Nervenheilkunde 2025; 44(05): 344-346
DOI: 10.1055/a-2516-3781
Gesellschaftsnachrichten

Kopfschmerz News der DMKG

 

Von relativen Verbesserungen zu absoluten Zielen: Neue Maßstäbe in der Migräneprävention

**** Sacco S, Ashina M, Diener HC et al. Setting higher standards for migraine prevention: A position statement of the International Headache Society. Cephalalgia 2025; 45(2): 3331024251320608. doi: 10.1177/03331024251320608

Hintergrund

Migräne gehört zu den neurologischen Erkrankungen mit der höchsten Krankheitslast und erheblichen sozioökonomischen Auswirkungen. Die Beeinträchtigung der Lebensqualität betrifft nicht nur die akuten Kopfschmerzphasen, sondern auch das Intervall zwischen den Attacken. In den letzten Jahren haben innovative Therapieansätze, insbesondere die gezielte Hemmung des CGRP-Signalwegs, die Migräneprophylaxe grundlegend verändert. Diese Entwicklungen ermöglichen eine wirksamere und besser verträgliche Behandlung. Dennoch bleibt das Potenzial der Migräneprävention oft ungenutzt. In ihrem aktuellen Position Statement fordert die International Headache Society (IHS) daher einen Paradigmenwechsel: Statt sich mit einer rein prozentualen Reduktion der Migränetage zufriedenzugeben, sollten ambitioniertere Therapieziele definiert werden – mit dem Ideal einer vollständigen oder nahezu vollständigen Kontrolle der Erkrankung.


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Zusammenfassung

Namhafte internationale Experten legen in diesem Positionspapier praxisnahe, ambitionierte Ziele für die Migräneprophylaxe fest, um Betroffenen eine bestmögliche Lebensqualität zu ermöglichen und neue Impulse für das klinische Management zu setzen. In der Bewertung der Wirksamkeit präventiver Migränetherapien liegt der Fokus traditionell auf der prozentualen Reduktion der monatlichen Migränetage. Diese Methodik hat sich in klinischen Studien bewährt, und die 50 %ige Reduktion der monatlichen Migränetage bleibt als Wirksamkeitskriterium für Zulassungsstudien essenziell. Für die klinische Praxis stößt dieses Konzept jedoch an Grenzen.

Ein zentrales Problem der prozentualen Reduktion ist, dass sie die verbleibende Migränelast („residual migraine burden“) unzureichend abbildet. Beispielsweise kann eine 50 %ige Reduktion für eine Person mit ursprünglich 8 monatlichen Migränetagen (MMD) eine erhebliche Verbesserung bedeuten (nur noch 4 MMD), während ein Patient mit 20 MMD trotz gleicher relativer Reduktion weiterhin stark beeinträchtigt ist (10 MMD). Die interindividuelle Variation der verbleibenden Krankheitslast wird durch den alleinigen Blick auf Prozentwerte nicht adäquat berücksichtigt.

Daher empfiehlt die IHS einen Perspektivenwechsel in der klinischen Praxis: Statt sich ausschließlich auf relative Verbesserungen zu konzentrieren, sollte stärker auf die absoluten Migränetage oder Tage mit moderaten bis schweren Kopfschmerzen während der Behandlung geachtet werden. Hierzu schlägt die IHS eine neue Kategorisierung des Therapieerfolgs vor, die 4 Stufen umfasst:

  • Migränefreiheit (Migraine Freedom) – keine Tage mit Migräne oder moderaten bis schweren Kopfschmerzen über einen Zeitraum von 3 Monaten.

  • Optimale Kontrolle (Optimal Control) – weniger als 4 Tage mit Migräne oder moderaten bis schweren Kopfschmerzen pro Monat, mit guter Wirksamkeit der Akuttherapie.

  • Mäßige Kontrolle (Modest Control) –4–6 Tage pro Monat mit Migräne oder moderaten bis schweren Kopfschmerzen, was für viele Patienten mit chronischer oder hochfrequenter episodischer Migräne bereits eine deutliche Verbesserung darstellen kann.

  • Nicht ausreichende Kontrolle (Insufficient Control) – mehr als 6 Tage mit Migräne oder moderaten bis schweren Kopfschmerzen pro Monat, wodurch eine Anpassung oder Intensivierung der Therapie erforderlich wird.


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Kommentar

Diese neue Einteilung soll dazu beitragen, dass Therapieerfolge in der klinischen Praxis praxisnäher erfasst und Behandlungsstrategien noch gezielter angepasst werden können. Es ist erfreulich, dass wir in der Lage sind, bei manchen Patienten Migränefreiheit zu erreichen – ein Ziel, das noch vor wenigen Jahren als utopisch galt. Damit verschiebt sich der Fokus der Migräneprophylaxe: Es geht nicht mehr nur darum, die Zahl der Migränetage zu reduzieren, sondern vielmehr darum, eine normale oder nahezu normale Lebensqualität wiederherzustellen. In dieser Hinsicht kann es sinnvoll sein, sich auf die verbleibenden Migränetage zu konzentrieren. Der Ansatz der IHS fördert ein „mindset of continual improvement“ – eine Haltung, die über minimale Therapieerfolge hinausgeht und darauf abzielt, für jeden Patienten und jede Patientin das bestmögliche Ergebnis zu erzielen.

Allerdings bleibt zu bedenken, dass die Migränelast sehr individuell ist und sich nicht allein durch absolute Migränetage oder Kopfschmerztage erfassen lässt. Faktoren wie Attackenintensität, Dauer, Begleitsymptome oder die Wirksamkeit der Akuttherapie sind ebenfalls entscheidend. Daher bleibt die Berücksichtigung der subjektiven Eindrücke, z. B. durch Patient-reported outcomes (PROs), sowie eine individuelle Anpassung der Therapie unerlässlich, um den Behandlungserfolg wirklich umfassend zu bewerten.

Carolin L. Höhne und Bianca Raffaelli, Berlin


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Cluster-Analyse bei migräneassoziierten Symptomen (CAMS) bei Kindern und Jugendlichen: eine retrospektive multizentrische Querschnittsanalyse

****Patterson Gentile C, Szperka CL, Hershey AD. Cluster Analysis of Migraine-associated Symptoms (CAMS) in youth: A retrospective cross-sectional multicenter study. Headache. 2024; 64(10): 1230–1243. doi: 10.1111/head.14859

Hintergrund

Das Vorhandensein oder Fehlen von Symptomen, welche mit Kopfschmerzen assoziiert sind, spielen bei der Diagnosefindung nach ICHD-3-Kriterien eine wichtige Rolle. Zu verstehen, wie die mit Migräne assoziierten Symptome zusammenwirken und miteinander in Beziehung stehen, kann neue Einblicke in die Endophenotypen der Migräne geben, um den Weg für eine gezieltere Behandlung zu ebnen. In der folgenden Studie wurden mittels Cluster-Analyse migräneassoziierte Symptome bei Kindern und Jugendlichen erfasst und mit demografischen Merkmalen wie Kopfschmerzbeeinträchtigung, Alter und Geschlecht korreliert.


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Zusammenfassung

In dieser multizentrischen retrospektiven Querschnittsanalyse wurden Fragebogendaten (standardisierte Kopfschmerzfragebögen, PedMIDAS) von 10721 6–17-jährigen Kindern und Jugendlichen aus 2 Kopfschmerzregistern von tertiären pädiatrischen Versorgungszentren analysiert. Dabei wurden 11 migräneassoziierte Symptome untersucht. Zu diesen gehörten: Photophobie, Phonophobie, Osmophobie, Übelkeit, Erbrechen, Benommenheit, Schwindel, verändertes Denken, sich ändernde Sehkraft, Nackenschmerzen und Ohrgeräusche. Ausschlusskriterium war das Vorhandensein von sekundären Kopfschmerzen.

66,5 % der der Teilnehmenden waren weiblich, das mediane Alter betrug 13 Jahre. 89,8 % der Teilnehmenden hatten eine Migränediagnose, für die Cluster-Analyse der migräneassoziierten Symptome wurden alle primären Kopfschmerzdiagnosen einbezogen. Licht- (80,8 %; 8662/10721) und Lärmempfindlichkeit (75,1 %; 8049/10721) waren die häufigsten Begleitsymptome, gefolgt von Übelkeit (65 %; 6968/10721) und Benommenheit (53 %; 5678/10721). Verändertes Denken, Erbrechen, Nackenschmerzen, Schwindel und veränderter Visus wurden bei 25–50 % der Teilnehmenden erfasst. Geruchsempfindlichkeit und Ohrgeräusche wurde bei weniger als 25 % der Teilnehmenden wahrgenommen. In der Analyse konnten 3 Hauptdimensionen ausgemacht werden, welche über beide Standorte hinweg konsistent auftraten. Die 1. Dimension weist Unterschiede zur Häufigkeit des gemeinsamen Vorkommens von Symptomen auf. Die 2. Dimension unterscheidet zwischen ICHD-3 migräneassoziierten Symptomen sowie Nicht-ICHD-3 migräneassoziierten Symptomen. Die 3. Dimension wurde zwischen sensorischen hypersensitiven Symptomen und vestibulären Symptomen gebildet. Insgesamt zeigt sich in der Cluster-Analyse vor allem, dass zwar einige Symptome gehäuft gemeinsam auftreten und Cluster bilden, zwischen den einzelnen Clustern jedoch keine großen Absonderungen auszumachen sind, sodass eine Kombination aus allen erfassten Symptomen möglich sein kann.


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Zusammenfassung

Photophobie und Phonophobie zeigten in allen 3 CAMS-Dimensionen eine erhebliche Überlappung, was darauf hinweist, dass diese Symptome sehr wahrscheinlich gemeinsam auftreten. Osmophobie wurde seltener berichtet, aber wenn sie auftrat, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch Photophobie und Phonophobie angegeben wurden. Die dritte Dimension zeigte die klarste Trennung zwischen sensorischer Hypersensibilität und anderen Symptomen. Übelkeit und Erbrechen bildeten in allen 3 Dimensionen ein Cluster. Die 2. Dimension trennte Erbrechen von anderen Symptomen, wobei Übelkeit das nächstgelegene Nachbarsymptom blieb. Schwindelgefühl, Konzentrationsstörungen und Nackenschmerzen bildeten ein Cluster in der Mitte aller 3 CAMS-Dimensionen, was darauf hinweist, dass es mit allen anderen Symptomen auftreten könnte. Schwindel, Ohrensausen und Sehstörungen bildeten in allen 3 CAMS-Dimensionen konsistent ein Cluster. Diese Symptomkonstellation könnte auf eine Funktionsstörung im vestibulären System oder im Hirnstamm zurückzuführen sein, oder alternativ auf den parietalen Kortex [1], [2].

In den Korrelationsanalysen zeigte sich, dass je mehr Symptome gemeinsam auftraten, desto höher war die Kopfschmerzintensität (Spearman‘s ρ = 0,18, 95 % Konfidenzintervall [CI] 0,17–0,20) und desto höher war auch die Beeinträchtigung aufgrund der Kopfschmerzen (PedMIDAS) (ρ = 0,26, 95 % CI 0,25–0,28).

Geschlecht sowie Alter zeigten eine signifikante Interaktion für das Auftreten von mehreren Symptomen. Dabei zeigten Mädchen häufiger Nicht-Migräne assoziierte Symptome als Jungen und jüngere Kinder präsentierten häufiger nur migräneassoziierte Symptome. Ab 12 Jahren zeigte sich ein signifikanter Anstieg von Symptomen bei den Mädchen im Vergleich zu Jungen. Nicht-Migräne assoziierte Symptome korrelierten mit einer höheren Migränehäufigkeit und mit einer geringeren Schwere der Migräneattacken im Vergleich zu den ICHD-3 Migräne assoziierten Symptomen. Die Patienten, welche keine Migränediagnose hatten, sondern Kopfschmerzen vom Spannungstyp oder andere primäre Kopfschmerzen, hatten selten ICHD-3 Migräne assoziierte Symptome. Wenn bei diesen Patienten Symptome angegeben wurden, waren es Nicht-Migräne assoziierte Symptome und unter diesen am häufigsten vestibuläre Symptome.


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Kommentar

Diese Studie gibt einen sehr guten Überblick über das Vorkommen von Begleitsymptomen bei Kindern und Jugendlichen mit Migräne und welche Symptome häufig gemeinsam auftreten. Die Hauptstärke dieser Arbeit liegt darin, dass sie auf 2 großen Datensätzen basiert, die sich in geografischen Standorten, Demografien und klinischen Settings unterscheiden. Trotz dieser Unterschiede waren die 3 CAMS-Dimensionen in den beiden Zentren konsistent. Die erste Dimension zeigte, dass Personen, die ein Symptom berichteten, mit höherer Wahrscheinlichkeit auch mehrere Symptome angaben. Die zweite Dimension bestätigte das Clustern von migräneassoziierten Symptomen, die im ICHD enthalten sind (Photophobie, Phonophobie, Übelkeit und Erbrechen). Es kommt zu einem Selektionsbias da nur Patienten, welche sich in einer spezialisierten Kopfschmerzambulanz aufgrund der Kopfschmerzen vorstellten, in diese Studie eingeschlossen wurden. Dabei ist anzunehmen, dass insgesamt eher schwerer betroffene Kopfschmerzpatienten überrepräsentiert werden. Außerdem ist dieses Model durch die nur 11 Symptome limitiert. Die Tatsache, dass die Ergebnisse mit diesem reduzierten Symptomset sehr ähnlich waren, spricht für die Robustheit der Ergebnisse.

Zusammenfassend kann man sagen, dass mit dieser Studie das Vorkommen der ICHD-3 gelisteten Begleitsymptome (Photophobie, Phonophobie, Übelkeit und Erbrechen) bestätigt wird. Sie zeigt jedoch auch auf, dass viele Nicht-ICHD-3 Symptome häufig mit den genannten interagieren und gemeinsam auftreten können. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen mit einer wahrscheinlichen Migräne könnten solche Nicht-ICHD-3-Migräne assoziierten Symptome mehr berücksichtigt werden und somit die Diagnose sichern.

Laura Zaranek, Dresden

INFORMATION

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Exzellente Arbeit, die bahnbrechende Neuerungen beinhaltet oder eine ausgezeichnete Übersicht bietet

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Gute experimentelle oder klinische Studie

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Gute Studie mit allerdings etwas geringerem Innovationscharakter

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Studie von geringerem klinischen oder experimentellen Interesse und leichteren methodischen Mängeln

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Studie oder Übersicht mit deutlichen methodischen oder inhaltlichen Mängeln

Die Kopfschmerz-News werden betreut von der Jungen DMKG, vertreten durch Priv.-Doz. Dr. Robert Fleischmann, Greifswald, Dr. Katharina Kamm, München (Bereich Trigemino-autonomer Kopfschmerz & Clusterkopfschmerz), Dr. Laura Zaranek, Dresden (Bereich Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen) und Dr. Thomas Dresler, Tübingen (Bereich Psychologie und Kopfschmerz).

Ansprechpartner ist Priv.-Doz. Dr. Robert Fleischmann, Klinik und Poliklinik für Neurologie, Unimedizin Greifswald, Ferdinand-Sauerbruch-Str. 1, 17475 Greifswald, Tel. 03834/86–6815, robert.fleischmann@uni-greifswald.de

Die Besprechungen und Bewertungen der Artikel stellen die Einschätzung des jeweiligen Autors dar, nicht eine offizielle Bewertung durch die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft.


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Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
01. Mai 2025

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