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DOI: 10.1055/a-2650-8293
Ethik wohldosiert



Buyx A. Leben und Sterben. Die großen Fragen ethisch entscheiden. Frankfurt am Main: S. Fischer; 2025; 303 Seiten, 24,– €, ISBN: 3103975236
11 637 Schlagwörter verzeichnet das VBL (Verzeichnis Lieferbarer Bücher) am 25. Juni 2025 zum Thema Ethik. Wahrhaft kein Ausdruck eines Mangels an Literatur zu diesbezüglichen Fragen. Mit ihrem neuesten Werk hat Professorin Dr. med. Alena Buyx den bisherigen Bücherreigen um ein Werk bereichert, dessen Erscheinen ein für ein Sachbuch extrem großes Medienecho hervorgerufen hat. Vielleicht, weil der Titel „Leben&Sterben“ ein zentrales Thema der Menschheit so pointiert und unverblümt präsentiert? Vielleicht auch, weil die Diskussionen über Sterbebegleitung, Sterbehilfe und assistierten Suizid zunehmend offener und differenzierter geführt werden? Weil palliativmedizinisches und hospizliches Gedankengut immer mehr zum Alltag gehören? Wahrscheinlich gilt auch hier der wichtige Grundsatz des multifaktoriellen Bedingungsgefüges, zu dem in diesem Fall auch die mediale Präsenz der Autorin und ihre ausgeprägte Fähigkeit gehören, komplexe ethische und philosophische Fragestellungen in hoher Allgemeinverständlichkeit darzustellen – und damit dem Untertitel des Buches voll gerecht zu werden, nämlich: DIE GROSSEN FRAGEN ETHISCH ENTSCHEIDEN.
Bereits die Einleitung, in der erwartungsgemäß die Prinzipienethik mit ihren verschiedenen philosophischen Ansätzen als „handwerkliche Basis“ der nachfolgenden Darstellungen benannt wird, zeigt die propädeutische Sorgfalt der Autorin, mit der scheinbar bekannte Begrifflichkeiten präzise hergeleitet werden. Da erfahrungsgemäß immer noch eine gewisse Unsicherheit in der Benennung der vier wesentlichen medizinethischen Prinzipien herrscht, seien diese hier erwähnt:
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Prinzip des Respekts vor Selbstbestimmung von Patientinnen und Patienten
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Prinzip des Nichtschadens (primum non nocere)
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Prinzip der Fürsorge
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Prinzip der Gerechtigkeit
Als „analytische Matrix“ dienen diese Prinzipen in allen nachfolgenden Fallkonstellationen und Konfliktsituationen, die dargestellt und diskutiert werden. Ebenfalls bereits in der Einleitung wird auf das wichtige Verhältnis von Medizinethik und Recht hingewiesen, das zumal in der Forschungsethik zunehmend an Bedeutung gewinnt.
Als langjähriges Mitglied im Deutschen Ethikrat, dessen Vorsitzende sie von 2020–2024 war, hat Alena Buyx wesentlich an Fragestellungen biomedizinischer und Public-Health-Ethik mitgewirkt, und diesen Bogen umspannt auch das hier besprochene Buch.
Die Gliederung umfasst vier Kapitel.
1. Werden
Dargestellt werden hier ethische Debatten am Lebensanfang in eindringlicher und eindrucksvoller Weise. Herausforderungen bei extremer Frühgeburt führen zur Diskussion über den moralischen Status frühgeborenen Lebens. Aber auch Fragen der künstlichen Befruchtung und Präimplantationsdiagnostik werden umfassend dargestellt. So wurden in Deutschland bisher mehr als 400 000 Kinder mithilfe IVF-Behandlung geboren, einer In-vitro-Fertilisation, also künstlicher Befruchtung außerhalb des Körpers in einem Labor. Auch wenn die Zulässigkeit von künstlicher Befruchtung an sich inzwischen allgemeiner, ethischer, politischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Konsenz ist, gäbe es noch, so die Autorin, das „Argument der schiefen Ebene“, das heißt, es bestünde die Gefahr eines Rutsches dergestalt, dass durch die Zulassung einer Technologie wie der IVF der Weg bereitet sein könne, immer mehr Dinge im Bereich der Fortpflanzungsmedizin zuzulassen.
2. Sterben
Welche ethischen Fragen stellen sich am Lebensende? Dieser Frage begegnet die Autorin praxisnah mit Beispielen aus ihren Vorlesungen, die durchaus nicht nur auf der kognitiven, sondern auch auf der emotionalen Ebene hilfreich und lehrreich sind. Zwei Kasuistiken aus unterschiedlichen Bereichen (Intensivmedizin und Onkologie) ermöglichen eine äußerst differenzierte Darstellung möglicher ethischer Konfliktsituationen mit entsprechenden Lösungsansätzen. Dabei werden didaktisch klug und geschickt Parallelen und Unterschiede in den Fragestellungen aufgezeigt. Komprimiert, aber nie oberflächlich oder gar verkürzt werden die klassischen Themen des palliativmedizinischen Alltags dargestellt, von stellvertretender Entscheidungsfindung und Vorausverfügung über Vollmachten und Patientenverfügungen sowie vorausschauender Versorgungsplanung bis hin zu den wichtigen Begrifflichkeiten der Sterbehilfe, den Äqivalenzen von Tun und Unterlassen und den assistierten Suizid. Umfassende Darstellungen des Urteils des BVerfGE aus dem Jahre 2020 und der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates runden das Kapitel ab.
3. Sorgen
Ethik im Arzt-Patienten-Verhältnis bildet die zentrale Thematik in diesem Kapitel. Dabei geht es auch um medizinrechtliche Fragen sowie den immerwährenden Konflikt zwischen dem „medizinischen Standardfall“ aus Sicht der Behandelnden und der oft existentiell bedrohlichen Ausnahmesituation aus Sicht der betroffenen Patientinnen und Patienten. Natürlich werden auch die in diesem Kontext wichtigen Fragen von Therapieziel-Prioritäten sowie der Aufklärung und informierten Einwilligung behandelt. Besonders in diesem Kapitel zeigt sich auch die soziologische Kompetenz von Alena Buyx in den Darstellungen der Vielfältigkeiten im Arzt-Patientenverhältnis, in der Bedeutung des Vertrauens und auch in dem Umgang mit Fake-News.
4. Formen
Hinter diesem vordergründig unscheinbar anmutenden Begriff, der aber Veränderungen und Prägungen impliziert, verbergen sich ungemein wichtige Aspekte aktueller und zukünftiger Medizintechnologien. So wie die moderne Medizin ständig vor neuen Herausforderungen steht, so sehr steht sie auch vor ständig neuen Möglichkeiten. Wie nun gehen wir gesellschaftlich verantwortungsvoll mit neuen Technologien um? Welche Möglichketen und Gefahren verbergen sich in medizintechnologischen Anwendungen von Künstlicher Intelligenz? KI gilt, so die Autorin, als typische „Dual-Use“-Technologie, die, als große Technologiefamilie, einerseits viele Fortschritte und Verbesserungen in unser Leben bringen könne und bereits gebracht habe, andererseits aber auch hohes zerstörerisches Potenzial in sich berge. Diskutiert – mit großem Erkenntnisgewinn – wird auch das hierarchische Verhältnis zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Dabei gelingt es Buyx sehr anschaulich, konkrete Nutzungspotenziale aufzuzeigen und gleichzeitig den Blick zu schärfen für mögliche Gefahren durch eine Technik, über die wir die Kontrolle verlieren könnten.
Mein Fazit:
Leserinnen und Leser, die mit dem Begriff Ethik schwerverdauliche Kost verbinden, werden eines Besseren belehrt. Dieses Buch vermittelt mit nahezu spielerischer Leichtigkeit Erkenntnisse aus Philosophie, Soziologie, Naturwissenschaft und Medizin auf umfassend hohem Niveau. Damit ist es geeignet für all diejenigen, die sich einen – ja, auch kurzweiligen – Überblick über die großen Fragen verschaffen wollen. Aber es bietet auch fachlich versierten Menschen hohen Erkenntnisgewinn als Lehrbuch. Mit mehr als 360 Literaturstellen, didaktisch trefflich aufbereitet, ermöglicht es einen äußerst lesenswerten Blick auf ewig gültige Fragen.
Kurzum: für im Umgang mit ethischen Fragestellungen Fortgeschrittene ist die Lektüre ein großer Gewinn; für alle anderen ist es ein Muss.
Manfred Gaspar, Kiel
Publication History
Article published online:
29 August 2025
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