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DOI: 10.1055/a-2598-4298
Sexueller Kindesmissbrauch und Missbrauchsabbildungen in digitalen Medien



Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2024. 372 Seiten. EUR 99,95
Mit Beginn der Digitalisierung Mitte der 1990er-Jahre ist ein rasanter Anstieg an Anklagen und Verurteilungen wegen Delikten im Bereich des Konsums, der Herstellung und der Verbreitung von Missbrauchsabbildungen in digitalen Medien zu verzeichnen. Auch die Gesetzesreform zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder im Jahr 2021 und die daraus resultierende Verschärfung des Sexualstrafrechts führten zu einem weiteren Anstieg der Delikte im Hellfeld und damit zu einer erhöhten Nachfragen nach Begutachtung, Risikoeinschätzung und Therapie. Gleichzeitig hat auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Deliktfeld zugenommen. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund passt das Fachbuch besser denn je in die aktuelle Zeit: Es handelt sich um einen umfangreichen Sammelband mit 372 Seiten, der aktuelles und umfassendes fundiertes Fachwissen von 61 Autor*innen unterschiedlicher Professionen in insgesamt 41 Kapiteln beinhaltet.
Der erste Teil des Buches („Einführung“) beginnt mit einer kunst- und kulturhistorischen Einordnung von Darstellungen nackter und bekleideter Kindern in der Kunst, sexualisierten Darstellungen von Kindern in der Werbung sowie Überlegungen zu deren Abgrenzung von Missbrauchsabbildungen. Anschließend werden aus staatsanwaltschaftlicher Sicht 50 Jahre gesetzespolitische Entwicklung zur Bekämpfung von Missbrauchsabbildungen nachgezeichnet, die Probleme der aktuellen Rechtsprechung und Gesetzgebungsverfahren kritisch umrissen und diskutiert, wie diesen durch einen stärkeren interdisziplinären Austausch begegnet werden könnte. Etwas technischer wird es in dem gut verständlichen Beitrag über die (Un-)Möglichkeiten IT-forensischer Auswertungen sichergestellter Datenträger hinsichtlich möglicher verfahrensrelevanter und inkriminierter Missbrauchsabbildungen. Im Mittelpunkt steht dabei, wie IT-forensische Gutachten aufgebaut und zu verstehen sind – ein hilfreiches Kapitel nicht zuletzt für alle, die mit Gerichts- oder Ermittlungsakten arbeiten, die häufig ebensolche Auswertungsberichte enthalten. Die Prävalenzen der Nutzung von Missbrauchsabbildungen werden ebenso herausgearbeitet wie ein Vergleich von Hell- und Dunkelfelddaten aus Deutschland, wobei festgehalten wird, dass es nach wie vor nur begrenzte Einblicke in Straftaten aus dem Dunkelfeld gebe, die nicht justizbekannt seien – gleichwohl die weitere Erhellung des Dunkelfeldes von hoher Bedeutung sei, u. a. hinsichtlich der Bedarfseinschätzung präventiver Maßnahmen. Anschließend wurde unter Berücksichtigung bisheriger empirischer Erkenntnisse ein theoretisches Rahmenmodell für die therapeutische Praxis entwickelt, anhand dessen die Nutzung von Missbrauchsabbildungen nach personellen und situativen sowie motivationalen und inhibitorischen Aspekten unterschieden und erklärt werden soll. Auch werden die Auswirkungen von Missbrauchsabbildungen auf Betroffene beleuchtet, indem mögliche allgemeine Belastungsfaktoren sexualisierter Gewalt sowie spezifische Folgen sexualisierter Gewalt in Kombination mit der Produktion von Missbrauchsabbildungen herausarbeitet werden (u. a. durch dauerhaft online verfügbare Film- und Videoaufnahmen). Es folgen zwei Praxisexkurse zu „Dunkelziffer e. V.“, einem Verein, der sich für von sexualisierter Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche einsetzt und u. a. Beratung, Begleitung und Therapie anbietet, sowie zum bundesweiten Hilfetelefon Sexueller Missbrauch von „N. I. N. A. e. V.“, das auch eine ergänzende Online-Beratung anbietet. Den Abschluss der Einleitung bildet ein Beitrag zu den Auswirkungen der Konfrontation mit Missbrauchsabbildungen im beruflichen Kontext auf Fachkräfte in der therapeutischen, gutachterlichen und polizeilichen Arbeit sowie Interventions- und Präventionsmöglichkeiten für betroffene Fachkräfte.
Der zweite Teil des Buches („Diagnose und Prognose“) beginnt mit den Besonderheiten in der Begutachtung zur Frage der Schuldfähigkeit und Maßregelunterbringung von Konsument*innen von Missbrauchsabbildungen. Zudem wird auf die kriminalprognostische Einschätzung in Fällen des Konsums von Missbrauchsabbildungen eingegangen und u. a. wissenschaftlich validierte Instrumente zur Risikoprognose sowie theoriegeleitete Instrumente zur strukturierten Erfassung, Analyse und Beurteilung des Missbrauchsmaterials im Kontext von Prognose, Diagnostik und Therapie vorgestellt. Die Anwendung eines dieser Instrumente zur systematischen Erfassung von Täter*innenverhalten wird in einem eigenen Kapitel exemplarisch von zwei Autorinnen anhand eines Fallbeispiels mit einem Administrator von „Elysium“, einer der ersten und größten Plattformen für Missbrauchsabbildungen in Deutschland, diskutiert. Dabei wird zum einen auf empirische Befunde zur Wirkung von Pornografie und Missbrauchsabbildungen in der Allgemeinbevölkerung (Minderjährige, Jugendliche und Erwachsene) Bezug genommen, zum anderen auf die Nutzung und Wirkung von Pornografie (inkl. Missbrauchsabbildungen) bei Personen, die Sexualdelikte begangen haben. Eine Autor*innengruppe hat anhand einer systematischen Literaturanalyse acht „Typen“ von Personen abgeleitet, die Online-Sexualdelikte mit kindlichen Opfern begingen, anhand derer die Vielfalt der Klientel sowie die verschiedenen zugrunde liegenden Motivationen und Verhaltensweisen aufgezeigt und Annahmen über prototypische Risikomerkmale der Typen abgeleitet werden können. Ein weiteres Kapitel diskutiert die Bedeutung von Antisozialität und Psychopathie für die kriminalpsychologische Beurteilung des Konsums von Missbrauchsabbildungen und integriert verschiedene Überlegungen und empirische Befunde in ein Ätiologiemodell. In einem Beitrag zur Herstellung und Verbreitung von Missbrauchsabbildungen aus polizeilicher Sicht geben die Autoren u. a. Einblicke in die Kommunikations- und Austauschstrukturen von Täter*innen im Clear- und Darknet und gehen auf das Entstehen von Ermittlungsverfahren sowie die Grenzen und Möglichkeiten polizeilicher Ermittlungen ein.
Der dritte Teil des Buches trägt den Titel „Ausgewählte Phänomene“. Er beginnt mit einem Überblick über einen möglichen Entwicklungspfad von Personen, die online Missbrauchsabbildungen konsumieren und thematisiert im Verlauf u. a. durch das Internet begünstigte Formen des modernen Kinderhandels und der Webcam-Kinderprostitution. Ein Kapitel gibt einen Überblick über die Befunde zu katholischen Klerikern als Konsumenten von Missbrauchsabbildungen. Im Kontext von der Herstellung, Verbreitung und dem Konsum von Missbrauchsabbildungen werden zudem der Rolle von Frauen (einer Personengruppe, die häufiger als bisher angenommen mit diesen Delikten in Zusammenhang steht) sowie von Kindern und Jugendlichen als Tatverdächtige eigene Kapitel gewidmet und eine Übersicht zu therapeutischen Erfahrungen mit sexuell auf- bzw. straffälligen Jugendlichen anhand von Fallbeispielen geboten. Auch wird ein Überblick über den aktuellen ethischen, rechtlichen und empirischen Diskurs zu Sexpuppen mit kindlichem Erscheinungsbild gegeben, deren Herstellung, Inverkehrbringen, Erwerb und Besitz seit der Gesetzesreform 2021 in Deutschland verboten sind.
Der vierte Teil („Präventions- und Interventionsansätze“) stellt den umfangreichsten Teil des Buches dar. Zunächst werden die rechtlichen und technischen Ermittlungsmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden beim gezielten Hochladen von computergenerierten Missbrauchsabbildungen im Darknet aufgezeigt und u. a. diskutiert, dass auf dieses sich ausweitende und eher „neue“ Kriminalitätsphänomen mit innovativen Gesetzesreformen reagiert werde. Ein Beitrag widmet sich verschiedenen medien- und sexualpädagogischen Ansätzen zur Prävention von sexuellem Online-Missbrauch von Kindern, die sich an Kinder und Jugendliche, Betroffene, Erziehungsberechtigte sowie Fachkräfte, aber auch an Mitwissende (engl. Bystander) und Täter*innen richten. Auch Präventionsansätze für minderjährige Tatverdächtige werden vorgestellt, da diesen laut den Autor*innen ein nicht unerheblicher Teil der Vorwürfe digitaler Sexualdelikte gegen Kinder zuzuordnen sei. Die besonderen Bedarfe von Konsument*innen von Missbrauchsabbildungen und Online-Täter*innen sowie rückfallpräventive Interventionsmöglichkeiten innerhalb des Strafvollzugs, aber auch im Rahmen der Bewährungshilfe werden von verschiedenen Autor*innen thematisiert. Ergänzend dazu ermöglicht ein Beitrag einen Blick in den Strafvollzug und thematisiert die Gefahren der intramuralen Vernetzung von Tätern sowie deren Konsummöglichkeiten – auch vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalisierung im Strafvollzug. Zudem werden Zusammenhänge zwischen der Nutzung von Missbrauchsabbildungen und dem „Good Lives Model“ beleuchtet und so zu erklären versucht, inwiefern die digitale Welt eine Anziehungskraft auf Online-Täter*innen haben kann. Weitere spezifische Behandlungsangebote beziehen sich auf die Erfahrungen einer psychoanalytisch arbeitenden Sexualberatungsstelle sowie auf die Arbeit mit einem manualbasierten Selbstkontrolltraining mit Konsument*innen von Missbrauchsabbildungen im ambulanten Setting. Spezifische Einblicke werden auch in die Behandlung in der Schweiz sowie im Rahmen des Netzwerks „Kein Täter werden“ in Deutschland gegeben. Zwei Autorinnen berichten über Merkmale von und Erfahrungen mit der Sexualtherapie von Jugendlichen mit pädosexuellen Interessen im Dunkelfeld. Zudem werden therapeutische Online-Interventionsangebote bei pädophiler Präferenz vorgestellt und im Speziellen auf „Prevent It“ eingegangen, ein evidenzbasiertes und niedrigschwelliges Online-Therapieangebot, bei dem Darknet-Nutzer anonym Hilfe finden können. Aus gutachterlicher Sicht beschäftigt sich ein Kapitel mit dem Thema der Einschätzung der Kindeswohlgefährdung in Fällen, in denen Erziehungsberechtigte Missbrauchsabbildungen besessen haben – und in denen eindeutige Hinweise auf sexuellen Missbrauch fehlen. Den Abschluss des vierten Teils bilden Kapitel, in denen das Ziel von Restorative Justice in Bezug auf Menschen mit Pädophilie und deren Opfer (u. a. das Erreichen eines „sozialen Friedens für die Zukunft“ aller Beteiligten unter Einbeziehung gesellschaftlicher Strukturen) skizziert und Chancen und Möglichkeiten für die Prävention aufgezeigt werden, die sich aus der Berichterstattung über sexuellen Online-Missbrauch ergeben und die sich an Medienschaffende und Präventionsfachleute, aber auch an die Rezipient*innen solcher Nachrichten richten. Dabei werden verschiedene Beispiele aus den Medien vor dem Hintergrund aktueller kommunikationswissenschaftlicher Erkenntnisse beleuchtet.
Das Buch schließt mit einem übersichtlichen Glossar, in dem forensisch relevante (IT-)Begriffe, „Szene“-Begriffe und -Logos aufgeführt und erklärt werden.
Das Fachbuch überzeugt nicht zuletzt durch die fachliche Expertise der zahlreichen Autor*innen, die teils historische und vor allem aktuelle Einblicke in Theorie, Praxis und Forschung, aber auch in ethische und gesellschaftliche Fragestellungen in diesem Themengebiet sowie die verschiedenen Erklärungsmodelle, die von den Autor*innen nicht nur aus bereits vorhandener Literatur aufbereitet, sondern teils eigens für dieses Buch erarbeitet wurden. Besonders überzeugend ist, dass die Autor*innen eine Bandbreite an Professionen vertreten und die einzelnen Kapitel wiederum auf Rezipient*innen verschiedenster Professionen abzielen. Zudem erweitert die vielfältige Schwerpunktsetzung der einzelnen Beiträge den Blick auf sexuellen Kindesmissbrauch und Missbrauchsabbildungen in digitalen Medien weit mehr, als es der Titel des Buches vielleicht zunächst vermuten lässt. Anfangs kann es beim Lesen etwas verwirrend sein, dass für den Begriff „Missbrauchsabbildungen“ von den Autor*innen der einzelnen Kapitel verschiedene Abkürzungen herangezogen werden. An einzelnen Stellen wäre es zudem wünschenswert gewesen, wenn durchgehend gegendert (und nicht vereinzelt das generische Maskulinum verwendet) worden wäre, denn zieht man das Buch gezielt heran, um sich etwas über weibliche Täterinnen anzulesen, muss man in manchen Kapiteln selbst anhand der verwendeten Quellen recherchieren, ob sich die Angaben auch auf Frauen oder ausschließlich auf Männer beziehen. Und wer sich von der eher kleinen Schriftgröße des gedruckten Buches abgeschreckt fühlt, sollte sich für die digitale Version entscheiden – es lohnt sich!
Elisabeth Stück (Hamburg)
Publication History
Article published online:
11 June 2025
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