11 neuen Diagnose der „Compulsive Sexual Behavior Disorder“. Diese beinhalte weiter das Problem des sexuellen Exzesses, sei nun aber gleichsam desexualisiert unter den allgemeinen „Impulse Control Disorders“ und eben nicht „related to sexual health“ (vgl. S. 155).

Im Anschluss behandelt Epstein die Riege an neuen „Expert*innen“ der sexuellen Gesundheit, die hybride zwischen Professions- und Alltagswelt changieren würden (vgl. S. 180). Es gelingt ihm durch Beschreibung der vor allem im Feld der Sozialen Medien aktiven Coaches und Aktivist*innen vortrefflich, das Gegenwartsphänomen eines deutlich vervielfältigten und intensivierten Engagements in den Blick zu nehmen, das Sexualität, Gesundheit und Wohlbefinden miteinander verknüpft (vgl. S. 188). Hier kann Epstein durchaus aufzeigen, wie eine Verbindung besteht zwischen dem veränderten Verständnis von Gesundheit und Sexualität und der immer stärker um sich greifenden (ungefragten) Sexualberatung durch die sexpositiven Sozialfiguren unserer Zeit in Sozialen Medien, Werbung und Bildungsinstitutionen. Auf eine einigermaßen groteske Erscheinung deutet Epstein in diesem Zusammenhang besonders hin: Auch die kommerzielle Pornografieplattform Pornhub betreibt ein sogenanntes Sexual Wellness Center und liefert Informationen zu sexueller Bildung und Gesundheit (vgl. S. 191 f). Es wundert aber, dass Epstein trotzdem zu einer auffallend affirmativen Einschätzung gegenüber der Diversifikation der sexuellen Gesundheitsexpertise kommt: Heutzutage bestünde eben kein Monopol mehr auf die normativen Setzungen, im Gegenteil, es blühe eine Art „plurarchy“ (S. 200).

Kapitel III fokussiert auf die (marktorientierte) Ausweitung sexueller Gesundheit auf Optimierung, Angebote des sogenannten Sexual Wellness in der Tourismus- und Beautyindustrie sowie Bildungskampagnen von politisch linker und rechter Seite. Im Kontext neoliberalen Risikomanagements würden Praktiken der individualisierten Selbstbeobachtung und -steuerung zum Einsatz kommen, die der Arbeit an der Verbesserung des eigenen, sexuellen Wohlbefindens dienen. Ein irritierendes Beispiel liefert Epstein mit der von der biopharmazeutischen Firma Gilead 2017 in Konzernwerbung verbreiteten sexuellen Identität „healthysexual“ (S. 226), die auf eine besondere Ausprägung von Optimierung und Kontrolle von Sexualität und Gesundheit unter (HIV-positiven und -negativen) schwulen und bisexuellen Männern aufmerksam macht (vgl. S. 227 f). Sexuelle Gesundheit erscheint dabei als eine Art Eigentum und individuelle Ware. Hinsichtlich der politischen Landschaft in den USA erkundet Epstein einerseits die christliche Rechte, die unter dem Stichwort der sexuellen Gesundheit eine biblisch begründete Reinheit, Integration und Ganzheit, mitsamt der Forderung nach dem Verzicht auf vorehelichen Sex, verfechtet (vgl. S. 266 ff). Andererseits verweist der Autor auf linksliberale Forderungen nach der Verhinderung sexueller Übergriffe und der Vermittlung eines Ideals der sexuellen Einvernehmlichkeit, die im Kontext von #MeToo mit sexueller Gesundheit begründet werden (vgl. S. 274 ff). Epstein behandelt diese Diskurse zwar teils betont kritisch, kommt aber abschließend selbst auf ein Konzept von „biosexual citizenship“ (S. 238) zurück, das recht vage auf eine Utopie kollektiver Selbstbestimmung in Bezug auf Körper, Lust und auch Gesundheitsinstitutionen anspielt (vgl. S. 306). Trotz der klugen Analysen im Laufe der Studie, die die Konsequenzen der neuen Begeisterung für die sexuelle Gesundheit beleuchten, bleibt auch Epstein von der Idee eingenommen „to permit everyone to have their best sex with the least harm possible“ (S. 293). Durch solche gleichsam sexpositiven Stellungnahmen entgeht Epstein aber letztlich die Chance zur Ideologiekritik. Sie würde darin liegen, sowohl die neue Diskursivierung eines sexuell gesunden als auch jene des sexuell gefährdeten und gefährdenden Subjekts – wie es zuletzt einige US-amerikanische Queertheoretiker*innen zu beschreiben versucht haben (Halperin und Hoppe 2017: The War on Sex) – konsequent als Ausdruck ein und desselben gesellschaftlichen Verhältnisses zu begreifen.

Marco Kammholz (Köln)



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
05. September 2025

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