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DOI: 10.1055/a-2664-2783
Prekäre Freizügigkeit. Sexarbeit im Kontext von mobilen Lebenswelten osteuropäischer Migrant*innen in Berlin



Eines vorweg: Der Rezensent ist kein Sexualforscher, sondern hat dieses Buch aus der Perspektive eines Migrationsforschers gelesen, der sich sowohl für die Rassifizierung von Menschen aus Osteuropa im Westen wie auch für die Aushandlung freizügiger Migration interessiert. Entsprechend wird die Rezension auf diese Aspekte fokussieren und andere Themen dieser, so viel sei auch bereits gesagt, eindrucksvollen und facettenreichen anthropologischen Forschungsarbeit außen vorlassen.
In gewisser Hinsicht ist diese Schwerpunktsetzung auch im Sinne der Autorin: Gemäß ihrer Herangehensweise liegt die Betonung bei der Sexarbeit, mit der sie sich befasst, auf der Arbeit – es ist ein Job, den zumindest manche der untersuchten Personen alternativ zu anderen körperlich herausfordernden Tätigkeiten ausführen, beispielsweise in der Pflege (ausführlich untersucht in Kapitel 7). Dabei stellt Ursula Probst nicht in Abrede, dass es im Sexarbeitssektor hochgradig prekäre Lebens- und Arbeitsbedingungen gibt. Wie sie aber argumentiert, erlaubt die Darstellung der „Sexarbeit als vermeintlich abgeschlossener und singulärer Bereich besonderer Prekarität […] es, andere prekäre Arbeitsbereiche als ‚gute‘ Alternative zu präsentieren. Damit werden nicht nur breitere Prekarisierungsprozesse verschleiert, sondern auch die z. B. im Reinigungs- und Pflegesektor vorhandenen Ausbeutungsformen als für ‚osteuropäische‘ Arbeitskräfte angemessene oder gar vorteilhafte Alternative legitimiert“ (S. 231). So gesehen befindet sich Sexarbeit auf einem Spektrum von miteinander verbundenen Ausbeutungsformen, die die im Titel des Buches genannten „mobilen Lebenswelten“ der osteuropäischen Migrant*innen prägen.
Diese Konstellation hängt mit der Positionierung Osteuropas und der von dort stammenden Menschen in (west-)europäischen Hierarchien zusammen und definiert die ebenfalls im Titel genannten „prekären Freizügigkeiten“. Probst befindet sich hier im Dialog mit einer Reihe von in jüngerer Zeit erschienenen Arbeiten über innereuropäische west-östliche Hierarchien und damit einhergehende ambivalente Rassifizierungsprozesse (u. a. von Aleksandra Lewicki, Ivan Kalmar, Anca Parvulescu, Linda Lapiņa und Mantė Vertelytė) im Kontext der neoliberalen Transformation des Kontinents seit 1989. Es ist die Position von Osteuropäer*innen zwischen westeuropäischem „Zentrum“ und außereuropäischer „Peripherie“, die dazu führt, dass sich die mit ihrer EU-Staatsbürgerschaft verbundenen Freizügigkeitsrechte als „prekär“ beschreiben lassen. Diesen Nexus fasst Probst in der Einleitung prägnant zusammen, wenn sie schreibt, „dass die Widersprüche und Prekaritäten in ihren Lebensrealitäten nicht bloß einen Nebeneffekt, sondern einen festen Bestandteil der Konsolidierung eines neoliberalen (West-)›Europa‹ als hegemoniale ›europäische Idee‹ darstellten. Denn ihre ambivalente Position in (west-)›europäischen‹ Hierarchien bedeutete, dass die ›europäischen Freizügigkeiten‹ der Forschungsteilnehmer*innen zwar vorhanden, aber zugleich prekär waren. Nach der Verwirklichung eines ›guten Lebens‹ in ›Europa‹ konnte also zwar gestrebt werden – dessen Erfüllung aber wurde zugleich strukturell verhindert.“ (S. 22)
Für die Untersuchung der Rassifizierungsprozesse osteuropäischer Migrant*innen stellt die Sexarbeit insofern einen besonders geeigneten Untersuchungsgegenstand dar, als dass hier die Körperlichkeit der arbeitenden Personen in besonderer Weise im Mittelpunkt steht. In Kapitel 5 geht es um die ebenfalls prekäre Positionierung von Osteuropäer*innen in Hierarchien des „Weißseins“ (whiteness). Ein Spezifikum der Rassifizierung osteuropäischer Menschen besteht in ihrer potenziellen „Unsichtbarkeit“ in einer weißen Dominanzgesellschaft, was den beforschten Personen z. T. auch bewusst ist. Diese potenzielle Unsichtbarkeit koexistiert aber mit anderen „verkörperlichten Merkmalen“ der Differenzierung (Phänotyp, Sprache) und in „Intersektion mit anderen verkörperlichten Strukturen wie Geschlecht“ (S. 138) sowie sozialer Klasse. Besonders eindrücklich in dieser Hinsicht ist das von Probst angeführte Beispiel der „Steckbriefe“ auf Online-Plattformen für Escorts, in denen die sich anbietenden Frauen ihre Körper anhand verschiedener Merkmale beschreiben, darunter „Typ“ – und zu den Typen gehört neben „südländisch“ und „afrikanisch“ auch „osteuropäisch“ (S. 140). Hier kommen also „verkörperlichte Konstruktionen von ›Osteuropa‹ bzw. ›Osteuropäisch-Sein‹“ (S. 141) in den Blick. Die Schwierigkeiten der konzeptuell-abstrahierten Terminologie von „Weißsein“ treten hier allerdings auch zu Tage: es nicht unmittelbar nachvollziehbar, warum Osteuropäer*innen gemäß diesen Kategorisierungen als „nicht-ganz-weiß“ gelten sollten, wie die Autorin nahelegt. Welche Kategorien die Differenzbeschreibung „osteuropäisch“ im konkreten Fall ausmachen bleibt offen, die Hautfarbe ist es aber jedenfalls nicht (wie Probst auf S. 141 selbst festhält). Gerade aus anthropologischer Sicht sollten hier die emischen, feldimmanenten Kategorien maßgeblich sein; diese werden aber durch die Einordnung in Kategorien von „weißer“ bzw. „nicht-ganz-weiß“ in ein etisches Schema gefügt.
Wie die Autorin weiter argumentiert, verschmelzen in der Kategorie „osteuropäisch“ in starkem Maße „rassifizierte, ethnisierte und soziale verkörperlichte Differenzierungs- und Hierarchisierungsmechanismen“ (S. 144). Die Zuschreibung „osteuropäisch“ beinhaltet ganz zentral ein klassistisches Armutsstereotyp, dem man sich durch ein entsprechendes Auftreten als „reich“ wiederum auch entziehen kann. Die klassistische Zuschreibung hat aber auch andere materielle Konsequenzen, da man als so identifizierte „osteuropäische“ Sexarbeiterin weniger verdiene und als besonders „verfügbar“ gelte – ein „Nachklang nationalsozialistischer Ideologien“, wie Probst argumentiert, „die ›Slaw*innen‹ deutschen Menschen unterordnete und ihnen einen Platz in dieser Ideologie zuwies, der ihre Ausbeutung als ›minderwertige‹ Zwangsarbeiter*innen rechtfertigte und dabei im Falle von Frauen auch sexuelle Ausbeutung legitimierte“ (S. 151). Dabei sei auffällig, dass die Erfahrungen der beforschten Frauen in Deutschland v. a. auf eine „Abwertung als vermeintlich willenlose und für »alles« verfügbare Frauen“ verwiesen, „weniger aber von einer Hypersexualisierung als sexuell aktive ›femme fatale‹“, die in der Erzählung einer anderen Probandin über ihre Erfahrungen in Großbritannien anklängen.
Dies sind, wie eingangs gesagt, nur einige Aspekte dieses insgesamt sehr reichhaltigen und lesenswerten Buches. Man kann die Forschungsarbeit der Autorin, deren (herausfordernde) Bedingungen im Sinne der anthropologischen Methode im Buch vorbildlich offengelegt und reflektiert werden, nur bewundern. Ihre Ergebnisse zeigen auch, dass es häufig der Blick auf die „Ränder“ – in diesem Fall die Schattenwelt der Sexarbeit – ist, der eine hellsichtige Analyse größerer Zusammenhänge – in diesem Fall prekärer und rassifizierter Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Kontext des europäischen Freizügigkeitsregimes – erlaubt.
Jannis Panagiotidis (Wien)
Publication History
Article published online:
05 September 2025
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