Z Sex Forsch 2025; 38(02): 117-118
DOI: 10.1055/a-2463-9275
Buchbesprechungen

Was ist sexuelles Kapital

Michael Bochow
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Eva Illouz und Dana Kaplan. Was ist sexuelles Kapital. Berlin: Suhrkamp 2021.125 Seiten, EUR 22,00

Die Autorinnen setzen sich zum Ziel ihrer Untersuchung, die Auswirkungen des neoliberalen (zeitgenössischen, Anm. MB) Kapitalismus im Hinblick auf Gender und Sexualität zu analysieren. In dieser Perspektive sehen sie Sexualität in heterosexuellen Beziehungen als etwas, das „Arbeit für den kapitalistischen Produzenten“ darstellt: „der privilegierte Ort für die Ausbeutung von Frauen durch Männer“ (S. 16). Trotz zahlreicher Belege, dass junge Frauen in ihrem Sexualleben „selbstbestimmter handeln und sich stärker an ihrem eigenen Begehren orientieren“ (S. 16) als in früheren Jahrzehnten, ändere dies nichts an der durch die vorherrschende Genderstruktur zugewiesenen sozialen Position der Frauen. Diese blieben den kapitalistischen und den männlichen Ausbeutungsverhältnissen doppelt unterworfen.

Eva Illouz und Dana Kaplan wollen in der Analyse von „sexuellem Kapital“ soziale Klasse und Geschlechterverhältnis zusammendenken und verstehen das sexuelle Kapital „als einen Weg, um Status zu erwerben und wirtschaftlichen Gewinn zu erzielen“ (S. 33). In Anlehnung an den Begriff „kulturelles Kapital“ bei Pierre Bourdieu erweitern die Autorinnen den Begriff Kapital um nichtökonomische Aspekte. Sie wollen nachvollziehen, wie „Märkte, Geld und Kapital in die Lebenswelten eindringen und sie deformieren“ (S. 34). Sie sehen zwei Schauplätze, in denen sexuelles Kapital wirkt, es sind die Sphären der Produktion und der Reproduktion, Begriffe, die aus der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie vertraut sind. Im Gegensatz zu neomarxistischen Ansätzen halten Illouz und Kaplan diese Trennung im gegenwärtigen Kapitalismus für ideologisch. Gegenwärtig vollziehe sich ein Übergang des sexuellen Kapitals „als Mehrwert des Körpers […] zu Sexyness und verkörpertem Sexualkapital“ (S. 42). Es lasse sich nicht mehr die analytische Trennung zwischen den Bereichen der materiellen Produktion und der sozialen Reproduktion aufrechterhalten: „Wir sind vielmehr mit einer sexuellen Welt konfrontiert, in der es immer schwieriger wird, Sexarbeit von häuslichem Sex […] und anderen Formen von Arbeit zu unterschieden“ (S. 42). Diese starke Aussage wird von den Autorinnen jedoch zugleich wieder eingeschränkt. Obwohl Sexarbeit eine größere Akzeptabilität erreicht habe, werde Sexarbeit weiterhin sozial abgewertet. Für die Mittelschicht wird dennoch festgehalten, dass Formen der „weichen Prostitution“ sich ausbreiteten und ein allmähliches Vordringen „sexualisierter Formen von Arbeit in den legitimen Arbeitsmarkt“ (S. 45 f.) zu konstatieren sei. Auch jenseits der Prostitution zögen eine Reihe von Branchen „Mehrwert aus dem sexualisierten Körper und dem sexuellen Selbst“ und dies nicht nur im Bereich der Literaturproduktion und „der kulturellen Bilderwelten“ (S. 44).

Mit dieser Aussage begnügen sich Illouz und Kaplan nicht. Das allmähliche Vordringen sexualisierter Formen von Arbeit nehme Einzug in den regulären Arbeitsmarkt. Damit werde „die wesentlich private, nichtmonetäre Einzigartigkeit sexueller Erlebnisse in den neoliberalen Arbeitsprozess integriert, um ein neoliberales sexuelles Kapital hervorzubringen“ (S. 47).

Dass Sex und Sexualität dem Kapitalismus nicht äußerlich gegenüberstünden, sei den Betroffenen oft nicht immer bewusst. Die Autorinnen übernehmen die feministische Position (so ihre Deutung), dass Sex und Sexualität nicht nur durch Markttransaktionen, sondern auch in der Privatsphäre „Wertzuwächse für das Kapital erzielen (S. 53)“.

Dies ist zumindest ein sehr eigenwilliges Verständnis von Kapitalproduktion. Illouz und Kaplan wollen zwar grundlegende Unterschiede zwischen der Sexindustrie und der häuslichen Sphäre nicht verwischen. Sie behaupten jedoch, dass „sexuelles Kapital als Mehrwert des Körpers durch die männliche Ausbeutung“ (S. 52) des weiblichen Körpers geschaffen werde. Das „neoliberale sexuelle Kapital“ drehe sich um den wirtschaftlichen Wert, den die Subjekte aus ihren sexuellen Eigenschaften und Fähigkeiten ziehen könnten. An diesem Punkt wechseln die Autorinnen aus einer neomarxistisch anmutenden Terminologie in die der bürgerlichen Bildungsökonomie: „Wir verstehen diese Form von Sexualkapital als eine Variante des Humankapitals“ (S. 55). Das sexuelle Kapital werde eher von Angehörigen der Mittelschicht im Berufsleben eingesetzt. Diese Aussage offenbart erneut einen Widerspruch in der Argumentation von Illouz und Kaplan. Viele Bestimmungen des sexuellen Kapitals treffen sie als allgemeingültige Feststellung zu gegenwärtigen kapitalistisch geprägten Gesellschaften. Immer wieder beziehen sie sich jedoch auf die „Mittelklassen“. Dies müssen sie auch, da ihre Beispiele fast durchgängig auf den in der Dienstleistungssphäre tätigen Angehörigen der Mittelschichten beruhen. Dabei verwischen sie häufig die Grenzen zwischen Sexarbeit als Dienstleistung und den Produkten der Sexartikelindustrie (wie Pornofilme, Sextoys, Lederszene-Artikel etc.) einerseits und der in der Intimsphäre von Beziehungen gelebten Sexualität andererseits.

Auch die Grenzen zwischen sexuellen Dienstleistungen und nichtsexuellen Dienstleistungen werden eingeebnet. Die Autorinnen meinen „eine Verwischung des Unterschieds zwischen Sexarbeit und ‚legitimen‘ Tätigkeiten (Dienstleistungsberufe, Anm. MB)“ feststellen zu können, „bei denen der Körper als sexuelle Oberfläche ausgestellt […] wird“ (S. 70). Im gleichen Kontext wird für diese Behauptung die Tatsache angeführt, dass Sexarbeit tendenziell regulären Dienstleistungen angeglichen würde. Dies bedeutet jedoch nicht, wie die Autorinnen immer wieder nahelegen, dass in gegenläufiger Richtung ebenso Dienstleistungsberufe der Sexarbeit angeglichen würden. Verkäuferinnen in Parfümerien zum Beispiel oder Kellnerinnen in Nobel-Restaurants präsentieren sich gewiss in einem ästhetisch sorgfältig präparierten Outfit. Dies macht sie aber nicht zu Sexarbeiterinnen und dies trifft ebenso wenig zu für Stewardessen, einen in männlichen Fantasiewelten sehr sexualisierten Beruf. Für ihre These reklamieren Illouz und Kaplan auch „die wachsende Nachfrage nach Gefühlsarbeit durch Frauen“ (S. 70) als Beleg. Auch dies macht aus Sozialarbeiterinnen oder Therapeutinnen keine Sexarbeiterinnen, wenngleich es zutrifft und in der Literatur vielfältig belegt ist, dass Prostituierte häufig auch im Bereich der Gefühlsarbeit tätig sind und manchen Freiern die emotionale Zuwendung wichtiger ist als die angebotene sexuelle Dienstleistung. Die in sehr begrenztem Umfang „normalisierte“ Sexarbeit soll als Beispiel dazu dienen, dass aus vielen Dienstleister*innen Frauen werden, die wie Sexarbeiterinnen agieren. In dieser Argumentation wird vollkommen davon abgesehen, dass in Frankreich, einem Land, in dem Illouz beruflich tätig ist, Männer, die Sexarbeit nachfragen, kriminalisiert werden, dem Beispiel Schwedens folgend. Dies käme einem Berufsverbot für Sexarbeiterinnen gleich, wenn das Verbot strikt umgesetzt würde, ein Umstand, den Illouz und Kaplan vollkommen unerwähnt lassen.

Die Autorinnen unterscheiden zwischen „sexuellen Diensten“ und „sexualisierten Formen von Arbeit“, ohne letztere trennscharf zu bestimmen, und verwischen dabei gleichzeitig die Differenz zwischen beiden. Nur weil sie körperliche Attraktivität und soziale Gewandtheit als Teile von sexuellem Kapital definieren, können sie zu dem Ergebnis kommen, dass ein Großteil des Arbeitslebens, zumindest jedoch viele Dienstleistungsberufe, „sexualisiert“ seien: „Frauen, aber auch Männer müssen auf eine bestimmte Weise aussehen und sich sogar fühlen [….], wenn sie von anderen als sexy beurteilt werden und über sexuelles Kapital verfügen wollen“ (S. 79). Auf diese Weise würden die Menschen im gegenwärtigen Kapitalismus „nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern ihr ganzes existentielles Sein“ (S. 84) verkaufen. Sexyness erhöhe ihre Arbeitsmarktfähigkeit, „persönliche sexuelle Erfahrungen“ vergrößerten „die eigene Vermittlungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt“ (S. 87). Wenn auch sexuelle Attraktivität in dieser Perspektive die Chancen aller Lohnarbeiter*innen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen würden, nehmen Illouz und Kaplan an einem bestimmten Punkt ihrer Argumentation wieder die Einschränkung vor, dass ihre Thesen sich vor allem auf bestimmte berufliche Positionen der Mittelschicht beschränkten. Eine ihrer grundlegenden Behauptungen ist, „dass die Arbeitsmarktfähigkeit der Mittelklasse mittlerweile von Affekten sexueller Selbstwertschätzung abhängt“ (S. 95). Auf diese Weise stütze die „sexuelle Sphäre die Produktionssphäre nicht mehr nur, sie ist vielmehr kaum noch von ihr zu unterscheiden“ (S. 95). Der Beweis dafür, dass die Produktionssphäre (einschließlich der Dienstleistungen) sich nicht von Sexualität in Paarbeziehungen oder sonstigen Kontexten der privaten Intimsphäre unterscheide, gelingt den Autorinnen trotz mehrfacher Wiederholungen nicht. Auch ist daran zu erinnern, dass z. B. sexuelle Kontakte in Schwulenszenen, den SM-Szenen und in Swingerclubs, also hochgradig „sexualisierten Bereichen“, nicht von „Sexarbeiter*innen“ geleistet werden. Die Räume, die dafür nutzbar sind, werden zumeist von profitorientierten Privatunternehmer*innen bereitgestellt und gehören zweifellos zum Bereich der „Sexindustrie“, wie ihn Illouz und Kaplan verstehen. Die Sexkontakte selbst, die an diesen Orten stattfinden, werden damit aber nicht zu Kapitalquellen, wie Illouz und Kaplan immer wieder suggerieren, anders als gewerblich angebotener Sex von Sexarbeiter*innen. Ein schwuler Mann, der in einer kommerziellen Schwulensauna seinen sexuellen Bedürfnissen nachgeht, wird damit nicht zum Sexarbeiter, ebenso wenig wie der*die Immobilienbesitzer*in, die*der Räumlichkeiten vermietet.

Das „sexuelle Kapital“, das die Autorinnen zur Zentralkategorie ihrer Analyse bestimmen, ist eher eine Unterform des kulturellen Kapitals im Bourdieuschen Sinne (das von Illouz und Kaplan auch wiederholt angesprochen wird). „Kulturelles Kapital“ im metaphorischen Sinne ist im ganz überwiegenden Umfang im Besitz der Mittel- und Oberschicht und wird zumeist nicht im Produktionsprozess produziert, sondern in den Sozialisationsprozessen in Familien des Bildungsbürgertums und der Mittel- und Oberschicht. Die Networks der Old Boys (selten Old Girls) gehören dazu. Darauf basieren die vorteilhaften Beziehungen, das „soziale Kapital“ (im Sinne Bourdieus) der besitzenden Schichten.

Die Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre bleibt damit erhalten. Die Klassenstruktur postindustrieller Gesellschaften, die Illouz und Kaplan hervorheben, um ihre Thesen zu begründen, hebt diese nicht auf. Gegen den häufigen Gebrauch von Metaphern ist auch in sozialwissenschaftlichen Analysen nichts einzuwenden. Bei Illouz und Kaplan beeinträchtigen aber ihre Form des metaphorischen Diskurses und die anekdotische Evidenz zu häufig die begriffliche Trennschärfe und empirische Fundierung.

Michael Bochow (Berlin)



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Article published online:
11 June 2025

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