Balint Journal 2025; 26(01): 30-34
DOI: 10.1055/a-2511-6268
Deutscher Studenten-Balintpreis

Sterben unter Schmerzen – Zwischen Mitfühlen und Mitleiden

Ein Erfahrungsbericht zur Teilnahme am Deutschen Studenten-Balintpreis 2025Dying with Pain – Between Sympathy and CompassionA Field Report to Participate in the German Students' Balint Award 2025
Sina Sailler
1   Johannes Gutenberg Universität Mainz, Mainz
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Exposition

Vor Aufnahme meines Studiums der Humanmedizin habe ich zunächst als ungelernte Hilfskraft in der Krankenpflege gearbeitet und anschließend eine Ausbildung zur Operationstechnischen Assistentin absolviert. Mit Beginn des Studiums habe ich die meisten meiner Wochenenden und Feiertage in der Klinik verbracht und als „studentische Aushilfe“ in 12-Stunden-Schichten auf Station und in der Notaufnahme gearbeitet. Meine hier geschilderte Erfahrung habe ich im Rahmen dieser Tätigkeit in einer mittelgroßen Klinik gemacht. Somit bringe ich nunmehr 10 Jahre Erfahrung im Gesundheitswesen aus verschiedenen Blickwinkeln – als Aushilfe, als Auszubildende, als examinierte Fachkraft, als Studentin – mit. In dieser Zeit habe ich einige Fälle erlebt, die mich beschäftigt oder berührt haben, und ich musste lernen, traurige Schicksalsschläge nicht zu nah an mich heranzulassen, die Klinik möglichst nicht „mit nach Hause zu nehmen“ und mich von dem Leiden der Patienten abzugrenzen. Teilweise bin ich also vielleicht sogar schon etwas „abgestumpfter“ als andere Studierende mit weniger praktischer Erfahrung – eben so, wie man es den meisten Medizinern nach langjähriger klinischer Tätigkeit nachsagt. Nichtsdestotrotz gibt es immer wieder Patientenfälle, bei denen die Abgrenzung für mich persönlich schwierig ist.

Dieser besondere Fall ereignete sich am diesjährigen Ostermontag; ein Fall, der mich wieder einmal sehr berührt hat, meine innere Haltung gegenüber der medizinischen Versorgung reflektieren und unser Handeln als Mediziner, aber vor allem als Menschen gegenüber den uns zum Schutz befohlenen Patienten überdenken ließ. Rückblickend war dieser Tag einer dieser traurigen Dienste, an denen die Patienten leider – wie es wohl gemäß Murphy’s law immer mal wieder vorkommt – in Kleingruppen von 3en verstarben. Den Anfang machte eine Patientin, die nach häuslichem Treppensturz im Grunde bereits hirntot in unsere Zentrale Notaufnahme eingeliefert wurde. Als nächstes verstarb Frau L., die Patientin, um die sich der vorliegende Fallbericht handelt. Am Abend starb die Patientin, deretwegen ich unter anderem auch zu spät bei Frau L. am Krankenbett erschien.

An diesem Tag begann mein Dienst wie immer mit der morgendlichen Runde auf den Stationen, bei der ich den Patienten Venenverweilkanülen legte oder Blut abnahm. Anschließend arbeitete ich in der Zentralen Notaufnahme. An diesem Tag saß der Wartebereich wieder einmal voller Menschen, in der Rettungshalle stauten sich die Rettungswagen. Die Notfälle trudelten einer nach dem anderen und teilweise auch gleichzeitig ein. Der Vormittag ging schnell vorbei, um die Mittagszeit beschäftigte uns vor allem der Fall um die gestürzte Patientin, deren Hirntod wir nur noch feststellen konnten. Neben der Arbeit in der Notaufnahme klingelte mein Telefon an diesem Tag im Minutentakt, weil ich bei diesem und jenen Patienten auf Station „mal eben schnell“ eine Venenverweilkanüle legen, Blut oder Blutkulturen abnehmen sollte. So auch bei Frau L.

Frau L. wurde am Vortag wegen Schwäche, Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit und Diarrhoen mit Unterbauchschmerzen stationär aufgenommen. Wegen derselben Symptomatik wurde die Patientin in den vorausgegangenen 2 Monaten zweimal, zuletzt bis etwa eine Woche vor dem hier geschilderten Ereignis, in einer anderen Klinik stationär behandelt. Hierbei wurde eine infektiöse Genese ausgeschlossen und die Symptomatik im Rahmen einer vorbekannten Tumorerkrankung (hepatisch metastasiertes Rezidiv-Urothelkarzinom mit Beteiligung der Harnblase, des linken Ureters und der linken Niere; palliatives Procedere) gewertet. Da in der Notaufnahme der sonographische Verdacht auf einen Ileus geäußert worden war, wurde bei Frau L. eine CT-Aufnahme angeordnet, in der sich dieser jedoch nicht bestätigen ließ. Trotz der bereits durchgeführten Erregerdiagnostik im anderen Krankenhaus, wurde Frau L. vorerst auch bei uns in domo isoliert.

Als ich nun am nächsten Tag auf dem Weg zu besagter Patientin war, begegnete mir ihr Sohn auf dem Flur, der über die Isolation seiner Mutter sehr unglücklich war. Er fragte mich leicht verärgert nach dem Grund, da doch bereits ein infektiöses Geschehen in der jüngsten Vergangenheit ausgeschlossen worden sei. Ich beruhigte den Angehörigen und sprach von Vorsichtmaßnahmen; mit etwas milderer Stimmung verließ der Sohn die Klinik und kündigte an, er würde am nächsten Tag nochmals vorbeischauen. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir beide nicht, dass er noch am selben Abend neben seiner sterbenden Mutter warten würde, dass jemand komme und ihre Schmerzen linderte – vergeblich.

Im Patientenzimmer erwartete mich die 87-jährige Patientin Frau L., die neben ihrem fortgeschrittenen Krebsleiden noch eine ganze Reihe anderer Vorerkrankungen mitbrachte, aber insgesamt einen dafür noch rüstigen Eindruck auf mich machte. Vor allem geistig schien sie trotz der beginnenden Demenz im Gespräch mit mir noch klar und gewahr zu sein – wenn da nicht diese unerträglichen Bauchschmerzen wären, über die sie klagte. Ich fragte die Patientin, ob sich die Schmerzen verändert hätten im Vergleich zum Vortag. Sie verneinte und ich war beruhigt – in diesem Augenblick schien es mir, als wäre alles getan, was hätte getan werden müssen: ein Arzt hatte die Patientin wegen genau dieser Beschwerden bereits untersucht, was hätte ich als Studentin jetzt noch tun sollen? Also nahm ich ihr wie angeordnet Blut ab und hatte sogar Novalminsulfon als Infusion von den Schwestern mitgegeben bekommen, um diese gegen die Schmerzen anzuhängen. Als examinierte Fachkraft war ich dazu ja befugt. Ich sprach der Patientin also aufmunternde Worte zu, dass die Schmerzen sicherlich gleich besser würden unter der Infusion und verließ das Zimmer. Ich hätte mein Stethoskop unter dem Schutzkittel dabeigehabt, um die Darmgeräusche auszukultieren. Ich hätte meine beiden Hände nutzen können, um den Bauch zu palpieren. Vielleicht wären mir hochgestellte oder fehlende Darmgeräusche aufgefallen. Vielleicht hätte ich eine Abwehrspannung festgestellt. Ich hätte fragen können, ob neben den Schmerzen auch weitere Beschwerden wie Stuhlverhalt oder Erbrechen vorlagen. Aber in meinem Kopf waren all‘ diese Dinge bereits durch einen viel erfahreneren, und vor allem approbierten Kollegen erfolgt – und ich sah keine Notwendigkeit darin, die Anamnese oder körperliche Untersuchung zu wiederholen. Ich, kleine Studentin! Vielleicht spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass ich noch eine ganze Liste anderer Aufgaben vor meinem geistigen Auge sah, dass ich mich nach ein paar warmen Worten umdrehte und das Zimmer verließ. Mir war nicht klar, dass dies mein letztes Gespräch mit Frau L. sein würde.

Ein paar Stunden später im Dienst erfuhr ich, dass bei Frau L. eine notfallmäßige Röntgenaufnahme ihres Abdomens durchgeführt wurde – nachdem sie sich wegen anhaltender Schmerzen unter Novalminsulfon-Gabe, und erstmals wegen Stuhlverhalt und Miserere beim Personal gemeldet hatte. Es wurde deutlich freie abdominelle Luft zwischen Leber und Thoraxwand nachgewiesen; es folgte eine erneute CT-Aufnahme des Abdomens. Hier wurde ein mechanischer Dünndarmileus mit Perforation diagnostiziert. Vor dem Hintergrund der malignen metastasierten Grunderkrankung wurde in einem ausführlichen Gespräch mit Patientin, Sohn und behandelndem Chirurgen die Entscheidung gegen eine Operation und für ein palliatives Procedere gefällt. Frau L. wurde ein Morphin-Perfusor angeordnet, ihr Versterben war binnen der nächsten Stunden zu erwarten.

Kurz nachdem Frau L. aus der Radiologie zurück auf Station war, bekam ich den Anruf, dass ich ihr eine neue Venenverweilkanüle legen müsse für den Perfusor, da die alte nicht mehr durchgängig sei. In diesem Augenblick war ich gerade mitten in der Anamneseerhebung eines Patienten in der Notaufnahme – ich versprach der Krankenschwester am Telefon, dass ich auf Station käme, sobald ich damit fertig sei. Bevor ich jedoch gehen konnte, bat mich die Dienstärztin um eine Übergabe jenes Patienten, den ich soeben vorgesichtet hatte – und wollte zunächst diesen Fall weiter mit mir besprechen, die geplante stationäre Aufnahme, welche weitere Diagnostik und Therapie eingeleitet werden sollte usw.

Kurz bevor ich endlich so weit war, um auf Station zu gehen, tippte mir ein anderer Arzt auf die Schulter und bat mich, ihm bei der Lumbalpunktion einer übergewichtigen Frau – der Patientin, die in den kommenden Stunden ebenfalls versterben sollte – zu helfen. Also wartete ich, bis der Arzt seine Materialien zusammengesucht hatte und begleitete ihn dann auf Station. Während ich besagte Patientin mit all meiner Kraft versuchte auf die Seite gedreht festzuhalten, klingelte erneut mein Telefon. Es war wieder die Krankenschwester der anderen Station, die mich fragte, ob ich Frau L.ʼs Venenverweilkanüle vergessen hatte. Die Patientin hätte große Schmerzen und bräuchte ihren Morphinperfusor. Nein, vergessen hatte ich Frau L. natürlich nicht. Ich erklärte ihr, dass ich nach der Anamnese in der Notaufnahme aufgehalten worden war und gerade bei einer Lumbalpunktion helfen musste. Aber ich versprach auch, dass ich bald kommen würde.

Auf dem Weg zur Patientin erhielt ich noch einige weitere Aufgaben telefonisch – und ließ mich auch hier wenigstens zu zwei wörtlich „absolut vordringlichen“ Blutentnahmen hinreißen. Alles andere, dachte ich mir, sollte warten bis nach der Anlage der peripheren Verweilkanüle.

Ich kam also etwa eine Stunde nach dem ersten Anruf, nach Rückkehr der Patientin aus der Radiologie auf Station an, bereitete mein Tablett zur Anlage der Verweilkanüle vor, holte mir einen Vorwurf bei den Schwestern ab, wieso es so lange gedauert habe, und betrat etwas betreten das Patientenzimmer. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange es gedauert hat, bis ich die Situation erfasst hatte. Es können nur Sekunden gewesen sein: Frau L.ʼs Sohn, den ich am Mittag zuletzt gesehen hatte, saß neben dem Patientenbett und hielt die Hand seiner Mutter, seine Frau stand im Badezimmer und wischte sich vorm Spiegel die Tränen aus den Augen. Ich stellte mein Tablett auf dem Tisch ab und trat schweigend ans Bett. Ich blickte auf Frau L., stellte fehlende Atmung und Puls fest. Ich schloss ihre Lider. Dann sah ich zu Herrn B. – mehr als ein „Es tut mir leid“ brachte ich nicht heraus. Herr B.ʼs Frau trat ins Zimmer, sie schilderte mir, welche Schmerzen ihre Schwiegermutter in den letzten Augenblicken ihres Lebens ertragen musste. Ich hörte mir alles schweigend an. Dann sagte ich, dass es gut gewesen sei, dass Frau L. im Augenblick ihres Todes nicht allein gewesen war, dass sie dies sicherlich zu schätzen wusste – und wieder, dass es mir leidtäte, nicht früher da gewesen zu sein. Dass ich aufgehalten wurde. Herr und Frau B. machten mir keinen Vorwurf, sie bedankten sich ganz und gar bei mir für mein Mitgefühl und meine Mühe. Ich spürte den Schmerz im Raum und konnte die Schuldgefühle, die mich in diesem Moment bissen, kaum ertragen. Ich entschuldigte mich und verließ das Zimmer, um die Pflegekräfte im Stützpunkt über Frau L.’s. Versterben zu informieren. Die Schwester, die mich angerufen hatte, meinte, dass sie kurz vor mir noch im Zimmer gewesen sei, da habe Frau L. noch gelebt. Vielleicht starb sie genau in dem Moment, in dem ich die Türklinke herunterdrückte. So oder so war ich zu spät. Und der Blick meiner Kollegin bestärkte mein Schuldgefühl.

Sie informierte den diensthabenden Assistenzarzt, der auch nur wenige Minuten später auf Station erschien, da er wohl gerade „keine andere Aufgabe zu erledigen“ hatte. Auf dem Flur begegnete er den Angehörigen, die gerade das Zimmer verlassen hatten. Er breitete die Arme aus und sagte bedauernd „Tja, tut mir leid, das ging jetzt schneller als gedacht…“ Die Schwiegertochter der Verstorbenen blieb abrupt stehen. Alle Milde, mit der sie mich zuvor noch angesehen hatte, war aus ihrem Gesicht gewichen und plötzlich schrie sie den Arzt an. Dass ihre Schwiegermutter schon seit dem Vortag starke Schmerzen gehabt habe und man sie die ganze Zeit schon nicht ausreichend analgetisch versorgt hatte, und nicht erst in den letzten Stunden. Dass man früher eine Bildgebung hätte machen müssen, um den Ileus zu sehen. Dass die Ärzte sich nicht genug um ihre Schwiegermutter gekümmert hätten. Dass sie allein gelassen wurde in ihrem Isolationszimmer. Der Dienstarzt blieb nur einen kurzen Augenblick verdutzt – dann schwang seine Stimmung sofort um. Er wurde zornig und fragte laut, wer die Dame vor ihm überhaupt sei, er kenne sie ja gar nicht und überhaupt sei er nur der Dienstarzt und habe die ursprüngliche Versorgung der Patientin nicht zu verantworten gehabt. Ich stand betreten neben ihm und schwieg während sich die Angehörigen und der Arzt ein lautstarkes Wortgefecht auf dem Flur lieferten. Bevor Herr und Frau B. wutschnaubend die Station verließen, drehte sich Frau B. noch einmal zu mir um, sah mich wieder milde an, legte ihre Hand auf meine Schulter und sagte: „Sie habe ich nicht gemeint. Sie trifft keine Schuld. Sie und auch die Schwestern waren allesamt sehr freundlich und mitfühlend zu uns.“ Mit diesen Worten ging sie und mich überkamen noch größere Schuldgefühle. Hatte Sie damit nicht völlig Unrecht? Traf mich nicht sehr wohl eine gigantische Schuld? Ich war es doch gewesen, die mit der Anlage der Venenverweilkanüle beauftragt worden war. Ich war es doch, auf die Frau L. unter Schmerzen gewartet hatte. Ich war es doch, die erst noch diese und jene Aufgabe erledigte, bevor sie endlich auf Station kam. Zu spät.

Der Dienstarzt neben mir brodelte innerlich, ich spürte seinen Zorn. Dann sah er mich an, seufzte und fragte, ob ich schon einmal eine Leichenschau durchgeführt hatte. Das Procedere war mir bekannt, ich hatte auch bereits diese Tätigkeit mehrfach unter Anleitung durchgeführt. Diesmal war die Situation jedoch merkwürdig unangenehm für mich, vielleicht, weil ich noch immer innerlich aufgewühlt war, vielleicht, weil der Dienstarzt während der Leichenschau irgendwie gehetzt und geschäftig wirkte, obwohl er – wie er sagte – gerade eh nichts anderes zu tun hatte. Nach unserem letzten Dienst an Frau L. gingen wir zurück in die Notaufnahme. Ich berichtete dort den anderen Dienstärzten von meiner Verspätung und auch davon, wie schuldig ich mich deshalb fühlte. So richtig hingehört hatte in diesem Augenblick wohl keiner. Ein halbherziges „Ja, sowas ist immer blöd, aber dafür kannst du ja nix…“ murmelte eine Ärztin. Dann ging der Dienst weiter, so als sei nichts gewesen. So, wie es immer ist, egal, welche Tragödie man erlebt.

Die letzten zwei Stunden des Dienstes zogen sich für mich hin wie Kaugummi. Und als ich schließlich die knapp 25 km im Auto nach Hause fuhr, übermannten mich meine Tränen. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich all den körperlichen Schmerz von Frau L. und all den seelischen Schmerz ihrer Angehörigen in ihrem Patientenzimmer aufgesogen wie ein Schwamm. Es zerriss mich förmlich zu wissen, dass ein Mensch unter Qualen sterben musste – meinetwegen. Ihr Tod selbst war nicht das, was mich belastete – ihr Tod war allein schon aufgrund der malignen Grunderkrankung nicht aufzuhalten gewesen und ganz sicher hatte ich daran wirklich keine Schuld. Aber die Art ihres Sterbens, die schrieb ich mir an diesem Abend auf meine Kappe. Und ich musste an eine Vorlesung in der Universität denken, in der unser Dozent die Stunde mit den Worten begann: „Jeder Arzt hat seinen persönlichen Friedhof“. Ich fragte mich, ob Frau L. von nun an – auch wenn ich nicht ihr eigentliches Versterben verschuldet hatte – wohl auf diesem, meinem, persönlichen Friedhof im Geiste ruhen würde.

Ich hatte mich an diesem Abend bei meinen Eltern angekündigt, also versuchte ich mich auf den letzten Kilometern der Autofahrt zu beruhigen, setzte ein gequältes Lächeln auf und betrat mein Elternhaus. Meine Mutter, die schon immer ein Gespür dafür hatte, wenn ich versuchte, Kummer zu verbergen, sah mich an und fragte direkt, was los sei. Ich konnte es ihr nicht erzählen. Aber als hätten ihm die Ohren geklingelt, rief in diesem Augenblick mein älterer Bruder, der selbst auch Arzt in derselben Klinik ist, bei meiner Mutter auf dem Handy an. Sie wechselten ein paar Worte und dann sagte sie zu ihm, dass sie das Gefühl habe, ich müsste mal mit einem anderen Mediziner sprechen und reichte ihn an mich weiter. In diesem Augenblick überkamen mich erneut die Tränen und ich schilderte ihm das Erlebte. Er hörte sich alles an. Er verstand mein Gefühl. Dann beruhigte er mich und sprach mich – so empfand ich es zumindest in diesem Augenblick – von meiner Schuld frei. Er gab zu bedenken, dass primär auch eine subkutane Gabe des Morphins hätte erfolgen können, solange kein Zugang etabliert war. Er ging auf meine fachlichen Fragen zum Morphin-Perfusor ein. Und auf meinen Einwand, dass ich es versäumt hatte, Frau L. am Mittag nochmals zu untersuchen, dass ich den Ileus vielleicht früher hätte erkennen können, ermahnte er mich, meine Rolle als Studentin nicht zu vergessen. Dass es niemand erwarten dürfe und würde, dass ich einen Patienten, der bereits ärztlich untersucht worden war und sich mir Status idem präsentierte, nochmals untersuchte. Aber er lobte, dass ich die Situation für mich und vor mir selbst reflektierte und dass ich versuchte, daraus zu lernen und besser zu werden. Er sprach sein Bedauern aus, dass dies in unserem Klinikalltag viel zu selten geschehe. Und dann sprach er mir menschlich Mut zu. Dass es in Ordnung sei, wenn man mit den Patienten und ihren Angehörigen mit-fühlte, aber dass man mit ihnen nicht mit-leiden dürfe. Das Gespräch half mir sehr, weil ich das Gefühl hatte, dass mir endlich jemand richtig zugehört hatte.



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Article published online:
09 April 2025

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