Nervenheilkunde 2025; 44(10): 643-649
DOI: 10.1055/a-2600-1140
Editorial

Lesen bildet, trotz Leseschwäche

Ein Fallbericht, der Mut machen soll

Authors

  • Manfred Spitzer

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Als Kind war ich ein sehr schlechter Leser. Nach 41 Jahren Berufserfahrung in Psychiatrie und Wissenschaft sowie vielfältiger Beschäftigung mit Lernen kann ich klar sagen, dass ich als Kind eine schwere Leseschwäche (Dyslexie) hatte: Reden konnte ich wie ein Buch, aber Lesen war sehr, sehr schwer: Ich stammelte und stotterte, wenn ich vorlesen sollte; und konnte mir einfach nicht vorstellen, wie es möglich sein soll, so schnell einzelne Buchstaben oder gar einzelne ganze Wörter mit den Augen aufzunehmen und aus ihnen flüssige Sprache zu machen. Ich jedenfalls konnte das einfach nicht und bewunderte alle, die dies mühelos konnten.

Auch das leise Lesen ganz für mich allein bereitete mir Schwierigkeiten und machte einfach keinen Spaß: ich war sehr langsam, entzifferte jedes Wort einzeln, Buchstabe für Buchstabe, was sehr anstrengend war. Und so hatte ich einfach keine Lust für längere Zeit zu lesen. So kann ich mich noch gut daran erinnern, dass ich bei meinem ersten Kinderbuch, dass mir Verwandte aus der DDR zu Weihnachten geschenkt hatten, weil ich in die Schule gekommen war („Bootsmann auf der Scholle“), nicht über die zweite Seite hinauskam. Ich hatte mehrfach angefangen, aber es war nichts zu machen. Mehrfach erlebte ich in der ersten Klasse die peinlichsten Momente meines Lebens: ich konnte einfach nicht lesen und bekam heillose Angst, denn 88 Augen und Ohren (darunter die der Lehrerin; wir waren 44 Schüler in der ersten Klasse) waren auf mich gerichtet und ich… versagte und hätte mich am liebsten auf der Stelle in Luft aufgelöst. Gerade weil ich ansonsten kein schlechter Schüler war, fiel meine Lesestörung besonders auf. Niemand – vor allem nicht die Lehrerin – konnte sich vorstellen, dass ein cleveres Kerlchen, wie ich es ansonsten durchaus war, das nicht können konnte. „Jetzt stell’ dich nicht so an!“ war noch das Netteste, was ich in solchen Situationen zu hören bekam.

Weil ich nicht lesen konnte, sondern im Grunde nur Buchstabieren, las ich kaum – selbst Comics waren viel zu anstrengend und bereiteten daher auch wirklich keinen Spaß. Und weil ich nicht las, lernte ich auch die deutsche Rechtschreibung nicht, denn wie man Wörter schreibt lernt man, indem man viele Wörter liest. Allgemein zu verstehen gab es beim Lesen nichts: Zwar ist die Spelling-to-Sound-Korrelation im Deutschen längst nicht so schlecht wie bei den Briten (die schreiben „Worcester“ und meinen „Wuster“) [1] oder gar den Franzosen, die „eaux“ schreiben, wenn sie „o“ meinen (wie z. B. bei dem Rotwein aus der Stadt Bordeaux). Aber es ist auch nicht so einfach wie im Italienischen, wo man einfach schreibt, was man hört. „Du musst nur ein paar Regeln lernen und anwenden, dann ergibt sich alles von allein“, wurde mir immer wieder gesagt, aber es stimmte einfach nicht: Der neue Bus hat ein s, die alte Nuss hat zwei. Nach dem ersten Buchstaben klingen beide Wörter aber genau gleich. Neukölln hat zwei l, das alte Köln nur eins. Schifffahrt hat drei f, aber drei Strophen haben gar keines. Weder alt noch neu führen also automatisch zur Verdoppelung; und Schiffe und Strophen haben zwar einen stimmlosen labiodentalen Frikativ gemeinsam, nicht aber ein f. – Und so versagte ich regelmäßig bei Diktaten: Der Heftrand war rot!

Dies besserte sich erst als nach der achten Klasse, als nur noch Aufsätze geschrieben wurden und man daher zum einen sich die Wörter selber aussuchen konnte und nur solche zu schreiben brauchte, von denen man halbwegs wusste, wie sie geschrieben werden. Zum zweiten kam es auf die Fehler nicht mehr so an. Plötzlich schrieb ich zum ersten Mal eine 2 in Deutsch…

Denn Gedanken machen konnte ich mir durchaus und eigentlich schon immer auch ziemlich schnell. Dies half mir durch meine gesamte Schulzeit nicht nur bei Aufsätzen, sondern beim Lösen des viel wichtigeren Problems, meine immer peinlicher werdende Leseschwäche zu verbergen. Schon in der ersten Klasse hatte ich herausgefunden, wie man es vermeiden kann, im Unterricht zum Vorlesen aufgerufen zu werden: Man quatscht einfach ständig, beantwortet jede Frage als erster und stellt vor allem gleich selber noch weitere, neue Fragen. Kurz: Ich redete im Unterricht überdurchschnittlich viel (um nicht zu sagen: am meisten von allen) und das hatte genau die von mir heftig ersehnte, erwartete und tatsächlich in meinen 13 Schuljahren zuverlässig eintretende Konsequenz: Wenn es ans Lesen ging, kam ich einfach nicht dran! Denn wer sowieso dauernd schwätzt, den muss man sich nicht auch noch freiwillig anhören, wenn es um eine ganz „triviale“ Aufgabe ging, nämlich das Vorlesen irgendeines Textes. So oder so ähnlich müssen alle Lehrer gedacht oder zumindest gefühlt und dann entsprechend unbewusst reagiert haben – glücklicherweise. Denn dies rettete meine Bildungskarriere, wie mir im Nachhinein klar geworden ist.

Erst in der fünften Klasse, als der ersten Klasse des Gymnasiums (genannt Sexta), fing ich nach meinem Scheitern in der ersten Klasse wieder an Bücher zu lesen, ganz langsam. Und das kam so: Kurz vor Weihnachten veranstaltete unser Deutschlehrer, Herr S., einen Wettbewerb im Geschichtenerzählen. Der Preis: ein Buch nach freier Auswahl zu einem Wert von bis zu 10 DM. Mit Büchern als Preis hatte ich schon in der vierten Klasse schlechte Erfahrungen gemacht. Gegen Ende der Grundschulzeit hatte ich den ersten Preis bei einem Malwettbewerb gewonnen: ein Buch über das Fußballspielen (ich werden dessen Titel „Mein Fußball und ich“ nie vergessen). Ich las ja sowieso keine Bücher, aber nicht einmal die vielen Bilder von ins Tor fliegenden Bällen etc. sagten mir irgendetwas, war ich doch damals der einzige Junge im Dorf, der sich absolut gar nicht für Fußball interessiere. Ich bedankte mich also artig für den Preis, habe kurz in das Buch hineingeschaut und es dann nie mehr angefasst.

Nun schlug ein Jahr später also das Schicksal wieder zu und ich gewann den ersten Preis im Geschichten erzählen. Dessen Auswahl wurde schwierig, denn ich las doch gar keine Bücher. Mein Vater ging damals eigens mit mir „in die Stadt“ (damit war immer Darmstadt gemeint, nie die Kleinstadt Groß-Umstadt, in der ich zur Schule ging), um mit mir in einer größeren Buchhandlung irgendetwas auszusuchen, was mir vielleicht doch gefallen würde. Dort fiel mir ein Buch von Prof. Dr. Heinz Haber auf. Den kannte ich aus seinen Fernsehsendungen, die ich nie verpasste, weil man da viel Interessantes über die Welt lernen konnte. Und so kauften wir dessen Bestseller „Unser Blauer Planet“ als Taschenbuch.

Mein Deutschlehrer war darüber ganz offensichtlich not amused – sein verächtlich blickendes Gesicht als ich ihm ganz freudig das von mir selbst ausgesuchte Buch zeigte sehe ich noch heute vor mir. Das war definitiv NICHT, was er sich als Preis für die am besten erzählte Geschichte vorgestellt hatte! Wenn er gewusst hätte, was dieses Buch mit mir anstellen würde, wäre er nicht so enttäuscht gewesen. Denn ich las es von Anfang bis Ende – weil es so interessant war. Und nicht nur das: Ich begann damit, mir Bücher zu kaufen! Keine Comics und keine Geschichten (und schon gar keine „Literatur“!), sondern Sachbücher von Heinz Haber („Unser Mond“, „Der Stoff der Schöpfung“) und dann von anderen Autoren wie beispielsweise Hoimar von Ditfurth (auch den kannte man ja aus dem Fernsehen), dessen Bücher – „Im Anfang war der Wasserstoff“, „Kinder des Weltalls“ – ich regelrecht verschlang, denn ich war damals unendlich neugierig. Ich wollte darin auch nachlesen können, falls ich etwas vergessen sollte. Daher ging ich in keine Bibliothek, zumal mir außer unserer Schulbibliothek (in der es keine neuen Bücher der genannten Autoren gab) keine andere Quelle für Bücher als der kleine Buchladen in Groß-Umstadt bekannt bzw. zugänglich war.

Das ging ins Geld. Glücklicherweise war das kein Problem, denn ich erteilte damals viel Nachhilfeunterricht, vor allem in Mathematik, und besserte damit mein ziemlich karges Taschengeld deutlich auf. Beim Nachhauseweg von der Schule mit dem Fahrrad kam ich täglich am Buchladen vorbei, wo ich bald Stammkunde war. Der Herr L. hinter dem Tresen lachte immer, wenn ich schon wieder hereinkam, um irgendein Sachbuch, manchmal auch gleich zwei, zu kaufen – über das Wetter, das Licht, die Frage warum Flugzeuge fliegen oder wie Fernsehapparate funktionieren. Später dann „Das egoistische Gen“ (Richard Dawkins 1976), „Das Spiel“ (Manfred Eigen 1975), „Soziobiologie“ (Edward O. Wilson 1975) und viele mehr. „Chaos“ (James Gleick 1988) war eines der für mich wichtigsten Bücher.

Bereits im Jahr 1972, also mit 14 Jahren, war ich über ein Buch, dessen Autor ich nicht kannte und dessen Titel ich nicht verstand, gestolpert: „Zur Psychopathologie des Alltagslebens“ von einem Sigmund Freud. Es war ein Fischer-Taschenbuch und kostete 2 Mark und 80 Pfennig. Und so hab’ ich es, weil es so günstig war, als drittes „Sach“-Buch auch noch mitgenommen. Weil Sommer war, las ich es im Schwimmbad – und fand es spannender als einen Krimi (bzw. als etwas, das andere Krimi nannten und für spannend hielten, denn ich hatte ja noch nie einen Krimi gelesen). Und so erweiterte sich mein Interesse von Naturwissenschaft und Technik um die Psychologie (bzw. das, was ich damals dafür hielt).

Etwa um diese Zeit bemerkte ich, dass mir meine Lesestörung zuweilen behilflich war. Sie bewirkte beispielsweise, dass ich großes Verständnis für jede Art von „Brett vor dem Kopf“ hatte, denn mir ging es ja beim Lesen immer so: Jedes Mal, wenn jemand einen Text fehlerfrei vorlas, mit den richtigen Betonungen, mit traumhafter Leichtigkeit und einem Lächeln auf den Lippen, fragte ich mich, wie das möglich sein kann. Ich jedenfalls konnte es damals nicht, obwohl ich ja mit dem Lesen angefangen hatte. Und mir war klar, dass es anderen eben mit anderen Fähigkeiten ähnlich gehen musste – sie konnten auch nichts dafür, dass sie die einfachsten Sachen, beispielsweise in der Mathematik, nicht verstanden. Mit ein paar möglichst unterschiedlichen Erklärungen, nach dem Wiederholen notwendiger Grundlagen und mit ein bisschen Übung ging es dann oft doch. Nur war bei mir alles noch schlimmer, denn auch mit viel Übung, ich verbrachte ja mittlerweile recht viel Zeit mit dem Lesen, las ich noch immer langsam und – wenn ich laut lesen sollte – sehr holprig. Offensichtlich war ich ein hoffnungsloserer Fall als die meisten anderen.

Hätte ich damals schon die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zum Lesen gekannt – das menschliche Gehirn eignet sich zum Lesen etwa so gut wie ein Porsche zum Pflügen oder ein Traktor für die Formel 1 – wäre ich nicht permanent von so vielen Selbstzweifeln geplagt gewesen. Das hatte aber eben auch sein Gutes, denn wann immer ich etwas nicht verstand war mir sofort klar, dass das ja nur an mir liegen kann und ich einfach noch nicht genügend Zeit auf ein besseres Verstehen verwendet hatte. Langsam lesen konnte ich ja. Und wenn man eben gerade nicht Krimis und andere „Schmöker“ liest, sondern Sachbücher oder gar Lehrbücher und andere eher „schwierige“ Texte, dann ist langsames Lesen definitiv kein Nachteil!

Ein weiterer Vorteil meiner Leseschwäche wurde während meiner Schulzeit ebenfalls immer deutlicher: Referate abzulesen brachte eine schlechtere Note ein als Referate frei zu halten. „It’s not a bug, it’s a feature“, nennen die Engländer dieses Phänomen, dass ein Fehler mitunter zu einer gewünschten Eigenschaft werden kann. Beim Halten von Referaten lief ich in der Schule regelmäßig zu Hochform auf, weil ich gerade nicht vorlas, denn ich konnte ja nicht vorlesen. Und dafür bekam ich dann bessere Noten.

Während meiner gesamten Zeit am Gymnasium hatte ich nur ein halbes Jahr guten Deutschunterricht. Ich bin darüber sehr froh, denn vor diesem halben Jahr in der 12. Klasse war „guter Deutschunterricht“ für mich ein Widerspruch in sich. Ich hasste das Fach, denn erstens erfüllte ich eine wesentliche Voraussetzung nicht – ich konnte weder gut lesen noch richtig schreiben – und zweitens kam mir „der Stoff“ immer wie beliebiges Gelaber vor: Meinungen, Stimmungen, inhaltlich nichts von allgemeinem Bestand. Wahrheit und Falschheit (von der Rechtschreibung abgesehen) – Fehlanzeige. In dem halben Jahr wurde mir klar, dass dies nicht am Fach, sondern an den Lehrern lag. Und dass es noch ganz andere Erkenntnisquellen und Weisen des Nachdenkens gibt, noch allgemeinere als die in der Technik oder der Chemie, ebenso allgemein wie in der Mathematik oder Physik. Klassik, Romantik, Aufklärung; Texte, Bilder, Musik, Lebensweisen, gesellschaftliche Veränderungen – da gab es faszinierende Zusammenhänge. Der Deutschlehrer hatte ein sehr umfangreiches Wissen und konnte daher für mich zunächst aberwitzigst erscheinende Bezüge herstellen, diese auf Nachfragen hin auch noch erläutern und mit weiteren Zusammenhängen ergänzen, so dass ich erkannte, welcher Reichtum in diesem Wissen steckt und wie es das Nachdenken beflügelten kann. Aber nach dem halben Jahr Deutsch Grundkurs wusste ich eigentlich vor allem eines: dass ich darüber nichts wusste.

Mein Abitur war gleichbedeutend mit dem Beginn meiner vielleicht ersten Existenzkrise. Denn ich wusste einfach nicht, was ich werden wollte oder sollte. Meine Interessen waren so vielfältig, dass ich am liebsten „alles“ studiert hätte, wie man in der Schule ja auch alles Mögliche gelernt hatte. Aber das Fach „Alles“ gab es nicht – es wäre ja auch ein Widerspruch in sich gewesen. Damit einher ging zugleich eine gewisse Unsicherheit, ob ich überhaupt für das Studium geeignet war: Groß-Umstadt war schließlich nicht die große weite Welt und vielleicht gingen lauter deutlich schlauere Leute als ich an die Uni, sodass mir bald klar werden könnte, dass ich dort gar nicht hingehöre. Daher hatte ich die Entscheidung getroffen mich für Medizin in Freiburg zu bewerben. Den Ort – ganz ungewöhnlich, denn wer in Groß-Umstadt Abitur machte, der ging nach Darmstadt, Frankfurt oder Gießen – hatte ich mir im Februar ausgesucht, nachdem ich drei Wochen vor dem schriftlichen Abitur zur Ablenkung vom Stress ein Wochenende dort verbracht hatte. Ich fand die Stadt wunderschön und kam mit dem festen Entschluss dort zu studieren. Als ich dies damals meiner Mutter erzählte, meinte sie nur, „ja aber was denn?“. – „Weiß nicht, aber auf jeden Fall in Freiburg“, war meine Antwort.

Der Gedanke hinter dem Fach Medizin war ein dreifacher: Einmal war Medizin sehr vielfältig, ich sehr neugierig, und insofern passte das schon einmal ganz gut. „Du kannst in 6 Jahren immer noch auswählen zwischen Pfarrer und Metzger“, dachte ich mir zudem, womit ich die Psychiatrie und die Chirurgie meinte, Hausarzt oder Internist irgendwo dazwischen. Mit den Händen war ich schon immer recht gut, war oft am Basteln, Werkeln, Malen oder Musizieren. Das war der dritte Gesichtspunkt, der für Medizin sprach: Wenn sich also herausstellen sollte, dass ich geistig mit den Schlaumeiern an der Uni nicht würde mithalten können, würde ich auf jeden Fall mit den Händen besser sein als die meisten und hätte daher als praktisch tätiger Chirurg auf jeden Fall eine Chance. Und lesen muss man als Chirurg eher nicht, sondern vor allem machen. Das konnte ich. Wenn mir damals jemand prophezeit hätte, dass ich künftig mehrere Dutzend Bücher und sogar einen Bestseller schreiben würde, hätte ich ihn ausgelacht und vielleicht noch gesagt: „alles, aber das ganz bestimmt nicht“. Und dennoch kam es dann ganz anders.

In Freiburg, meinem Studienort, war damals die Uni über die ganze Stadt verteilt. Und so zog ich meist mit dem Fahrrad durch die Stadt, von der Biologie in der Schänzlestraße oder der Anatomie in der Albertstraße zur Philosophie am Platz der Universität in der Altstadt. Man war also nicht auf einem Medizinercampus, sondern in der ganzen Stadt: Überall war Uni. Das machte es auch leicht, in andere Fächer hineinzuschnuppern. Und davon machte ich – neugierig wie ich war – regen Gebrauch. Ganz besonders angetan hatte es mir die Philosophie. Die Leute redeten ganz normales Deutsch, aber man verstand kein Wort. Das hatte ich so noch nie erlebt. So besuchte ich Proseminare, deren Titel ich überhaupt nicht verstand. „Kant: Prolegomena“ [2], „Leibniz: Monadologie“ sowie Veranstaltungen zu „Edmund Husserl“ und „Martin Heidegger“ – von beiden hatte ich nie etwas gehört. Anfangs verstand ich wenig, aber das war ich ja vom Lesen schon gewöhnt, und es machte mir nichts aus und schreckte mich schon gar nicht ab. Langsam lesen! Im Heidegger-Proseminar konnte es durchaus vorkommen, dass man in einer Doppelstunde gerade mal eine Viertelseite im Text („Sein und Zeit“) [3] weiter kam. Als das Semester herum war, waren wir auf Seite 8 oder 13, ich weiß es nicht mehr so genau. Das war frustrierend – insbesondere, wenn man bedenkt, dass das dicke Buch ja auch nur den Anfang der Gedanken des Philosophen beinhaltete. Im Inhaltsverzeichnis war deutlich mehr Inhalt aufgeführt als das Buch enthielt, das viel zu früh einfach aufhörte.

Irgendwie hatte ich aber dennoch an der Philosophie großen Spaß, mehr als an allen anderen Fächern. Und obgleich ich nur ein Semester (Sommersemster 1978, meinem zweiten Studiensemester) für Philosophie eingeschrieben war, studierte ich weiter, legte die Zwischenprüfung ab und begann 1983 eine Dissertation. Meine Eltern müssen sich damals um mich gesorgt haben, denn ich erzählte immer sehr begeistert von Erlebnissen und Erkenntnissen in der Philosophie und ziemlich selten von entsprechenden Erlebnissen in der Medizin oder Psychologie. Würde ich nach meinem Studium „brotlos“ enden? Sie fragten mich das nie explizit, aber man konnte diese Befürchtung gelegentlich heraushören.

Sie hatten nichts zu befürchten, denn während des Studiums lernte ich meine spätere Frau kennen, wir heirateten und gründeten eine Familie. Nur ein einziges Mal hätte es fast brotlos ausgehen können: Mir war irgendwann klar geworden, dass die Grundlage der allermeisten Wissenschaften die Mathematik war und so begann ich im siebenten Semester Mathematik zu studieren, damals als mein viertes Hauptfach. Das langsame Lesen war hierbei definitiv kein Problem. Das Brett vor dem Kopf in den täglichen Vorlesungen und Übungen war dafür sehr deutlich – und die bereits erlernte Fähigkeit, dies auszuhalten, hat auch nicht geschadet. Und so bestand ich mit großer Anstrengung und Mühe sowohl die mündliche (Analysis I) als auch die schriftliche (Lineare Algebra I) Prüfung nach dem Ende des ersten Mathematik-Semesters und hatte fest vor weiterzumachen. Mir war aber klar, dass ich dazu mindestens die Medizin vorübergehend aufgeben musste. Als ich darüber – es war wahrscheinlich im Frühjahr 1981 – mit meiner damaligen Freundin (und späteren Frau) während eines Spaziergangs am Freiburger Schlossberg sprach, meinte sie nur: „Ach Manfred, mach doch erstmal was fertig“ – und das habe ich dann auch getan. Und deswegen geht diese Geschichte auch nicht brotlos aus.

Aber meine Dyslexie holte mich wieder ein. Denn mit dem Lesen war es auch nach dem Studium nicht wirklich gut geworden, sondern nur etwas besser. Als ich dann als frisch gebackener Vater meinen Kindern vorlesen sollte und auch wollte, war das Problem wieder da: Auch das Lesen der einfachsten Texte (Kinderbücher für kleine und ganz kleine Kinder!) war sehr anstrengend. Auf keinen Fall wollte ich durch mein Gestammel deren Sprachentwicklung schaden. Und so überlies ich das Vorlesen meiner Frau und wenn ich damit dran war, erzählte ich ihnen Geschichten. Das war einfach. Und die Kinder mochten es sehr, wenn Papa sich Geschichten ausdachte.

Nach 10 Semestern und dem praktischen Jahr schloss ich die Medizin mit dem dritten Staatsexamen und dem Dr. med. im Oktober 1983 ab und begann sofort danach im November als Assistenzarzt in der Freiburger Psychiatrie zu arbeiten. Nach weiteren 2 Semestern schloss ich im Sommer 1984 die Psychologie mit dem Diplom und ein Jahr danach mit dem Dr. phil. die Philosophie ab. Die zwei Jahre, in denen ich einerseits schon in der Psychiatrie gearbeitet andererseits aber noch Student war, gingen sehr schnell vorüber. Es gab keinen Tag Urlaub und kein Wochenende – aber es war eine unglaublich spannende Zeit. Mit dem zweiten Doktortitel wurde mir allerdings auch klar, dass ich nun endgültig kein Student mehr war, was mich ziemlich traurig machte.

Mit den Fächern Psychologie, Philosophie und Medizin konnte ich eigentlich nur Psychiater werden – hatte ich nach meinem Studium gedacht und ganz falsch war das sicherlich nicht. Obwohl eine Stelle als Assistenzarzt in der Freiburger Psychiatrie damals vor allem viel klinische Arbeit und fast keine Wissenschaft bedeutete, las ich – langsam wie immer – psychiatrische Fachliteratur. Das langsame und daher gründliche Lesen von Arbeiten zu Ich-Störungen, Halluzinationen, Denkstörungen und anderen psychopathologischen Erlebnis- und Verhaltensweisen führte nicht immer zu einem besseren Verständnis, sondern nicht selten erst einmal zu noch mehr Ungereimtheiten und Fragen. Mir wurde dabei immer deutlicher, dass man hier gedanklich aufräumen, Widersprüche beseitigen und klarere Begriffe formulieren musste. In der Philosophie hatte ich die Phänomenologie Husserls [4] und das Ich bei Kant [5] studiert und so konnte ich gar nicht anders als meine (irgendwann im Jahr 1983) angefangene philosophische Dissertation über „Die Zeit bei Alfred North Whitehead“ abzubrechen und stattdessen über Ich-Störungen zu promovieren (Spitzer 1985) [6]. Beim gleichen Doktorvater! Irgendwann „beichtete“ ich ihm, dass mir in der Psychiatrie nicht nur dauernd eigenartige Menschen begegneten, die über eigenartige Phänomene berichteten, sondern vor allem auch viele unklare und sogar zuweilen widersprüchliche Gedanken zu diesen Phänomenen. Nach den Ich-Störungen knöpfte ich mir die Halluzinationen (publiziert 1988) [7] und danach dann den Wahn vor, der das Thema meiner psychiatrischen Habilitationsschrift bildete (publiziert 1989) [8]. Beides war leichter als die Ich-Störungen, alle drei Bücher sind jedoch Fachbücher und nicht unbedingt leicht lesbar.

Mein erstes für Jedermann lesbares Buch – „Geist im Netz. Modelle für Lernen Denken und Handeln“ [9] – schrieb ich erst, als ich mich mit neuronalen Netzwerken beschäftigt hatte, dem ersten ernsthaften Versuch der naturwissenschaftlichen Aufklärung geistiger Phänomene. Ich erinnere mich noch gut an die Diskussionen in der Philosophie über die Frage, ob es so etwas wie eine innere Repräsentation der Welt draußen überhaupt gibt. Das Hauptargument dagegen war, dass man mit jeglicher „Abbildtheorie“ des Geistes überhaupt nichts erklären kann, weil sich sofort die Frage stellt, wer denn dieses Abbild betrachtet. Die Theorie der Netzwerke machte hingegen klar, dass das Abbild als Muster von Synapsenstärken zu verstehen ist, deren Funktion es ist, Muster zu verarbeiten. Und diese Verarbeitung ist die Art und Weise, wie unser Gehirn geistige Leistungen wie Denken, Lernen und Handeln vollbringt. Das war absolut neu und bahnbrechend, hat für unser Selbstverständnis wichtige Konsequenzen, aber hierzulande nahezu vollkommen unbekannt. Und deswegen habe ich darüber ein allgemein verständliches Buch geschrieben – zur Aufklärung im besten Sinn des Wortes.

Später machte es dann die funktionelle Bildgebung möglich, diese inneren Repräsentationen im Gehirn zu verorten und mittlerweile kann man aus Aktivierungsmustern im Gehirn, die beispielsweise beim Sehen auftreten (und mittels funktioneller Magnetresonanztomografen festgestellt werden können) das Gesehene rekonstruieren.

Mittlerweile war ich fast 28 Jahre lang Professor für Psychiatrie und habe 9 Enkel. Vorlesungen im wörtlichen Sinn habe ich nie gehalten. Das könnte ich auch nicht und selbst wenn ich es könnte, würde es nicht tun. Man versteht frei gehaltene Vorträge schließlich sehr viel besser als vorgelesene. Den Enkeln gelegentlich vorlesen kann ich zu meiner Verwunderung besser als ich dies bei meinen Kindern vermochte. Offensichtlich lernte ich in den 2–3 Jahrzehnten dazwischen im Hinblick auf das Vorlesen noch ein bisschen dazu. Aber es strengt mich noch immer an und holpert, aber nicht mehr ganz so schlimm wie vor 30 Jahren.

Und wenn ich am Wochenende auf der Couch meine „Heftchen“ schmökere – Science, Nature, New Scientist und The Lancet – dann finde ich nichts dabei langsam und mit großem Spaß die neuesten Ergebnisse aus der Wissenschaft zur Kenntnis zu nehmen. Früher fragte ich mich zuweilen: Wieviel mehr hätte aus mir werden können, wenn ich keine Lese-Rechtschreib-Schwäche gehabt hätte? – Heute sehe ich das etwas anders und frage mich zugleich: Was hätte ich ohne diese Schwäche alles nicht erfahren?



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Article published online:
14 October 2025

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