Gesundheitswesen 2025; 87(05): 309-310
DOI: 10.1055/a-2519-8430
Panorama
Gefängnismedizin

Abhängigkeitspotential von Gabapentinoiden: Ein Ruf aus der Gefängnismedizin Querschnittsstudie an Ärzt*innen und Gesundheits-/Krankenpfleger*innen des geschlossenen Strafvollzugs in NRW

Die steigende Zunahme der Verwendung von Gabapentinoiden (Gabapentin, Pregabalin) bei der medizinischen Behandlung von Patient*innen mit chronischen nicht-tumor Schmerzen hat die Aufmerksamkeit auf das mögliche Abhängigkeitspotenzial von Gabapentinoiden gelenkt [1]. Systematische Literaturübersichten belegten das klinisch relevante Risiko eines Missbrauchs von Gabapentinoiden in substanzkonsumierenden Bevölkerungsgruppen sowohl auf epidemiologischer als auch auf Einzelfallebene [2]. Trotz dieser zwei Negativmerkmalen steigen die Verschreibungsraten von Gabapentionoiden in vielen Ländern wie den USA, Großbritannien und Deutschland weiter an [3]. Eine Analyse der Verschreibungsmuster auf der Grundlage sekundärer Gesundheitsdaten lieferte Hinweise auf eine häufige Verschreibung von Gabapentinoiden für den Off-Label-Gebrauch bei chronischen Schmerzen, unabhängig von der Diagnose neuropathischer Schmerzen [3].

Ein gesteigertes Bewusstsein für das Abhängigkeits- sowie Missbrauchspotential von Gabapentinoiden scheint sich bisher in der Regelversorgung, wo ein Großteil der Verschreibungen stattfindet, noch nicht herausgebildet zu haben, besteht aber in anderen Bereichen, etwa der Suchtmedizin [4]. Doch wie ist die Situation in deutschen Gefängnissen und welche Folgerungen für die Allgemeinbevölkerung kann man schließen?

Erstmalig für Deutschland wurde zu dieser Thematik eine Querschnittsstudie mit Ärzt*innen und Gesundheits-/Krankenpfleger*innen des geschlossenen Strafvollzugs in Nordrhein-Westfalen (NRW) durchgeführt. Durch eine selbstentwickelte anonyme online Befragung mittels Lime Survey wurden folgende Themenkomplexe erfasst: 1. Arbeitsplatz, 2. Schmerzanamnese, 3. Schmerztherapie bei substituierten Patient*innen, 4. Gabapentinoid-Abhängigkeit, 5. Rauchexpositionen, 6. Persönliche Information. Die Erhebung fand im Zeitraum des 7. März bis 31. Mai 2024 statt. Es liegt hierfür die Zustimmung des Ministeriums der Justiz NRW, des Kriminologischen Dienstes NRW, sowie der Anstaltsleitungen vor.

Die Rücklaufquote betrug 43% (n=110) und in die Analyse konnten n=91 Ärzt*innen und Gesundheits- und Krankenpfleger*innen ohne frühen Teilnahmeabbruch (Teilnahmerate: 36%) eingeschlossen werden. Das analysierte Probandenkollektiv setzte sich aus n=32 Ärzt*innen (35%) und n=59 Gesundheits- und Krankenpfleger*innen (65%) zusammen. 40% der Befragten waren weiblich und 46% männlich. 52% der Teilnehmenden waren 49 Jahre und jünger, 34% waren 50 Jahre und älter. Jeweils 14% machten keine Angabe zu ihrem Geschlecht und Alter.

71% der Befragten schätzen, das Abhängigkeitspotential von Gabapentinoiden bei den Inhaftieren als sehr hoch (25%) und hoch (46%) ein ([Abb. 1]).

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Abb. 1 Einschätzung des Abhängigkeitspotentials der Gabapentinoide, Gefängnismedizinprojekt NRW (n=91).

43% gaben an, dass sie die Wirkung und die Bedeutung von Gabapentinoiden als Suchtmittel am ehesten mit Benzodiazepinen vergleichen würden. 13% verglichen die Gabapentinoide am ehesten mit Opioiden. Etwa ein Drittel des Kollektivs gab keine Einschätzung ab.

Die Ärzt*innen und Gesundheits-/Krankenpfleger*innen des geschlossenen Strafvollzugs in NRW hielten mehrheitlich das Abhängigkeitspotential von Gabapentinoiden für hoch (46%) oder sehr hoch (25%). Bezogen auf die Wirksamkeit im Vergleich mit bekannten Suchtmitteln im Gefängnis wurden vor allem Bezüge zu Benzodiazepinen (42,9%) sowie zu Opioiden (13,2%) hergestellt.

Zu den Limitationen dieser Untersuchung zählte eine mögliche Selektionsverzerrung aufgrund der niedrigen Rücklaufquote, zudem waren aufgrund des Datenschutzkonzepts keine Clustereffekte analysierbar. Inhaftierte stellen eine vulnerable Bevölkerungsgruppe mit besonderen Krankheitslasten (Suchterkrankung, psychische Erkrankung, Multimorbidität) dar. Es ist zu vermuten, dass dadurch die unerwünschten Nebenwirkungen von Arzneimitteln deutlicher erkennbar werden und wichtige Hinweise für die Allgemeinbevölkerung abgeleitet werden können.

Auffallend war nicht nur der Hinweis auf ein hohes Abhängigkeitspotenzial für Gabapentinoide in dieser Population, sondern auch der Bezug zu Benzodiazepinen. Nach der teilweise begeisterten Markteinführung der Benzodiazepine in den 60er Jahren kam es zu einer deutlichen Mehrverschreibung und Indikationsausweitung in den 70er Jahren und ersten systematischen Hinweisen auf das unterschätzte Suchtpotenzial in den 80er Jahren. Danach dauerte es weitere zwei Jahrzehnte, um entsprechende Regulationen und Medikationsrichtlinien zu entwickeln und ein zunehmendes Verständnis des Suchtpotentials in Gesellschaft und Ärzteschaft zu erreichen [5]. Auch wenn das tatsächliche Suchtpotenzial von Gabapentinoiden noch nicht ausreichend erforscht ist, sollten frühe Warnungen wie aus der Gefängnismedizin für die Versorgung der Allgemeinbevölkerung ernst genommen und weitere Forschung gefördert werden. Besonders außerhalb der etablierten Indikationen sollte eine Verschreibung mit besonderer Vorsicht und Kontrolle erfolgen. Ein zeitlicher Verlauf bezogen auf die Umsetzung suchtmedizinischer Erkenntnisse auf das Verschreibungsverhalten wie bei den Benzodiazepinen ist nicht wünschenswert.

Weiterhin zeigte diese Arbeit die Möglichkeit auf, durch Versorgungsforschung in deutschen Gefängnissen wichtige zusätzliche Perspektiven auf medizinische Themen mit einem Mehrnutzen auch für die Solidargemeinschaft zu eröffnen.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
30. April 2025

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  • Literatur

  • 1 Goodman CW, Brett AS. Gabapentin and Pregabalin for Pain – Is Increased Prescribing a Cause for Concern?. N Engl J Med 2017; 377: 411-414
  • 2 Mersfelder TL, Nichols WH. Gabapentin: Abuse, Dependence, and Withdrawal. Ann Pharmacother 2016; 50: 229-233
  • 3 Viniol A, Ploner T, Hickstein L, Haasenritter J, Klein KM, Walker J, Donner-Banzhoff N, Becker A. Prescribing practice of pregabalin/gabapentin in pain therapy: an evaluation of German claim data. BMJ Open 2019; 9: e021535
  • 4 Bonnet U, Kanti AK, Scherbaum N, Specka M. The Role of Gabapentinoids in the Substance Use Pattern of Adult Germans Seeking Inpatient Detoxification Treatment – A Pilot Study. J Psychoactive Drugs 2023; 55: 102-111
  • 5 Lader M. Benzodiazepines revisited – will we ever learn?. Addiction 2011; 106: 2086-2109