Nervenheilkunde 2025; 44(09): 630
DOI: 10.1055/a-2582-4775
Buchbesprechungen

Rezension: „Sozialpsychiatrie in Berlin von 1945 bis 2023“

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Christian Reumschüssel-Wienert (Hrsg). Sozialpsychiatrie in Berlin von 1945 bis 2023. Logos Verlag Berlin 2025, 449 Seiten, Preis: 49.00 Euro, ISBN 978–3–8325–5892–5

Die weltgeschichtlich geprägte Geschichte der Stadt Berlin von 1945 bis 2023 ist einzigartig, sie zu verknüpfen mit der komplexen, durchaus umstürzenden Entwicklung psychiatrischer Versorgungsgeschichte resp. – strukturen ist ein anspruchsvolles Vorhaben. Christian Reumschüssel-Wienert (CRW) hat sich dieser großen Aufgabe gestellt und mit dem Buch „Sozialpsychiatrie in Berlin von 1945 bis 2023“ ist ihm ein bemerkenswerter zeitgeschichtlicher wie fachpsychiatrischer Bericht gelungen. In den 8 (von insgesamt 10) chronologisch an den Jahrzehnten orientierten Kapiteln finden sich jeweils mehrseitige instruktive politisch-kulturelle Einführungen, die die Höhen und Tiefen der Zeit und manch anregende Details in Erinnerung rufen, hinsichtlich politischer Dimensionen bedrücken oder erfreuen können.

Der Revue-Passage allgemeiner Geschichte folgen kapitelweise gegliedert detaillierte Schilderungen der sozial- und gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen, die dann auf die umfängliche Darstellung der spezifischen Entwicklung der Psychiatrie – verstanden als Entwicklung von der Anstaltspsychiatrie zur Sozialpsychiatrie – hinführen. Fast durchgängig findet sich am Ende des jeweiligen Kapitels ein hilfreiches Resümee. Die ungeheure Fülle der Fakten und Informationen wird sachkundig und interessant jeweils für Ost- und West getrennt bis zur Wende und dann auf dem gemeinsamen Weg nach der Wiedervereinigung der Stadt aufgezeigt; beeindruckend ist auch die aufwändige Detailbelegung mittels eines riesigen Literaturverzeichnisses (über 100 Seiten). Unterstützt wird der Autor CRW durch mehrere Akteur*innen, die z. T. als „Urgestein“ der Berliner Sozialpsychiatrie gelten und die sachkundig wie authentisch bis hin in die diversen kleinteiligen Konfliktdynamiken einzelne Projekt- und Themenbereiche abhandeln. Bemerkenswert allerdings ist, dass weder ein behandelnder Psychotherapeut noch Psychiater zu Wort mit eigenem Beitrag kommen. Die Zahl der sorgsam recherchierten Namen, der an der Berliner Entwicklung über 7 Jahrzehnte beteiligten Personen, dürfte hingegen weit über tausend gehen. Entstanden ist ein lebendiger, engagierter Bericht mit hoher Fakten- und Sachkompetenz.

Ausgehend von einer zunächst sowohl in Ost und West andauernden Verhaftung an der alten biologisch-kustodialen Psychiatrie schildert CRW die 40-jährige (1945 bis 1989) Epoche getrennter Psychiatrie-Wege Ost- und West-Berlins detailreich und doch spannend; er spricht von „asymmetrisch verflochtener Parallelgeschichte“ und hebt hervor, dass die in den 60er Jahren relativ gleichzeitig einsetzende Reformdynamik sich durchaus im Kontakt wichtiger Protagonisten entwickelte. Schade, dass die in Ost wie West so wichtigen Entdeckungen der modernen Psychopharmaka wie Neuroleptika und Thymoleptika in den 1950er Jahren keine Erwähnung finden und ihre z. T. eindrücklichen Auswirkungen auf Behandlungsstrategien nicht reflektiert werden.

CRW beschreibt den vielteiligen wie tiefen Umbau-Prozess, der Berlin (West) und später Gesamt-Berlin in eine Vorreiter-Rolle führte; der Autor konstatiert „dass das Berliner psychiatrische Hilfesystem für die 2.000erJahre wie kaum eine andere Region in Deutschland oder auch Europa nach modernen, gemeindepsychiatrischen Grundsätzen strukturiert war“ (S. 263). Es macht Spaß diese Einschätzung in den Einzelaspekten nachzuvollziehen, wenngleich die bezirksbezogenen, wie auch manche sozialrechtlichen Ausführungen sehr ausführlich geraten sind. Herausgestellt werden auch die in den letzten Jahrzehnten erreichten Verbesserungen im Bereich des SGB V, also der verfassungsrechtlich allen Patienten zustehenden Leistungen gesetzlicher Krankenkassen (u. a. Soziotherapie, ambulante Komplexleistungen). Auch hier ist Berlin Vorreiter. Nachvollziehbar besorgt ist der Autor im Schluss-Resümee um den Erhalt der so unverzichtbaren gemeindepsychiatrischen Strukturen in Zeiten immensen Einspardruckes. Nicht thematisiert werden allerdings die Fortschritte hinsichtlich der Inhalte und Modalitäten individueller Behandlungen wie z. B. diagnosespezifische Psychotherapiekonzepte, Behandlungs- und Versorgungsrichtlinien, trialogisches Behandlungsverständnis, Psychoedukation, Weiterentwicklung der Pharmokotherapie, Qualitätssicherung. Dieser Teil der Sozialpsychiatrie-Entwicklung bleibt wierer Aufarbeitung vorbehalten.

Dr. med. Norbert Mönter, Berlin



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Article published online:
12 September 2025

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