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DOI: 10.1055/a-2420-4454
Zwangsspektrumsstörungen

Noch gibt es viel zu tun
Es ist 22 Jahre her, dass wir die erste, und 11 Jahre, dass wir die letzte Ausgabe der PiD zum Thema Zwangsstörungen herausgegeben haben. Zeit für einen weiteren Anlauf.
Bei Zwangsstörungen geht es um die Beeinträchtigung basaler menschlicher Denk- und Erlebensfunktionen wie beispielsweise der Fähigkeit zur kognitiven Umstellung (Set Shifting, also der Anpassung des Verhaltens bei plötzlichen Regeländerungen), die bei Menschen primär (d. h. genetisch) und möglicherweise auch durch Einflüsse in der psychischen Entwicklung sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Es geht um die alte psychoanalytische Idee der stabilisierenden Regression auf das Niveau primitiver Kontrollmechanismen bei ängstigenden inneren Konflikten. Dann gibt es die Konditionierung von kurzfristigen Entlastungsmanövern gegen aufkommende Angst in Form von Zwangshandlungen. Je genauer wir auf die vergangenen Jahre schauen, desto differenzierter wird der Blick, und desto deutlicher wird, dass es durchaus neue Entwicklungen gibt, um den Patienten besser gerecht zu werden, und dass es vielleicht um die Integration der bewährten Sichtweisen geht.
Eine vermiedene Thematik
Zwangsstörungen sind nicht selten, haben aber eine erhebliche Dunkelziffer – auch in unseren Praxen und Kliniken, wo wir diesen Bereich vermutlich weniger thematisieren, als es oft sinnvoll wäre. Entsprechend der besonderen Gewissensdynamik von Menschen mit Zwangsstörungen schämen sie sich oft ihrer „unsinnigen“, lächerlich wirkenden Handlungen und Gedanken. Dadurch entgehen uns manchmal sowohl gravierende Symptome als auch „feine“, untergründige zwanghafte Züge unserer Patienten, die therapeutische Entwicklungsprozesse erheblich beeinträchtigen können. Neben der Scham der Betroffenen führt aber auch das eigene therapeutische Ohnmachtserleben angesichts oft hartnäckiger und wenig beeinflussbarer Symptome zur „Vermeidung“ der Thematik, selbst in längeren Therapien.
Wir fanden beispielsweise einen Überblick interessant, der zeigt, dass die kunstgerechte Anwendung behavioraler Therapieansätze in Verhaltenstherapien nur unzureichend erfolgt.
Die Behandlung von Zwangsstörungen ist ein spannendes Feld. Denn obwohl wir seit vielen Jahrzehnten wissen, dass therapeutische Vorgehensweisen wie Exposition und Reaktionsverhinderung vielen Patienten helfen – zumindest manchmal –, ist diese Erkenntnis in der Praxis noch nicht ausreichend verankert. Aber uns fallen auch schnell Patienten ein, bei denen das weniger effektiv war. Und die psychodynamisch orientierten Kliniker haben auch ohne den expliziten Einsatz dieser Techniken Besserungen erlebt. Unser Grundgefühl bleibt dabei: Bei der Therapie von Zwängen gibt es einiges an Verbesserungspotenzial, denn immer noch gibt es zu viele Menschen, die durch entsprechende Symptome in ihrem Leben massiv eingeschränkt werden.
Was steht im Fokus?
Was hat uns also interessiert? Wir wollten wissen, welche diagnostischen Veränderungen es in der Geschichte der Zwangsstörungen gibt und welche Störungsbilder, die vordergründig gar nicht mit Zwängen im Zusammenhang zu stehen scheinen, heute neu in diese Gruppe einbezogen sind – insbesondere in der zukünftigen ICD-11. Mit den Phänomenen der Trichotillomanie und des Skin Picking, mit spezifischen Krankheitsängsten und besonders mit dem schwerwiegenden Krankheitsbild des Hortens (und der dafür oft nötigen besonderen therapeutischen Begleitung) wurden wir schnell fündig.
Wir wollten die inzwischen langjährige Tradition der Verhaltenstherapie in ihren Weiterentwicklungen historisch betrachten und uns auch mit dem Phänomen beschäftigen, dass es zwar gute und hilfreiche verhaltenstherapeutische Konzepte gibt, die aber, wie bereits beschrieben, zu selten in der Praxis angewendet werden. Zudem wollten wir wissen, ob die theoretische Weiterentwicklung vom Konditionierungs- bzw. Expositionsparadigma hin zum Inhibitionslernen als breiterem und hilfreicheren Konzept für Therapeuten praktisch relevant ist.
Gleichzeitig fanden wir Flooding-Methoden, die durch die intensive und hochfrequente Anwendung verhaltenstherapeutischer Prinzipien innerhalb weniger Tage nachhaltige Verbesserungen bewirken konnten. Die Beschreibung dieses Konzepts wird viele interessieren. Die Psychodynamiker unter uns freuen sich, dass eine Studie kurz vor der Veröffentlichung steht, die zeigt, dass auch ein konfliktorientiertes psychodynamisches Vorgehen bei Zwangsstörungen deutlich wirksam ist. Auch wenn die Daten noch begutachtet werden, wollten wir den Mitautoren der Studie die Gelegenheit geben, den aktuellen Stand der Konzeptualisierung der Zwangsstörung in der Psychoanalyse darzustellen. Deren wichtiger Beitrag zum Verständnis der Phänomene wird heute oft vergessen.
Bemerkenswert war, dass wir in diesem Heft häufiger als sonst die Möglichkeit nutzten, dass Patienten von ihren Erfahrungen mit verschiedenen Therapien berichten konnten. Wir hoffen sehr, dass diese Artikel aufmerksam gelesen werden. Wir können daraus viel lernen.
Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre und hoffen, Ihr Interesse für eine erfolgreiche, vielleicht integrative Arbeit mit dieser nicht immer einfachen Patientengruppe zu wecken.
Publication History
Article published online:
19 August 2025
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