Open Access
CC BY-NC-ND 4.0 · Geburtshilfe Frauenheilkd
DOI: 10.1055/a-2505-1944
GebFra Science
Statement

Kernaussagen des Arbeitskreises Jodmangel e. V. (AKJ): mütterliche Hypothyroxinämie infolge von Jodmangel und endokrinen Disruptoren als Risiko für die kindliche neurokognitive Entwicklung

Article in several languages: English | deutsch
1   Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Arbeitskreises Jodmangel e.V. (AKJ), Frankfurt/Main, Germany
2   ehemals Abteilung Lebensmittelsicherheit, Bundesinstitut für Risikobewertung, Berlin, Germany
,
Klaus-Peter Liesenkötter
1   Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Arbeitskreises Jodmangel e.V. (AKJ), Frankfurt/Main, Germany
3   Endokrinologikum Berlin, Zentrum für Hormon- und Stoffwechselerkrankungen, Berlin, Germany
,
Klaus Doubek
1   Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Arbeitskreises Jodmangel e.V. (AKJ), Frankfurt/Main, Germany
4   Berufsverband der Frauenärzte München, München, Germany
,
Henry Völzke
1   Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Arbeitskreises Jodmangel e.V. (AKJ), Frankfurt/Main, Germany
5   Institut für Gemeinschaftsmedizin, SHIP/Klinisch-Epidemiologische Forschung, Universitätsmedizin Greifswald, Greifswald, Germany (Ringgold ID: RIN60634)
,
Roland Gaertner
1   Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Arbeitskreises Jodmangel e.V. (AKJ), Frankfurt/Main, Germany
6   Medizinische Klinik IV der Universität München, München, Germany
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Jodmangel und dadurch bedingte Hypothyroxinämie bei der Mutter sowie die Auswirkungen sogenannter endokriner Disruptoren können einzeln, aber auch zusammen die embryonale und fetale Gehirnentwicklung negativ beeinflussen.

Dies ist das Ergebnis einer aktuellen Übersichtsarbeit der Autoren, in der insgesamt 279 Publikationen der vergangenen 30 Jahre zu den Auswirkungen eines leichten bis moderaten Jodmangels, verminderter mütterlicher Thyroxinwerte und dem Einfluss endokriner Disruptoren auf die kindliche Gehirnentwicklung während der Schwangerschaft untersucht und kritisch diskutiert wurden.

Eine ausreichende Jodversorgung für alle Frauen im gebärfähigen Alter ist wichtig, um negative psychische und soziale Folgen für ihre Kinder zu verhindern. Eine zusätzliche Bedrohung für das Schilddrüsenhormonsystem ist die allgegenwärtige Exposition gegenüber endokrinen Disruptoren, welche die Auswirkungen von Jodmangel bei schwangeren Frauen auf die neurokognitive Entwicklung ihrer Nachkommen verstärken könnten. Die Sicherstellung einer ausreichenden Jodzufuhr ist daher nicht nur für eine gesunde fetale und neonatale Entwicklung im Allgemeinen von entscheidender Bedeutung, sondern könnte auch die möglichen Auswirkungen endokriner Disruptoren abschwächen oder verhindern.

Infolge des derzeitigen defizitären Jodstatus von Frauen im gebärfähigen Alter sowie auch von Kindern und Jugendlichen in Deutschland und den meisten europäischen Ländern sind dringend Maßnahmen zur Verbesserung der Jodversorgung der Bevölkerung erforderlich.

Deshalb sollte nach Auffassung des AKJ insbesondere junge Frauen im gebärfähigen Alter empfohlen werden, Jodpräparate schon mindestens 3 Monate vor der Konzeption und während der Schwangerschaft kontinuierlich zu sich zu nehmen. Darüber hinaus sollten dringend detaillierte Strategien zur Erkennung und Reduzierung der Exposition gegenüber endokrinen Disruptoren gemäß dem Vorsorgeprinzip entwickelt werden.


Einleitung

Schilddrüsenhormone sind besonders wichtig für die embryonale/fetale und frühe postnatale neurokognitive Entwicklung. Abhängig von der Schwere, Dauer und dem Zeitpunkt des Jodmangels in bestimmten Lebensstadien können Jodmangelerkrankungen mit körperlichen, neurologischen und geistigen Defiziten beim Menschen einhergehen. Ein schwerer Jodmangel während der Schwangerschaft kann zu einer Reihe negativer Auswirkungen auf die Gesundheit von Mutter und Kind führen, darunter Kropf, Hypothyreose, Totgeburten, erhöhte Neugeborenensterblichkeit, neurologische Schäden und geistige Beeinträchtigung [1] [2].

Darüber hinaus nimmt die weltweite Exposition gegenüber endokrin wirksamen Chemikalien (EDCs) zu [3] [4] [5]. Diese endokrinen Disruptoren sind Substanzen, die entweder natürlich vorkommen oder künstlich hergestellt werden und in die Umwelt freigesetzt werden. Ein Großteil der EDCs greifen speziell in den Schilddrüsenstoffwechsel ein und werden deshalb als Thyroid Disrupting Chemicals (TDC) bezeichnet [6] [7] [8]. Auch die Plazenta ist aufgrund ihrer Fülle an Hormonrezeptoren besonders empfindlich gegenüber EDCs [9]. Die Exposition gegenüber diesen Chemikalien bei unzureichender Jodversorgung könnte zusätzlich schädlich für die Entwicklung, das Wachstum, die Differenzierung und die Stoffwechselprozesse des embryonalen/fetalen und neonatalen Gehirns sein [6] [7] [8] [10] [11] [12] [13] [14] [15] [16] [17] [18] [19] [20] [21] [22].

Sowohl Jodmangel als auch die Exposition gegenüber TDCs wirken sich negativ auf die allgemeine Gesundheit und das sozioökonomische System aus. Die jährlichen Kosten für 7 EDC-Kategorien mit der höchsten Kausalität werden in Europa auf mindestens 33,1 Milliarden Euro geschätzt. Der größte Teil der Kosten steht im Zusammenhang mit dem Verlust von IQ-Punkten und neurokognitiven Erkrankungen [23] [24] [25] [26] [27]. Darüber hinaus gibt es immer mehr Hinweise darauf, dass die Exposition gegenüber TDCs, einschließlich Luftverschmutzung, nicht nur die Entwicklung der Gehirnfunktion beeinflusst [13] [28] [29] [30] [31], sondern auch die Ergebnisse von Schwangerschaft und Geburt [32] [33] [34] [35] [36].

Der „endemische Kropf“ ist seit Langem ein Synonym für Jodmangel und das Ziel besteht seit jeher darin, einer Schilddrüsenvergrößerung und einer manifesten Schilddrüsenfunktionsstörung vorzubeugen. In den letzten Jahrzehnten hat jedoch ein Paradigmenwechsel stattgefunden [37], nachdem nun auch die Folgen eines leichten bis mittelschweren Jodmangels auf die kognitive Entwicklung des Embryos in den Fokus gerückt sind ([Abb. 1]).

Zoom
Abb. 1 Paradigmenwechsel des Jodmangels (Abb. basiert auf Daten aus [24]).

Epidemiologische und experimentelle Studien zu leichtem bis mittelschwerem Jodmangel in den letzten 2 Jahrzehnten haben gezeigt, dass die embryonale/fetale Gehirnentwicklung nicht nur bei Müttern mit manifester Hypothyreose, sondern auch bei Müttern mit Hypothyroxinämie in den frühen Stadien der Schwangerschaft beeinträchtigt sein kann [38] [39] [40] [41] [42]. Ein niedriges FT4, auch als Hypothyroxinämie bezeichnet, ist Ausdruck des individuellen Jodmangels. Da in den ersten 3 Monaten der Schwangerschaft fast ausschließlich das FT4, aber nicht das FT3 über die Plazenta transportiert wird, werden selbst bei mütterlichen Schilddrüsenhormonspiegeln im unteren Referenzbereich geringfügige Veränderungen in der Gehirnentwicklung des Fetus beobachtet. Ab der 12.–14. Schwangerschaftswoche kann der Fetus selbst Schilddrüsenhormone bilden, und ist dann abhängig vom Jodid, das über die Plazenta transportiert wird, und nicht mehr vom maternalen FT4, das ab der 12. Woche auch geringer transplazentar zum Fetus kommt.

Aufgrund von methodischen Problemen bei der Definition sind die Ergebnisse möglicherweise nicht homogen, außerdem wurde die isolierte mütterliche Hypothyroxinämie (IMH) auch wegen der Unsicherheiten bei der Behandlung wenig beachtet. Aber IMH ist sicher ein Hinweis auf einen mütterlichen Jodmangel, der aber nicht durch ein erhöhtes TSH widergespiegelt wird, da die jodarme Schilddrüse empfindlicher auf TSH reagiert [43] [44] [45].

Die Kontamination unserer Umwelt mit EDCs in Luft, Wasser, Lebensmitteln und Hygieneartikeln nimmt weltweit in potenziell gesundheitsschädigendem Ausmaß zu. Allgemein können sie die normale Funktion des endokrinen Systems von Menschen und Tier verändern, im Besonderen aber auch das Hormonsystem der Schilddrüse mit negativen Auswirkungen auf die Entwicklung des fetalen und neonatalen Gehirns, Wachstum, Differenzierung und Stoffwechselprozesse [6] [7].

Ziel der kürzlich publizierten Übersichtsarbeit war es, die Bedeutung der IMH infolge von leichtem Jodmangel und zusätzlichen Umwelteinflüssen wie EDCs und Luftverschmutzung auf die kognitive und psychosoziale Entwicklung des Kindes sowie Maßnahmen zur Prävention und Behandlung von IMH aufzuzeigen.


Methodik

Grundlage für die Erarbeitung der vorliegenden Stellungnahme war die 2023 veröffentlichte gemeinsame Übersichtsarbeit in dem Fachjournal Nutrients [2]. Darüber hinaus führten wir eine aktuelle Literatursuche durch von relevanten Veröffentlichungen zwischen 2022 und September 2024 in PubMed, Medline, Cochrane, Web of Science und Google Scholar unter Verwendung der Suchbegriffe Jod, Schwangerschaft, Schilddrüsenhormon, Schilddrüsenerkrankungen, endokrine Disruptoren, Hypothyroxinämie und subklinische Hypothyreose, die in Kombination mit den Operatoren UND und ODER gesucht wurden. Die formulierten Kernaussagen wurden im Wissenschaftlichen Beirat des Arbeitskreises Jodmangel e. V. (AKJ) abgestimmt.


Schilddrüsenfunktion in der Schwangerschaft

In der Schwangerschaft wird die Schilddrüsenfunktion dynamisch dem Bedarf an Schilddrüsenhormonen für Mutter und Embryo/Fetus anpasst ([Abb. 2] a). Schwangere Frauen haben einen etwa 50% höheren Jodbedarf aufgrund einer erhöhten Produktion von Schilddrüsenhormonen, einer erhöhten renalen Iodid-Clearance und einer transplazentaren Übertragung von Jod auf den Fetus [46] [47]. Dementsprechend liegen die Empfehlungen für die mittlere Jodzufuhr während der Schwangerschaft bei 250 µg/Tag [48].

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Abb. 2 Veränderungen in der Schilddrüsenphysiologie während der Schwangerschaft (a) und die Beziehung zwischen Schilddrüsenhormonaktivität und Gehirnentwicklung (b) (Abb. basiert auf Daten aus [49] [50]). Weitere Erläuterungen siehe Text (nach Daten aus [2]).

Die mediane Jodkonzentration im Urin (UIC) dient zur Beurteilung der Jodversorgung der Bevölkerung im Rahmen epidemiologischer Studien. Nach den WHO-Kriterien sollte diese über 100 µg/l liegen, in der Schwangerschaft und Stillzeit sogar über 150 µg/l [51].

Aus aktuellen epidemiologischen Studien wissen wir, dass etwa 30% der Erwachsenen, 48% der Frauen im gebärfähigen Alter und 44% der Kinder und Jugendlichen in Deutschland eine Jodzufuhr unterhalb des mittleren Bedarfs aufweisen [52] [53] [54]. Dies gilt auch für mehr als 70% (n = 21) der 29 europäischen Länder ([Tab. 1]) [52] [55] [56] [57] [58] [59] [60] [61] [62] [63] [64] [65] [66] [67] [68]. Ein mittlerer UIC-Wert > 150 μg/l wurde nur in wenigen EU-Staaten mit obligatorischen universellen Salzjodierungsprogrammen wie Bulgarien oder Rumänien berichtet (siehe [Tab. 1]). Studien in anderen Ländern zeigen, dass nur eine obligatorische universelle Salzjodierung von 25 mg/kg eine ausreichende Jodaufnahme über die Nahrung in allen Bevölkerungsgruppen sicherstellt, einschließlich schwangerer Frauen mit erhöhtem Bedarf [51] [69]. Am gefährdetsten sind junge Frauen, die sich vegan und vegetarisch ernähren und ohne Jodergänzung ein erhöhtes Risiko für einen niedrigen Jodstatus, Jodmangel und eine unzureichende Jodaufnahme haben.

Tab. 1 Jodaufnahme in der Allgemeinbevölkerung und bei schwangeren Frauen in Europa (Daten aus [2]).

Land

allgemeine Bevölkerunga

schwangere Frauenb

Median (UIC)

(μg/l)

Datum der Umfrage

(N, S)

Bevölkerung

Jodaufnahme der Bevölkerung

Median (UIC)

(μg/l)

Datum der Umfrage

(N, S)

Jodaufnahme

Gesetzesstand

(Jahr)e

Abkürzungen: SAC = schulpflichtige Kinder (normalerweise 6–12 Jahre alt); UIC = Jodkonzentration im Urin; USI = universelle Salzjodierung; N – National repräsentative Daten; S – nur subnationale Daten; Datierungen nach a [68], b [55], c [70], d [56], e [62], f [63] [64]

Österreich

111

2012

(N)

SAC

(7–14)

angemessen

87

2009–2011

(S)

unzureichend

obligatorisch

(1999)

Belgien

113

2010/2011

(N)

SAC

(6–12)

angemessen

124

2010

(N)

unzureichend

freiwillig

(2009)

Bulgarien

182

2008

(N)

SAC

(7–11)

angemessen

165

2003

(N)

angemessen

obligatorisch

(2001)

Kroatien

248

2009

(N)

SAC

(7–11)

angemessen

140

2009, 2015 (S)

unzureichend

obligatorisch

(1996)

Dänemark

145

2015

(S)

SAC

angemessen

101

2012

(S)

unzureichend

obligatorisch

(2000)f

Finnland

96

2017

(N)

Erwachsene

(25–74)

unzureichend

115

2013–2017

(S)f

unzureichend

freiwilligf

Frankreich

136

2006–2007

(N)

Erwachsene

(18–74)

angemessen

65

2006–2009

(S)

unzureichend

freiwillig

Deutschland

89

2014–2017

(N)

SAC, Jugendliche (6–12)

unzureichend

54

2008–2011

(N)c

unzureichend

freiwillig

Griechenland

132

2018

(N)

Erwachsene

angemessen

127

2008–2015

(S)

unzureichend

freiwillig

Ungarn

228

2005

(S)

SAC

(10–14)

angemessen

128

2018

(S)d

unzureichend

obligatorisch

(2013)

Irland

111

2014–2015

(N)

heranwachsende Mädchen (14–15)

angemessen

107

2008–2010

(S)

unzureichend

freiwillig

Italien

118

2015–2019

(S)

SAC

angemessen

72

2002–2013

(S)

unzureichend

obligatorisch

(2005)

Niederlande

130

2006

(S)

Erwachsene

(50–72)

angemessen

223

2002–2006

(S)

angemessen

freiwillig

Polen

112

2009–2011

(S)

SAC

(6–12)

angemessen

113

2007–2008

(S)

unzureichend

obligatorisch

(2010)

Portugal

106

2010

(N)

SAC

angemessen

85

2005–2007

(N)

unzureichend

freiwillig

Rumänien

255

2015–16

(N)

SAC

(6–11)

angemessen

206

2016

(S)

angemessen

obligatorisch

(2009)

Spanien

173

2011–12

(N)

SAC

angemessen

120

2002–2011

(S)

unzureichend

freiwillig

Schweden

125

2006–07

(N)

SAC

(6–12)

angemessen

98

2006–2007; 2010–2012

(S)

unzureichend

freiwillig

(1936)f

Schweiz

137

2015

(N)

SAC

(6–12)

angemessen

136

2015

(N)

unzureichend

freiwillig

Großbritannien

166

2015–2016

(N)

SAC, Jugendliche (4–18)

angemessen

99

2002–2011

(S)

unzureichend

kein USI-Programm

Da in der Schwangerschaft das TBG ansteigt, ist die Bestimmung des FT4 ungenau, da die routinemäßig bestimmten FT4-Werte durch sehr hohe TBG-Werte methodenabhängig falsch niedrig oder falsch hoch gemessen werden.

Für die Praxis bedeutet das, man muss, um sicherzugehen, den mittleren Normalbereich für FT4 als sicher für eine ausreichende Jodversorgung einer Schwangeren annehmen. Daher ist eine zusätzliche Versorgung aller Frauen mit Kinderwunsch mit Jodid-Tabletten notwendig und eine sinnvolle Prävention [71] [72] [73].


Auswirkungen von mildem Jodmangel und mütterlicher Hypothyroxinämie auf die pränatale Gehirnentwicklung

Es wurde ein Zeitfenster (s. [Abb. 2] b, zwischen den beiden roten gepunkteten Linien) identifiziert, in dem ein Abfall des mütterlichen Schilddrüsenhormons (FT4) einen besonderen Einfluss auf die neuronale Proliferation sowie die Migration und Entwicklung des Innenohrs hat. Das Erkennen dieser frühen kritischen Phase kann direkte klinische Auswirkungen auf die Risikobewertung und das Zeitfenster für Behandlungsmöglichkeiten haben [74] [75]. Während dieser kritischen Entwicklungsphase hat ein verringerter FT4-Transfer in die Plazenta der Mutter höchstwahrscheinlich den größten Einfluss auf die neurologische Entwicklung eines Kindes [76] [77] [78] [79] [80] [81], was sich auch in dauerhaften strukturellen und funktionellen Anomalien manifestiert [38] [82] [83] [84] [85] [86].

Eine IMH ([Tab. 2]) kommt wahrscheinlich weitaus häufiger vor als eine subklinische Hypothyreose, [40] [42] [44] [87] [88] [89] [90]. In Ländern mit Jodmangel ist mit einer höheren IMH-Häufigkeit zu rechnen [43] [91]. Für die Diagnose müssten trimenonspezifische Referenzbereiche für Serum-TSH- und FT4-Spiegel in einer euthyreoten, schwangeren Bevölkerung als Goldstandard erarbeitet werden [92] [93]. Bisher gibt es solche Referenzbereiche leider nur für die TSH-Spiegel.

Tab. 2 Definition und Prävalenz von mütterlichen Schilddrüsenstörungen (Daten aus [82]).

isolierte maternale Hypothyroxinämie (1,5–25%)

Serum-fT4-Konzentration im unteren 5. oder 10. Perzentil des Referenzbereichs mit normalen TSH-Konzentrationen

manifeste Hypothyreose (0,3–0,5%)

erhöhter Serum-TSH-Spiegel in Verbindung mit einer verminderten fT4-Konzentration

subklinische Hypothyreose (2–2,5%)

erhöhte Serum-TSH-Spiegel bei normalen fT4-Konzentrationen

Schilddrüsenautoimmunität (10–20%)

Vorhandensein von TPO- und/oder TG-Antikörpern im Serum mit oder ohne Änderung der TSH- und fT4-Konzentrationen

In Beobachtungsstudien zur Beeinträchtigung der kognitiven Entwicklung und Verhaltensstörungen im Zusammenhang mit leichtem Jodmangel wurden mütterliche Blutproben in der Regel zwischen der 9. und 13. Schwangerschaftswoche entnommen ([Tab. 3]). Die neurologischen Untersuchungen der Nachkommen erfolgten im Alter zwischen 6 Monaten und 16 Jahren [81]. Insgesamt waren die Studiendesigns sehr unterschiedlich. Die Unterschiede beziehen sich auf die Kriterien für die Auswahl von Mutter-Kind-Paaren, auf die Referenzwerte und -bereiche zur Bestimmung der unterschiedlichen Grade der mütterlichen Hypothyreose bzw. Hypothyroxinämie sowie auf die unterschiedlichen Tests zur neurologischen Entwicklung (s. [Tab. 3]).

Tab. 3 Beobachtungsstudien zu nachteiligen Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung und Verhaltensstörungen im Zusammenhang mit leichtem Jodmangel – Merkmale aller in die systematische Überprüfung einbezogenen Studien (Daten aus [94]) (Geschwisterpapiere zusammengeführt).

Autor, Jahr [Referenz]

Gesamtzahl der auf Ergebnisse getesteten Teilnehmer

Land

Funktionsstörung der Schilddrüse der Mutter

Schwangerschaft bei TFT

Kriterien für eine Schilddrüsenfunktionsstörung

Alter des Kindes bei der Beurteilung

Ergebnismessungen der neurologischen Entwicklung

Abkürzungen: Co = kontinuierlich; HR = Hypothyroxinämie; OH = manifeste Hypothyreose; SH = subklinische Hypothyreose; TFT = Schilddrüsenfunktionstests; TSH = schilddrüsenstimulierendes Hormon

Pop et al. 1999 [95]

220

Niederlande

HR

12 und 32 Wochen

10. Perzentil fT4 (< 10,4 pmol/l) und 5. Perzentil fT4 (< 9,8 pmol/l)

10 Monate

Bayley-Skalen der Säuglingsentwicklung

Pop et al. 2003 [96]

125

Niederlande

HR

12, 24 und 32 Wochen

fT4 < 10. Perzentil (12,10 pmol/l)

1–2 Jahre

Bayley-Skalen der Säuglingsentwicklung

Kasatkina et al. 2006 [81]

35

Russland

HR

1. und 3. Trimenon

fT4 < 12,0 pmol/l

6,9 und 12 Monate

Gnome-Methode, insbesondere der Koeffizient der geistigen Entwicklung

Li et al. 2010 [97]

213

China

SH und HR

16 bis 20 Wochen

SH = TSH > 97,50. Perzentil (4,21 mU/l), HR = tT4< 2,50. Perzentil (101,79 nmol/l)

25–30 Monate

Bayley-Skalen der Säuglingsentwicklung

Henrichs et al. 2010 [98]

3659

Niederlande

HR und Co TSH

13,3 Wochen

HR = fT4 10. Perzentil (< 11,76 pmol/l) und 5. Perzentil (< 10,96 pmol/l), Co TSH = TSH-Referenzbereich 0,03–2,50 mU/l

18 und 30 Monate

MacArthur-Inventar zur kommunikativen Entwicklung nach 18 Monaten, Umfrage zur Sprachentwicklung nach 30 Monaten

Suárez-Rodríguez et al. 2012 [80]

70

Spanien

HR

37 Wochen

fT4 < 10. Perzentil (9,5 pmol/l)

38 Monate und 5 Jahre

McCarthy-Skalen der kindlichen Fähigkeiten

Williams et al. 2012 [99]

166

Vereinigtes Königreich

SH und HR

+ 1 Stunde nach der Geburt

SH = TSH > 3,0 mU/l,

HR = fT4 ≤ 10. Perzentil (11,6 pmol/l) oder tT4 ≤ 10. Perzentil (108,4 nmol/l)

5,5 Jahre

McCarthy-Skalen der kindlichen Fähigkeiten

Craig et al. 2012 [100]

196

USA

HR

2. Trimenon

fT4 < 3. Perzentil (11,84 pmol/l)

2 Jahre

Bayley-Skala der Säuglingsentwicklung III

Ghassabian et al. 2014 [79]/Korevaar et al. 2016 [83]

3737/5647

Niederlande

HR und SH

13,5/13,2 Wochen

HR = fT4< 5. Perzentil (10,99 pmol/l),

SH = TSH > 2,50 mU/l

6 Jahre

Snijders-Oomen nonverbaler Intelligenztest, Revision (Mosaiken und Kategorien)

Päkkilä et al. 2015 [101]

5295

Finnland

HR, SH und OH

durchschnittlich 10,7 Wochen

HR = fT4< 11,4–11,09 pmol/l je nach Trimenon,

SH = TSH > 3,10–3,50 mU/l, abhängig vom Trimenon

8 und 16 Jahre

Stärken und Schwächen der ADHS-Symptome und des normalen Verhaltens, Lehrer berichtete über die schulischen Leistungen des Kindes, Jugend-Selbstbericht und WISC-überarbeitet

Grau et al. 2015 [102]

455

Spanien

HR

1. und 2. Trimenon

< 10. Perzentil (13,7–11,5 pmol/l je nach Trimenon)

1 und 6–8 Jahre

Brunet-Lezine-Skala und WISC-IV

Alle Studien, bis auf eine von Grau et al. [102], der die Auswirkungen niedriger mütterlicher fT4-Spiegel gegen Ende des 1. Trimenons untersuchte, berichteten über eine Beeinträchtigung der kognitiven und motorischen Entwicklung bei exponierten Kindern [40] [44] [77] [79] [92] [96] [97] [98] [103] [104]. Mit fortschreitender Schwangerschaft schwächte sich die Korrelation allmählich ab und verschwand bis in die Spätschwangerschaft [42] [101] [105].

Insgesamt zeigte keine der systematischen Übersichten und Metaanalysen eindeutige Grenzwerte für hohe TSH- und/oder niedrige fT4-Werte im Serum schwangerer Mütter, die auf ein erhöhtes Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen bei Kindern hinweisen. Solche Grenzwerte konnten nicht ermittelt werden, weil die epidemiologischen Studien nicht darauf ausgelegt waren, quantitative Grenzen aufzuzeigen (s. [Tab. 3]).


Einfluss endokriner Disruptoren (TDCs) auf das Schilddrüsenhormonsystem und die Rolle einer ausreichenden Jodversorgung

TDCs wirken sich nicht nur auf die Schwangerschaft aus, indem sie als hormonelle Agonisten oder auch Antagonisten wirken, sondern auch indirekt, indem sie die mütterliche, plazentare und fetale Homöostase stören. Man geht davon aus, dass die durch TDCs, einschließlich der Luftverschmutzung, verursachten gesundheitsschädlichen Auswirkungen auf die Nachkommen durch 2 Mechanismen verursacht werden können: erstens direkt durch die Plazenta und damit in den fetalen Kreislauf und/oder zweitens indirekt durch einen oxidativen Stress der Plazenta, der Entzündungen und epigenetische Veränderungen in der Plazenta sowie bei den Nachkommen induziert [13] [106] [107] [108] [109] [110] [111].

Aufgrund der vielfältigen Wirkungen von allen EDCs wie niedrige Dosiseffekte, mögliche nichtlineare Dosisreaktionen, kumulative Effekte, die häufig bei kombinierter Exposition zu erwarten sind, und generationsübergreifende Effekte mit unterschiedlichen Auswirkungen während gefährdeter Expositionsfenster ist es derzeit unwahrscheinlich, dass sichere Niveaus der EDC-Kontamination definiert werden können [26] [84] [112] [113] [114] [115].

Offensichtlich könnte Jodmangel diese schädlichen Wirkungen begünstigen [116]. Die Dringlichkeit dieses Problems ergibt sich aus dem Zusammentreffen der immer noch vorherrschenden unzureichenden Jodversorgung und der kontinuierlich steigenden Exposition des Menschen gegenüber TDCs [6] [32] [117] [118] [119]. Bisher wurde in Studien zur mütterlichen Hypothyroxinämie aufgrund eines leichten bis mittelschweren Jodmangels eine zusätzliche pränatale Exposition gegenüber TDCs nicht berücksichtigt (s. [Tab. 4], rechte Spalte).

Tab. 4 Potenzielle schilddrüsenschädigende Chemikalien (TDCs), die auf den Signalweg der Schilddrüse abzielen (Daten aus [2]).

Beispiele für Chemikalien

Ziel der TDC-Aktionen und -Ergebnisse

Veränderungen in der neurologischen Entwicklung

1 OCPs – werden vor allem in der Landwirtschaft zum Schutz von Kulturpflanzen eingesetzt, aber aufgrund ihrer Umweltpersistenz und Neurotoxizität wurde ihr Einsatz in den letzten Jahrzehnten verboten oder stark reduziert.

2 PCBs – verbotene Verbindungen, die zur Herstellung elektrischer Geräte wie Transformatoren sowie in Hydraulikflüssigkeiten, Wärmeübertragungsflüssigkeiten, Schmiermitteln und Weichmachern verwendet werden.

3 Perchlorat, Thiocyanat und Nitrat – Personen sind diesen Schadstoffen durch Nahrung oder andere Quellen ausgesetzt (z. B. Zigarettenrauch für Thiocyanat oder Raketentreibstoff und Düngemittel für Perchlorat und Nitrat).

4 Phthalate – werden verwendet, um Kunststoffe flexibler zu machen. Sie sind auch in einigen Lebensmittelverpackungen, Kosmetika, Kinderspielzeug und medizinischen Geräten enthalten.

5 Genistein – natürlich vorkommende Substanz in Pflanzen mit hormonähnlicher Aktivität, die in Sojaprodukten wie Tofu oder Sojamilch enthalten ist.

6 4NP – wird bei der Herstellung von Antioxidanzien, Schmieröladditiven, Wasch- und Geschirrspülmitteln, Emulgatoren und Lösungsvermittlern verwendet.

7 BP2 – ist beispielsweise in der Europäischen Union nicht mehr als UV-Filter zur Verwendung in Sonnencremes zugelassen. Allerdings ist es immer noch in Kunststoffmaterialien oder vielen Kosmetika enthalten, um deren UV-bedingte Schäden zu verhindern.

8 Amitrol – wird als Herbizid verwendet.

9 PBDEs – werden zur Herstellung von Flammschutzmitteln für Haushaltsprodukte wie Möbelschaum und Teppiche verwendet. Obwohl die meisten PBDEs verboten sind oder schrittweise abgeschafft werden, sind sie immer noch in der Umwelt persistent.

10 Triclosan – kann in einigen antimikrobiellen Produkten und Körperpflegeprodukten wie flüssigen Körperwaschmitteln enthalten sein.

11 Silymarin – Flavonoidmischung, ein gereinigter Extrakt der Mariendistel.

12 Erythrosin, auch bekannt als Rot Nr. 3, ist eine Organojodverbindung. Es handelt sich um einen rosafarbenen Farbstoff, der hauptsächlich zum Färben von Lebensmitteln verwendet wird.

13 Hydroxylierte PBDEs (OH-BDEs) sind abiotische und biotische Transformationsprodukte von PBDEs9 und sie sind auch natürliche Produkte in marinen Systemen.

14 Bisphenole, insbesondere Bisphenol A (BPA) – werden zur Herstellung von Polycarbonat-Kunststoffen und Epoxidharzen verwendet, die in vielen Kunststoffprodukten wie Wasserflaschen, Lebensmittelbehältern, CDs, DVDs, Sicherheitsausrüstung, Thermopapier und medizinischen Geräten enthalten sind.

Organochlorpestizide (OCPs)1

polychlorierte Biphenylverbindungen (PCB)2

TSH-Rezeptor-Signalisierung und verminderte Stimulation der Thyrozyten [120]

  • beeinträchtigte kognitive, motorische und kommunikative Entwicklung [121] [122] [123] [124] [125]

  • beeinträchtigte kognitive, motorische Entwicklung und Spielaktivität [126]

  • reduzierter IQ [120]

  • Entwicklung von ADHS-assoziiertem Verhalten [127]

Perchlorat3

Thiocyanat3

Nitrat3

Phthalate4

Na+/I-Symporter (NIS) und Hemmung der TH-Biosynthese

  • beeinträchtigte kognitive Entwicklung [128]

  • prä- und postnatale Tabakexpositionen können die neurokognitive Entwicklung beeinflussen [129]

  • geschlechtsspezifische Auswirkungen auf die kognitive, psychomotorische und Verhaltensentwicklung [116] [130] [131]

  • niedrigere nonverbale und verbale IQ-Werte bei Nachkommen [132] [133]

Propylthiouracil (PTU)

Methimazol (MMI)

Genistein5

4-Nonylphenol (NP)6

Benzophenon 2 (BP2)7

Pestizid (Amitrol)8

Die Hemmung der Schilddrüsenperoxidase (TPO) führt zu einer verringerten TH-Synthese und einer anschließenden Verringerung der zirkulierenden TH-Konzentrationen.

  • erhöhtes Risiko einer periventrikulären Heterotopie [134]

  • TH-Insuffizienz führt zu Fehlbildungen des Gehirns und Lernstörungen [135]

  • verminderte kognitive Funktion [136]

OH-PCBs2

polybromierte Diphenylether (PBDEs)9

Phthalate4

Genistein5

TH-Verteilerproteine: Die Verdrängung von T4 und T3 durch das schilddrüsenserumbindende Protein Transthyretin (TTR) und/oder schilddrüsenbindendes Globulin (TBG) stört die TH-Homöostase und senkt den TH-Plasmaspiegel.

  • beeinträchtigte kognitive, Verhaltens- und motorische Entwicklung [137] [138] [139] [140] [141]

  • verzögerte neurologische Entwicklung [142]

polychlorierte Biphenyle (PCBs, OH-PCBs)2

Triclosan10

Eine Hochregulierung des Schilddrüsenhormonkatabolismus über die Aktivierung hepatischer Kernrezeptoren führt zu einer Verringerung der zirkulierenden TH-Spiegel [111] [143].

  • beeinträchtigte frühe motorische Entwicklung [144]

  • Hörverlust [145]

  • veränderte Schilddrüsenhormonspiegel im Serum [146] [147]

Silymarin11

Störungen der zellulären Transmembrantransporter (MCT8, MCT10 und OATP1C1) hemmen die T3-Aufnahme.

  • unerwünschte Auswirkungen auf die TH-Achse [148]

Erythrosin12

6 Propylthiouracil

PCBs2

Modifikation der Deiodinase-Enzymaktivitäten (DIO2, DIO3) durch kompetitive Hemmung des Enzyms oder durch Interaktion mit seinem Sulfhydryl-Cofaktor.

  • Mit Ausnahme des Farbstoffs FD&C Red No. 3, der bei Ratten Schilddrüsentumoren verursacht, haben bisher keine Studien gezeigt, dass Chemikalien, welche die DIO-Expression und/oder -Aktivität beeinflussen, direkt zu unerwünschten Ergebnissen führen [18].

OH-PCBs2

OH-BDEs13

Bisphenole14

Bindung und Transaktivierung des Schilddrüsenhormonrezeptors (TR) (TRα, TRβ) durch einige Chemikalien, die TRs als Antagonisten binden und/oder die Transkription verändern; Wechselwirkungen mit diesen TRs stören die normale Homöostase der Schilddrüse, was möglicherweise zu Anomalien in der Gehirnentwicklung führt [11] [18] [149] [150].

  • beeinträchtigte geistige und motorische Entwicklung [149]

  • Hörverlust [145]

  • beeinträchtigte Neurogenese und synaptische Plastizität [150]

Bedenken hinsichtlich der öffentlichen Gesundheit bestehen bei schwangeren Frauen mit leichtem Jodmangel, die Perchlorat, Thiocyanat, Nitrat oder anderen umweltbedingten „Thyreostatika“ ausgesetzt sind [5] [8] [12] [26] [143] [151] [152] [153] [154] [155] [156]. In einem Dosis-Wirkungs-Modell zwischen Jodid- und Perchlorat-Exposition in Lebensmitteln wurde z. B. gezeigt, dass eine niedrige Jodidaufnahme von 75 μg/Tag und eine Perchlorat-Tagesdosis von 4,2 μg/kg ausreichen, um eine Hypothyroxinämie auszulösen, während bei einer ausreichenden Jodaufnahme von ca. 250 µg/Tag eine höhere Perchlorat-Tagesdosis von etwa 34 µg/kg erforderlich ist [157]. Jodmangel könnte daher die Auswirkungen der TDC-Exposition verschlechtern, insbesondere während der Schwangerschaft [5] [8] [12] [17] [18] [26].

In der [Tab. 4] sind weitere gut charakterisierte Auswirkungen von TDCs auf den TH-Metabolismus und das kindliche Gehirn zusammengefasst [116] [120] [121] [122] [123] [124] [125] [126] [127] [128] [129] [130] [131] [132] [133] [134] [135] [136] [137] [138] [139] [140] [141] [142] [144] [145] [146] [147] [148] [149] [150] [158]. Luftverschmutzung ist ein Hauptrisikofaktor für die globale Krankheitslast, aber die negativen Auswirkungen der Exposition gegenüber Feinstaub < 2,5 µm (PM2,5) während der Schwangerschaft wurden in der Vergangenheit nicht berücksichtigt [159] [160] [161]. Die verfügbaren Beweise deuten darauf hin, dass die intrauterine PM2,5-Exposition die pränatale Gehirnentwicklung durch oxidativen Stress und systemische Entzündungen verändern und zu chronischer Neuroinflammation, Mikroglia-Aktivierung und neuronaler Miktionsstörung führen kann [28] [162] [163]. Es wurde gezeigt, dass die Feinstaubexposition während des fetalen Lebens mit strukturellen Veränderungen in der Großhirnrinde des Kindes sowie mit einer Beeinträchtigung einer wesentlichen exekutiven Funktion wie der Hemmungskontrolle verbunden war [164] [165] [166] [167].


Prävention und Behandlung von IMH

Da Studien zu den Auswirkungen von IMH auf die kognitive und motorische Entwicklung sowie zum Risiko neuropsychiatrischer Erkrankungen bei Kindern einen klaren Zusammenhang mit der Frühschwangerschaft zeigen, bleibt die zentrale klinische Frage, ob diese Komplikationen frühzeitig durch eine Jodergänzung oder L-Thyroxin-Substitution verhindert werden können [39] [43] [89]. Die Behandlung von IMH oder subklinischer Hypothyreose mit L-Thyroxin während der Frühschwangerschaft ergab keinen Nutzen für die neurologische Entwicklung der Kinder im Alter von 6 und 9 Jahren. Die L-Thyroxin-Supplementierung begann jedoch im Mittel in der 12. Schwangerschaftswoche, also zu spät [168] [169]. Aus diesem Grund empfehlen die ATA-Richtlinien keine L-Thyroxin-Supplementierung [92]. Basierend auf neuen epidemiologischen Daten erwägen die ETA-Richtlinien jedoch die L-Thyroxin-Supplementierung eher im 1. Trimenon als später [93]. Die Ergebnisse einer aktuellen Studie zeigten, dass eine frühe L-Thyroxin-Supplementierung bei Frauen mit TSH-Werten von > 2,5 mU/l und fT4 < 7,5 pg/ml in oder vor der 9. Schwangerschaftswoche sicher ist und den Schwangerschaftsverlauf verbessert. Ob sich jedoch auch die neurologische Entwicklung der betroffenen Nachkommen verbessert, wurde bisher nicht untersucht. Diese Daten stützen die Empfehlung, diese Grenzwerte für die L-Thyroxin-Supplementierung zu übernehmen, mit der so früh wie möglich begonnen werden sollte, idealerweise vor dem Ende des 1. Schwangerschaftstrimenons. Eine TSH-Unterdrückung sollte dabei vermieden werden [170].

Ein positiver Zusammenhang zwischen der Jodversorgung der Mutter schon vor der Empfängnis und der kognitiven Funktion der Nachkommen im Alter von 6–7 Jahren konnte nachgewiesen werden [171], nicht aber, wenn erst ab der Schwangerschaft Jodid substituiert worden war [105] [172] [173] [174] [175] [176]. Zur Untersuchung der neuropsychologischen Entwicklung der Kinder sind derzeit gut konzipierte, randomisierte, kontrollierte Studien in Arbeit, die eine tägliche Supplementierung mit 150–200 µg Jod in der Präkonzeption, Schwangerschaft und Stillzeit untersuchen [177] [178] [179] [180].

Die Krakauer Jod-Deklaration, die vom EUthyroid-Konsortium und anderen Organisationen veröffentlicht wurde, brachte wichtige Punkte dazu auf, wie Jodmangel in Europa effizient beseitigt werden kann. Es wurde gefordert, dass

  1. die universelle Salzjodierung in allen europäischen Ländern harmonisiert werden sollte,

  2. regelmäßige Überwachungs- und Bewertungsstudien erstellt werden müssen, um den Nutzen und potenziellen Schaden von Jodanreicherungsprogrammen kontinuierlich zu messen, und

  3. gesellschaftliches Engagement erforderlich ist, um die Nachhaltigkeit von IDD-Präventionsprogrammen zu gewährleisten [181] [182].


Fazit für die Praxis

  1. Bei Jodmangel wird weniger FT4 gebildet und mehr FT3, dabei sind die TSH-Konzentrationen nicht erhöht, sondern sogar niedriger. Der individuelle Jodmangel kann also am besten durch eine Hypothyroxinämie festgestellt werden.

  2. Für die Praxis im Umgang mit Frauen mit Kinderwunsch, bedeutet das, rechtzeitig, also schon vor der Konzeption, mit der verbesserten Jodversorgung zu beginnen. Ein niedriges FT4 ist dabei eine Argumentationshilfe.

  3. Ein Teil der zahlreichen endokrin wirksamen Chemikalien (EDCs) in der Umwelt sind in der Lage, den Schilddrüsenhormonstoffwechsel negativ zu beeinflussen und damit die Auswirkungen des Jodmangel noch verstärken. Diese werden daher TDC genannt. Da diese TDCs beim Individuum unter der Nachweisgrenze liegen können, dient das FT4 als Marker für eine jedenfalls ausreichende Jodversorgung, insbesondere während der ersten 3 Monate der Schwangerschaft.

  4. Natürlich ist die Politik in der Verantwortung, die Industrie dahin zu bringen, die Verbreitung der EDCs zu reduzieren. Aber auch jeder einzelne kann mit dazu beitragen, dass weniger EDCs in die Umwelt gelangen.



Conflict of Interest

The authors declare that they have no conflict of interest.


Correspondence

Dr. med. Rolf Grossklaus, Dir. und Prof. i.R.
Tapiauer Allee 2 A
14055 Berlin
Germany   

Publication History

Received: 08 October 2024

Accepted after revision: 07 December 2024

Article published online:
26 March 2025

© 2025. The Author(s). This is an open access article published by Thieme under the terms of the Creative Commons Attribution-NonDerivative-NonCommercial-License, permitting copying and reproduction so long as the original work is given appropriate credit. Contents may not be used for commercial purposes, or adapted, remixed, transformed or built upon. (https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/).

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Oswald-Hesse-Straße 50, 70469 Stuttgart, Germany


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Fig. 1 The paradigm shift relating to iodine deficiency (Fig. is based on data from [24]).
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Fig. 2 Changes in thyroid physiology during pregnancy (a) and the relationship between thyroid hormone activity and brain development (b) (Fig. is based on data from [49] [50]). See text for further explanations (based on data from [2]).
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Abb. 1 Paradigmenwechsel des Jodmangels (Abb. basiert auf Daten aus [24]).
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Abb. 2 Veränderungen in der Schilddrüsenphysiologie während der Schwangerschaft (a) und die Beziehung zwischen Schilddrüsenhormonaktivität und Gehirnentwicklung (b) (Abb. basiert auf Daten aus [49] [50]). Weitere Erläuterungen siehe Text (nach Daten aus [2]).