Open Access
CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen
DOI: 10.1055/a-2525-2975
Originalarbeit

Entwicklung und interne Validierung von Falldefinitionen für Nierenerkrankungen bei Personen mit Diabetes in Routinedaten der gesetzlichen Krankenversicherung

Development and internal validation of case definitions for kidney disease in patients with diabetes based on routine data of statutory health insurance

Authors

  • Oktay Tuncer

    1   Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert Koch-Institut, Berlin, Germany
  • Ingrid Köster

    2   PMV forschungsgruppe an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Fakultät und Uniklinik Köln, Universität zu Köln, Köln, Germany
  • Ingo Meyer

    2   PMV forschungsgruppe an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Fakultät und Uniklinik Köln, Universität zu Köln, Köln, Germany
  • Lukas Reitzle

    1   Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Robert Koch-Institut, Berlin, Germany
 

Zusammenfassung

Einleitung

Die diabetische Nierenerkrankung und Nierenersatztherapie sind Langzeitkomplikationen des Diabetes mellitus und tragen erheblich zur Krankheitslast bei. Ziel der vorliegenden Analyse war es, im Rahmen der Diabetes-Surveillance Falldefinitionen für diese nierenspezifischen Komplikationen in Routinedaten zu entwickeln und diese intern zu validieren.

Methode

Basierend auf einer nach Alter und Geschlecht stratifizierten Stichprobe von Personen der Barmer Krankenkasse wurden Personen mit dokumentiertem Diabetes (E10–E14) eingeschlossen und nach Typ-1-(T1D) und Typ-2-Diabetes (T2D) differenziert. Falldefinitionen wurden entwickelt für Personen mit diabetischer Nephropathie (DNP; ICD: N08.3, E1x.2), chronischer Niereninsuffizienz (CNI; ICD: N18) und Nierenersatztherapie (NET) mit Langzeitdialyse (EBM: 40815–40819, 40823–40828 / OPS: 8–853, 8–854, 8–855, 8–857) oder Nierentransplantation (OPS: 5–555; EBM: 04561, 13601; ICD Z94.0). Die Persistenz der DNP und CNI wurde unter Berücksichtigung verschiedener Beobachtungszeiträume sowie die interne Validität anhand von zusätzlichen Informationen aus dem Datensatz für DNP, CNI und NET geprüft.

Ergebnisse

Im Jahr 2018 wurde bei 15,4% der Personen mit Diabetes eine DNP dokumentiert (T1D: 18,3%; T2D: 15,2%), eine CNI bei 21,8% (T1D: 14,4%, T2D: 22,2%). Unter Berücksichtigung eines Beobachtungszeitraums von fünf Jahren (2014–2018) stiegen die Prävalenzschätzungen um 22 bzw. 23% an. Eine NET wurde bei 7,5 von 1000 Personen mit Diabetes dokumentiert. Die interne Validitätsprüfung ergab, dass 96,6% der DNP-Fälle, 93,5% der CNI-Fälle und alle NET-Fälle mindestens ein Validierungskriterium erfüllen.

Schlussfolgerung

Die Falldefinition der CNI ist für die Verwendung in einer Surveillance sinnvoll, da die interne Validität als hoch einzuschätzen ist und die Prävalenzschätzung über die Altersgruppen hinweg konsistent war. Allerdings ist davon auszugehen, dass bei einer 1-Jahres-Prävalenz die Prävalenz unterschätzt wird. Für die Abbildung der NET (Nierentransplantation oder Langzeitdialyse) in Routinedaten muss auf die Dokumentation von Leistungen zurückgegriffen werden.


Abstract

Introduction

Diabetic kidney disease and renal replacement therapy are long-term complications of diabetes mellitus and significantly contribute to disease burden. The aim of the analysis was to develop case definitions for diabetic kidney complications in routine data as part of the diabetes surveillance and to internally validate them.

Method

Based on an age- and sex-stratified sample of persons covered by the Barmer health insurance, individuals with documented diabetes (E10-E14) were included and differentiated by type 1 (T1D) and type 2 diabetes (T2D). Case definitions were developed for persons with diabetic nephropathy (DNP; ICD: N08.3, E1x.2), chronic kidney disease (CKD; ICD: N18) and renal replacement therapy (RRT) with long-term dialysis (EBM: 40815-40819, 40823-40828 / OPS: 8-853, 8-854, 8-855, 8-857) or kidney transplantation (OPS: 5-555; EBM: 04561, 13601; ICD Z94.0). The temporal persistence of DNP and CKD was examined by considering different observation periods, and the internal validity was assessed using additional information from the data set for DNP, CKD, and RRT.

Results

In 2018, DNP was documented in 15.4% of individuals with diabetes (T1D: 18.3%; T2D: 15.2%), and CKD in 21.8% (T1D: 14.4%, T2D: 22.2%). Considering an observation period of five years (2014–2018), the prevalence estimates increased by 22 and 23%, respectively. RRT was documented in 7.5 per 1,000 individuals with diabetes. Internal validity assessment showed that 96.6% of DNP cases, 93.5% of CKD cases, and all RRT cases met at least one validation criterion.

Conclusion

With high internal validity, and prevalence estimate consistent across age groups, the case definition of CKD can be considered suitable for use in surveillance. However, we assume that prevalence is underestimated when considering a 1-year period. For the depiction of RRT (kidney transplantation or long-term dialysis) via routine data, documentation of services must be employed.


Einleitung

Nierenkomplikationen stellen eine schwerwiegende Folgeerkrankung eines über lange Zeit unerkannten oder nicht adäquat behandelten Diabetes mellitus dar [1]. Die diabetische Nephropathie kann im Verlauf zu einer chronischen Niereninsuffizienz führen. Entwickelt sich eine terminale Niereninsuffizienz [2], so wird eine Nierenersatztherapie in Form einer Dialyse oder Nierentransplantation notwendig. Etwa die Hälfte der Personen mit Typ-2-Diabetes und ein Drittel der Personen mit Typ-1-Diabetes entwickelt im Krankheitsverlauf eine diabetische Nierenerkrankung [3], welche erhebliche Auswirkungen auf die Krankheitslast und -kosten hat [4] [5].

In klinischen Studien wird eine Nierenerkrankung meist mittels Labordaten bestimmt, welche die Nierenfunktion abbilden. Diese Methode ist zwar sehr zuverlässig, zugleich aber zeit- und ressourcenintensiv und ist für epidemiologische Studien häufig nicht praktikabel. Die Erhebung von Nierenerkrankungen durch Befragungen ist deutlich weniger valide. Aus diesem Grund werden neben Befragungs- und Untersuchungsdaten zunehmend Sekundärdaten wie beispielsweise Routinedaten von Krankenkassen in epidemiologischen Studien verwendet [6]. Routinedaten werden primär für Abrechnungszwecke erhoben und es ist wichtig, die Qualität der Daten hinsichtlich Dokumentationsfehler und die Plausibilität der Ergebnisse zu prüfen [6]. Spezifische Komplikationen wie die diabetische Nierenerkrankung können durch die in der Dokumentationspraxis verwendeten Codes unzureichend abgebildet sein. Aus diesem Grund ist es vonnöten, bei der Verwendung von Routinedaten Falldefinitionen zu entwickeln und zu prüfen. Neben einer externen Validierung, d. h. dem Abgleich mit Ergebnissen aus anderen Analysen gibt es die Möglichkeit einer internen Validierung. So kann durch Einbezug weiterer Informationen aus demselben Datensatz die Validität der Ergebnisse geprüft werden mit dem Ziel, sich mit der Falldefinition dem Krankheitsbild so gut wie möglich anzunähern.

Im Rahmen der Diabetes-Surveillance am Robert Koch-Institut werden neben Daten aus Befragungs- und Untersuchungsstudien auch Routinedaten zur Abbildung von Indikatoren zu Diabetes mellitus genutzt [7], um über das Krankheits- und Versorgungsgeschehen sowie die Risikofaktoren zu informieren. Anhand von Routinedaten lassen sich Indikatoren zeitlich engmaschig und kleinräumig für alle Lebensphasen auswerten [8]. In der vorliegenden Studie wurden analog zur vorangegangenen Analyse [9] Falldefinitionen zur diabetischen Nierenerkrankung und zu Nierenersatztherapie mit Dialyse oder Nierentransplantation als Endstadium einer diabetischen Nierenerkrankung entwickelt, intern validiert, und hinsichtlich ihrer Verwendbarkeit in der Diabetes-Surveillance diskutiert. Es wurden Prävalenzen für die entwickelten Falldefinitionen stratifiziert nach Geschlecht, Alter und Diabetestyp betrachtet.


Methodik

Studienpopulation

Die Datengrundlage der Analyse war eine alters- und geschlechtsstratifizierte Zufallsstichprobe von Versicherten der Barmer Krankenversicherung, die von 2010 oder von Geburt (nach 2010) bis 2018 durchgehend versichert waren. Es wurden 830 192 Versicherte aus dem Datensatz gezogen (entspricht 1% der Wohnbevölkerung Deutschlands im Jahr 2018), die in ihrer Alters- und Geschlechtsverteilung der Bevölkerung des Jahres 2018 [10] entsprachen. Die Daten umfassten Stammdaten zu Alter, Geschlecht und Versicherungszeit sowie zu ambulanten und stationären Diagnosen, die gemäß der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) codiert sind [11]. Weiterhin sind Arzneimittelverordnungen gemäß der Anatomisch-Therapeutisch-Chemischen (ATC) Klassifikation dokumentiert und ambulante und stationäre Leistungsdaten zu Operationen und Prozeduren (OPS) sowie verschlüsselt nach dem einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) enthalten [12] [13] [14].

Personen mit Diabetes wurden gemäß Aufgreifkriterien aus einer vorausgehenden Analyse identifiziert. Es musste mindestens eine ICD-Diagnose E10.- bis E14.- in mindestens zwei Quartalen im ambulanten Sektor (m2Q), in nur einem Quartal bei zusätzlicher Verordnung eines Antidiabetikums (ATC-Code A10) oder mindestens eine Diagnose E10.- bis E14.- im stationären Sektor, als Arbeitsunfähigkeitsdiagnose oder im Bereich des ambulanten Operierens im Jahr 2018 dokumentiert sein [15]. Anschließend wurden anhand eines Algorithmus zur Typenunterscheidung, welcher ICD-Diagnosen, Arzneimittelverordnung unterschieden nach Insulin und anderen Antidiabetika sowie das Alter berücksichtigt, Personen mit Diabetes dem Typ-1-Diabetes (T1D, n=4023, 5,5% der Personen mit Diabetes), dem Typ-2-Diabetes (T2D, n=67 332, 92,6% der Personen mit Diabetes) oder dem sonstigen Diabetes zugeordnet (n=1389, 1,9% der Personen mit Diabetes) [15].


Entwicklung von Falldefinitionen

Für die Entwicklung der Falldefinitionen wurden zunächst ICD-Diagnosen, die Nierenerkrankungen verschlüsseln, je nach Bezug zum Diabetes in drei Kategorien zusammengetragen (s. Anhang [Tab. 1], online). Diagnosen, die eine Dialyse oder Nierentransplantation verschlüsseln (Z49.1, Z49.2, Z99.2, Z94.0, T86.1), wurden in einer eigenen Kategorie zusammengefasst. Analog zur Studie von Claessen et al. [16] wurden Langzeitdialysen betrachtet, d. h. es musste eine Dialyseleistung in mindestens neun aufeinanderfolgenden Wochen dokumentiert sein. Weiterhin wurde die Häufigkeit eines Bluthochdrucks (I10.- bis I15.-) betrachtet, da dieser eine häufige Komorbidität des Diabetes ist [17] und ebenfalls eine Niereninsuffizienz verursachen kann. Neben den Diagnoseangaben wurde die Dokumentation des Leistungsgeschehens in EBM- und OPS-Codes zum einen für die Validierung der Definitionen zu diabetischer Nierenerkrankung, zum anderen für die Entwicklung einer Falldefinition für die Nierenersatztherapie (NET) miteinbezogen. Die Auswahl der Codes basierte auf Vorarbeiten zu Auswertungen von diabetischen Nierenkomplikationen mit Routinedaten [16] [18].

Tab. 1 Interne Validierung der Falldefinitionen anhand von definierten Kriterien.

Kategorie

Kriterium

Codierung

Anteil in %

Diabetische Nephropathie

Mehrfache Codierung

Mindestens m2Q ambulante Diagnose oder m1S stationäre Hauptdiagnose

78,9

Mindestens 2 Ärzte dokumentieren Diagnose im ambulanten Sektor im selben Quartal

23,5

Dokumentation der Diagnose in mindestens 2 Sektoren

8,7

EBM

Abrechnung mindestens einer EBM-Leistung mit Hinweis auf Niereninsuffizienz

EBM 04560, 04563, 13600, 32018

18,6

Weiterführende Diagnostik (Nierenfunktionsdiagnostik, Sonographie)

EBM 17340, 33042

28,5

Facharzt

Kontakt zu einem Facharzt in mindestens zwei Quartalen

28,6

Dokumentation der Diagnose durch Nephrologen bzw. Urologen

14,9

Definition II

Patient:in mit chronischer Niereninsuffizienz

ICD N18

70,0

Mindestens 1 Kriterium erfüllt

96,6

Chronische Niereninsuffizienz

Mehrfache Codierung

Mindestens m2Q ambulante Diagnose oder m1S stationäre Hauptdiagnose

78,6

Mindestens 2 Ärzte dokumentieren Diagnose im ambulanten Sektor im selben Quartal

32,1

Dokumentation der Diagnose in mindestens 2 Sektoren

20,3

EBM

Abrechnung mindestens einer EBM-Leistung mit Hinweis auf Niereninsuffizienz

EBM 04560, 04563, 13600, 32018

22,2

Weiterführende Diagnostik (Nierenfunktionsdiagnostik, Sonographie)

EBM 17340, 33042

28,5

Facharzt

Kontakt zu einem Facharzt in mindestens zwei Quartalen

29,8

Dokumentation der Diagnose durch Nephrologen bzw. Urologen

23,1

Definition I

Patient:in mit dokumentierter diabetischer Nephropathie

ICD N08.3, E1x.2

47,9

Mindestens 1 Kriterium erfüllt

93,5

Chronische Niereninsuffizienz (Sensitivitätsanalyse)

Mehrfache Codierung

Mindestens m2Q ambulante Diagnose oder m1S stationäre Hauptdiagnose

80,8

Mindestens 2 Ärzte dokumentieren Diagnose im ambulanten Sektor im selben Quartal

34,7

Dokumentation der Diagnose in mindestens 2 Sektoren

30,2

EBM

Abrechnung mindestens einer EBM-Leistung mit Hinweis auf Niereninsuffizienz

EBM 04560, 04563, 13600, 32018

21,3

Weiterführende Diagnostik (Nierenfunktionsdiagnostik, Sonographie)

EBM 17340, 33042

28,0

Facharzt

Kontakt zu einem Facharzt in mindestens zwei Quartalen

28,6

Dokumentation der Diagnose durch Nephrologen bzw. Urologen

22,4

Definition I

Patient:in mit dokumentierter diabetischer Nephropathie

ICD N08.3, E1x.2

44,8

Mindestens 1 Kriterium erfüllt

93,7

EBM: Einheitlicher Bewertungsmaßstab; ICD: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme; Diabetische Nephropathie: ICD N08.3 oder E1x.2; Chronische Niereninsuffizienz bei Diabetes: ICD N18; Chronische Niereninsuffizienz bei Diabetes (Sensitivitätsanalyse): ICD N18 oder N19; Bei allen Falldefinitionen musste die Diagnose mindestens einmal gesichert im ambulanten Sektor oder einmal im stationären Sektor als Haupt- oder Nebendiagnose vorliegen.


Interne Validierung und Persistenz

Die Validität der Falldefinitionen mit ICD-Diagnosen wurde anhand von definierten Kriterien geprüft, welche weitere Informationen im Datensatz einbezogen [19]. Die Kriterien bezogen sich auf Mehrfachkodierungen von Diagnosen, Kodierungen in unterschiedlichen Sektoren, Leistungsabrechnungen mit Bezug zu einer Nierenerkrankung, Facharztbesuche und schließlich darauf, ob die jeweils andere Definition der diabetischen Nierenerkrankung, die entwickelt wurde, dokumentiert war (s. [Tab. 1]).

Zur Prüfung der Persistenz wurden unterschiedlich lange Beobachtungszeiträume berücksichtigt, da die Nierenerkrankung möglicherweise nicht jährlich in den Daten dokumentiert ist. Zusätzlich zur 1-Jahres-Prävalenz auf Basis des Berichtsjahres 2018 wurden mehrjährige Prävalenzen berechnet unter Einbezug von retrospektiv bis zu fünf Jahren (2014–2018).


Statistische Analyse

Es wurden 1-Jahres-Prävalenzen der diabetischen Nierenerkrankung gemäß den unterschiedlichen Definitionen auf Basis des Jahres 2018 in Prozent bezogen auf die Diabetespopulation stratifiziert nach Geschlecht, Alter und Diabetestyp berechnet. In der überjährigen Analyse wurden die Zeiträume 2014–18 (5 Jahre), 2015–18 (4 Jahre), 2016–18 (3 Jahre) und 2017–18 (2 Jahre) für die Prävalenzberechnungen betrachtet. Für die NET wurden Fälle je 1000 Personen mit Diabetes stratifiziert nach Geschlecht, Alter und Diabetestyp berechnet.



Ergebnisse

Entwicklung Falldefinitionen zu diabetischer Nierenerkrankung

Die diabetische Nephropathie (DNP) wurde über die Codes N08.3 oder E1x.2 aufgegriffen, die die Nierenerkrankung explizit als Diabeteskomplikation verschlüsseln und somit eine spezifischere Definition der Erkrankung ermöglichen. Die chronische Niereninsuffizienz bei Personen mit Diabetes (CNI) wurde mit dem Code N18, der eine Nierenerkrankung ohne direkten Diabetesbezug verschlüsselt, abgebildet. In der Sensitivitätsanalyse wurden zusätzlich zu Personen mit der Diagnose N18 solche mit der Diagnose N19 eingeschlossen, die eine Nierenerkrankung ohne direkten Diabetesbezug und ohne Hinweis auf eine anhaltende Erkrankung verschlüsselt. Das Vorliegen der Nierenerkrankung wurde angenommen, wenn die entsprechende Diagnose oder Diagnosekombination im Jahr 2018 mindestens in einem Quartal gesichert im ambulanten Sektor oder mindestens einmal im stationären Sektor als Haupt- oder Nebendiagnose codiert wurde.


1-Jahres-Prävalenzen der diabetischen Nierenerkrankungen

Im Jahr 2018 war bei Betrachtung eines einjährigen Beobachtungszeitraums bei 15,4% der Personen mit Diabetes eine DNP dokumentiert, bei 21,8% eine CNI. Bei Personen unter 60 Jahren war die Prävalenz von DNP höher als die von CNI, bei den 60-Jährigen oder älter war die Prävalenz von CNI höher als die von DNP ([Tab. 2]). Bei beiden Definitionen nahm der Anteil an Erkrankten mit dem Alter zu mit Ausnahme der Gruppe der ab 90 – Jährigen bei der DNP. Männer haben bei beiden Definitionen insgesamt höhere Prävalenzen (DNP: 16,6%; CNI: 22,3%) als Frauen (DNP: 13,9%; CNI: 21,2%) ([Tab. 2]).

Tab. 2 Prävalenzen (in % der Personen mit Diabetes) von diabetischer Nierenerkrankung nach Falldefinition, Diabetestyp, Altersgruppe und Geschlecht im Jahr 2018.

Diabetes gesamt

Typ-1-Diabetes

Typ-2-Diabetes

Frauen

Männer

Gesamt

Frauen

Männer

Gesamt

Frauen

Männer

Gesamt

Diabetische Nephropathie (DNP)

Bis 29 Jahre

5,0

4,1

4,5

4,8

4,4

4,6

*

*

4,3

30–39 Jahre

8,4

9,5

8,9

15,0

15,5

15,3

5,6

4,5

5,1

40–49 Jahre

8,1

10,3

9,4

13,7

17,4

15,9

6,8

8,7

8,0

50–59 Jahre

8,7

10,7

10,0

19,4

20,3

20,0

7,7

9,6

8,9

60–69 Jahre

11,9

14,2

13,3

26,0

28,0

27,1

11,5

13,7

12,8

70–79 Jahre

15,1

21,0

18,3

31,6

34,3

33,1

14,9

20,7

18,1

80–89 Jahre

19,3

24,1

21,5

40,6

46,9

43,4

19,1

23,9

21,3

90 Jahre und älter

15,5

22,6

17,6

*

*

*

15,7

22,3

17,7

Alle Altersgruppen

13,9

16,6

15,4

16,8

17,9

17,4

13,7

16,5

15,2

Chronische Niereninsuffizienz bei Diabetes (CNI)

Bis 29 Jahre

2,3

1,9

2,1

2,3

1,3

1,7

*

*

*

30–39 Jahre

4,7

5,8

5,3

6,5

8,6

7,7

4,1

3,6

3,9

40–49 Jahre

6,8

7,5

7,2

9,6

13,3

11,8

5,9

6,1

6,0

50–59 Jahre

9,3

9,8

9,6

16,4

15,1

15,6

8,5

9,2

9,0

60–69 Jahre

14,2

16,8

15,8

22,0

22,0

22,0

14,0

16,5

15,5

70–79 Jahre

24,2

29,2

26,9

29,9

31,4

30,7

24,1

29,1

26,8

80–89 Jahre

34,0

41,5

37,4

45,3

49,0

46,9

34,0

41,4

37,4

90 Jahre und älter

39,4

50,3

42,7

*

*

*

39,2

50,5

42,5

Alle Altersgruppen

21,2

22,3

21,8

13,2

13,3

13,2

21,6

22,8

22,3

Chronische Niereninsuffizienz bei Diabetes (Sensitivitätsanalyse)

Bis 29 Jahre

3,2

2,3

2,7

3,0

1,5

2,1

*

*

4,3

30–39 Jahre

5,3

6,5

5,9

7,7

8,6

8,2

4,3

4,7

4,5

40–49 Jahre

7,3

7,9

7,7

9,9

13,6

12,0

6,4

6,6

6,5

50–59 Jahre

10,0

10,9

10,6

17,4

15,1

15,9

9,2

10,4

10,0

60–69 Jahre

15,7

18,5

17,4

25,1

23,0

23,9

15,4

18,2

17,1

70–79 Jahre

26,6

32,2

29,7

34,2

32,1

33,1

26,4

32,2

29,5

80–89 Jahre

37,7

45,4

41,2

50,0

51,0

50,4

37,6

45,3

41,2

90 Jahre und älter

44,9

56,8

48,4

*

*

*

44,7

56,9

48,3

Alle Altersgruppen

23,4

24,5

24,0

14,7

13,6

14,1

23,9

25,2

24,6

*: Fallzahl n<10; Diabetische Nephropathie: ICD N08.3 oder E1x.2; Chronische Niereninsuffizienz bei Diabetes: ICD N18; Chronische Niereninsuffizienz bei Diabetes (Sensitivitätsanalyse): ICD N18 oder N19; Bei allen Falldefinitionen musste die Diagnose mindestens einmal gesichert im ambulanten Sektor oder einmal im stationären Sektor als Haupt- oder Nebendiagnose vorliegen.

Personen mit T1D hatten eine höhere Prävalenz von DNP (17,4%) als CNI (13,2%). Ein umgekehrtes Muster war bei Personen mit T2D (DNP: 15,2%; CNI: 22,3%) vorzufinden. Bei 94,2% der Personen mit CNI wurde neben dem Diabetes auch eine Hypertonie dokumentiert. Bei der Sensitivitätsanalyse stieg die 1-Jahresprävalenz um 2,2 Prozentpunkte auf 24,0%. Die Alters- und Geschlechtsverteilung entsprach der Hauptanalyse zur CNI.


Interne Validierung

Die interne Validierung ergab, dass 96,6% der DNP-Fälle sowie 93,5% der CNI-Fälle durch mindestens ein Kriterium validiert werden konnten ([Tab. 1]). Das wichtigste Validierungskriterium war die Dokumentation der Diagnose entweder in mindestens zwei Quartalen gesichert ambulant (m2Q) oder mindestens einmal im stationären Sektor als Hauptdiagnose (78,9% bei DNP, 78,6% bei CNI).


Zeitliche Persistenz

Die Prävalenz der DNP stieg bei einem Beobachtungszeitraum von fünf Jahren um 33% auf 20,5% und die Prävalenz der CNI um 23% auf 26,9% ([Abb. 1]). Die Prävalenzen stiegen mit jedem zusätzlich betrachteten Jahr an. Bei einem zweijährigen Beobachtungszeitraum stieg die Prävalenz bei der DNP um 12% und bei der CNI um 10% im Vergleich zur einjährigen Beobachtung, bei einer fünfjährigen Beobachtung nur noch um 4 bzw. 3% im Vergleich zur vierjährigen Beobachtung. Für die Sensitivitätsanalyse zur CNI zeigte sich ein vergleichbares Muster (Anhang [Abb. 1], online).

Zoom
Abb 1 Relativer Anteil der diabetischen Nephropathie (a) und der chronischen Niereninsuffizienz bei Diabetes (b) in Abhängigkeit von unterschiedlichen Beobachtungszeiträumen (in %) mit 2018=100.

Nierenersatztherapie

Für die Falldefinitionen der NET wurden ICD-, EBM- und OPS-Codes, die eine Dialyse oder eine Nierentransplantation kodieren, berücksichtigt. Die Gesamtprävalenz der Langzeitdialyse betrug 5,5 je 1000 Personen mit Diabetes (Männer: 7,1; Frauen: 3,7) und die der Nierentransplantation betrug 2,4 je 1000 (Männer: 2,8; Frauen: 2,0) im Jahr 2018.

Zusammengenommen hatten 7,5 pro 1000 Personen mit Diabetes eine NET im Jahr 2018. Bei Personen mit einem T1D war die Prävalenz mit 11,7 Personen pro 1000 Personen mit Diabetes fast doppelt so hoch wie bei Personen mit T2D (6,8) ([Abb. 2]).

Zoom
Abb. 2 Prävalenz Nierenersatztherapie bei Personen mit Typ-1-Diabetes (a) und Typ-2-Diabetes (b) je 1000 Personen mit Diabetes und absolute Fallzahl.

Die interne Diagnosevalidierung bestätigte alle 41 Personen, die nur über die ICD-Diagnose Z94.0 in die Falldefinition eingeschlossen wurden. Die Diagnose war in mindestens zwei Sektoren dokumentiert bzw. es wurde in mindestens zwei Quartalen ein Facharzt kontaktiert.



Diskussion

In der vorliegenden Studie wurden Falldefinitionen für die diabetischen Nierenkomplikationen diabetische Nephropathie (DNP), chronische Niereninsuffizienz (CNI) und die Nierenersatztherapie (NET) in Routinedaten der gesetzlichen Krankenversicherung entwickelt. Alle Falldefinitionen wiesen eine hohe interne Validität auf. Allerdings zeigt die Persistenzanalyse, dass die 1-Jahres-Prävalenz die Prävalenz der DNP und CNI unterschätzt, da diese womöglich nicht jährlich dokumentiert werden. Für die Falldefinition von NET fanden neben ICD-Diagnosen EBM- und OPS-Leistungen Verwendung.

Eine DNP legt einen Diabetes als Ursache der Nierenerkrankung zu Grunde, wohingegen eine CNI eine Funktionseinschränkung der Niere ohne expliziten Diabetesbezug darstellt. Entsprechend war die 1-Jahres-Prävalenz der CNI höher, insbesondere bei Personen mit T2D und in höheren Altersgruppen. Dies erscheint plausibel, da bei dieser Gruppe häufig zusätzlich eine Hypertonie vorliegt und als weitere Ursache für die Niereninsuffizienz in Frage kommt. In einer Zusatzanalyse wurde beobachtet, dass bei über 90% der Personen mit CNI ebenfalls eine Hypertonie dokumentiert war, was die Klärung der ätiologischen Ursache erschwert. Über 90% der Fälle konnten intern validiert werden, sodass von einer plausiblen Dokumentation auszugehen ist [9].

Analog zeigt sich in früheren Analysen basierend auf Daten nach Datentransparenzverordnung (DaTraV) und der DAK (nur Personen mit T2D), dass eine DNP (N08.3), definiert als 1-Jahres-Prävalenz, deutlich seltener vorliegt als eine CNI [18] [20] und damit womöglich die Krankheitslast der diabetischen Nierenerkrankung unterschätzt. Für die CNI bei Personen mit Diabetes berichten frühere Analysen sowohl für Diabetes gesamt (AOK-Hessen im Jahr 2010: 10,2% [21]; DaTraV-Daten im Jahr 2013: 13,0% [18]) als auch nur Personen mit T2D niedrigere Werte (DAK im Jahr 2015: 17,3% [20]). Aus Analysen mit Routinedaten lässt sich ein ansteigender Trend der Prävalenz von diabetischen Nierenerkrankungen ablesen, was erklären könnte warum die Schätzungen in der vorliegenden Studie höher ausfallen. Allerdings können auch Unterschiede der Studienpopulation und Falldefinition dazu beitragen.

Aktuellere Schätzungen basierend auf anderen Datenquellen, wie beispielsweise der Disease Management Programme (DMP) für Diabetes in Nordrhein-Westfalen berichten im Jahr 2022 eine Prävalenz der DNP von 14,4% für T2D und 17,3% für T1D [22], welche in vergleichbarer Größenordnung zu den Schätzungen der DNP in der vorliegenden Studie liegen. Dabei sollte beachtet werden, dass in den Analysen nur Personen berücksichtigt werden, die im DMP eingeschrieben sind. Analysen basierend auf Labordaten in Untersuchungsstudien berichten höhere Prävalenzen. So wiesen gemäß dem DPV- und DIVE-Register 28,1% der Erwachsenen mit T2D im Jahr 2017 eine diabetische Nierenerkrankung, definiert als Mikro- oder Makroalbuminurie, auf [23] und die Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS; 2008–2011) berichtet für 40,3% der 18- bis 79-Jährigen mit T2D das Vorliegen einer Niereninsuffizienz, basierend auf der geschätzten glomerulären Filtrationsrate [24]. Zum einen könnte eine spezifische Population, die in diesen Studien eingeschlossen wird, zu den höheren Prävalenzen beitragen. Zum anderen bestätigen jedoch Auswertung von Labordaten, dass 1-Jahres-Prävalenzen von diabetischen Nierenerkrankungen anhand von Routinedaten die Prävalenzen unterschätzen. Insbesondere werden bei Untersuchungsstudien auch bis dato unerkannte Nierenerkrankungen eingeschlossen. Bei den meisten Personen mit Diabetes wird eine CNI bei einer Routineuntersuchung festgestellt [25]. Sofern eine DNP oder CNI dokumentiert wird, scheint diese auch intern valide, jedoch lässt die Persistenzanalyse vermuten, dass die Diagnosen nicht jährlich dokumentiert werden. Der Grund hierfür könnte darin liegen, dass eine Nierenerkrankung insbesondere im Anfangsstadium keine spezifische Behandlung benötigt, sondern die Behandlung der Grunderkrankung (Diabetes, Hypertonie) im Vordergrund steht und aus diesem Grund die Diagnose der Niereninsuffizienz nicht jedes Jahr dokumentiert wird. Somit sind analog zu früheren Untersuchungen längere Beobachtungszeiträume für die Prävalenzschätzung sinnvoll [26].

Die Definition für NET folgte dem Vorschlag von Claessen et al. [16] und schloss Langzeitdialyse (mindestens neun aufeinanderfolgende Wochen mit Dokumentation von Dialyse) und Nierentransplantationen ein. Die Häufigkeit der Dialyse bei Personen mit Diabetes war dabei vergleichbar mit Analysen auf Basis der DaTraV-Daten [18] und Auswertungen des DMP Nordrhein-Westfalen im Jahr 2022 (T2D: 0,6%; T1D: 1,0%) [22]. Auch unter Einbezug der Transplantation standen die Ergebnisse in Einklang mit einer Auswertung von Daten der AOK Hessen, welche eine Prävalenz von 1,0% für Dialyse oder Transplantation bei Personen mit Diabetes im Jahr 2010 berichtete [21]. Da die Falldefinition der NET auf Leistungsdaten basiert, ist von einer geringen Unterschätzung der Prävalenz auszugehen.

Limitationen

Die Analyse mit Routinedaten der gesetzlichen Krankenkassen birgt die Gefahr einer Unterschätzung [9], da nur Personen in die Analyse eingeschlossen werden können, die die medizinische Versorgung in Anspruch nehmen [6] und bei denen die Erkrankungen dokumentiert sind. Personen mit unerkanntem Diabetes beziehungsweise mit einer unerkannten Nierenerkrankung wurden in der vorliegenden Analyse nicht eingeschlossen. Eine teilweise lückenhafte Dokumentation der betrachteten ICD-Codes lässt eine genauere Prävalenzschätzung nicht zu. Weiterhin kann trotz Standardisierung für Alter und Geschlecht ein Kassenbias nicht ausgeschlossen werden, da sich die Morbidität zwischen den Krankenkassen unterscheiden kann [27].



Fazit

In der vorliegenden Analyse konnten intern valide Falldefinitionen für die diabetische Nephropathie und chronische Niereninsuffizienz in Routinedaten entwickelt werden, die eine zeitnahe Auswertung spezifiziert nach Diabetestyp ermöglichen. Jedoch lassen die Ergebnisse vermuten, dass insbesondere bei Personen mit Typ-2-Diabetes und in höheren Altersgruppen die Prävalenz der diabetischen Nephropathie unterschätzt wird. Weiterhin zeigen die Analysen zur Persistenz, dass bei Betrachtung eines 1-Jahres-Zeitraums die Prävalenz der diabetischen Nephropathie und der chronischen Niereninsuffizienz unterschätzt wird und dies bei der Interpretation berücksichtigt werden muss. Die Nierenersatztherapie kann unter Einbezug von EBM- und OPS-Leistungen valide auf Basis von Routinedaten abgebildet werden. Somit können sowohl die diabetische Nierenerkrankung als auch die Nierenersatztherapie in der Diabetes-Surveillance als Indikatoren für Komplikationen der Erkrankung abgebildet werden, sollten aber vor dem Hintergrund der beschriebenen Limitation interpretiert werden. Labordaten zur Nierenfunktion aus bundesweiten, bevölkerungsbezogenen Untersuchungsstudien in größeren zeitlichen Abständen stellen eine sinnvolle Ergänzung zu den Routinedaten dar.


Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Zusätzliches Material


Korrespondenzadresse

Oktay Tuncer
Robert Koch-Institut
Abteilung für Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring
Gerichtstraße 27
13347 Berlin
Germany   

Publication History

Received: 13 June 2024

Accepted after revision: 29 November 2024

Article published online:
01 June 2025

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Abb 1 Relativer Anteil der diabetischen Nephropathie (a) und der chronischen Niereninsuffizienz bei Diabetes (b) in Abhängigkeit von unterschiedlichen Beobachtungszeiträumen (in %) mit 2018=100.
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Abb. 2 Prävalenz Nierenersatztherapie bei Personen mit Typ-1-Diabetes (a) und Typ-2-Diabetes (b) je 1000 Personen mit Diabetes und absolute Fallzahl.