Definition und Klassifikation
Definition und Klassifikation
Patient*innen mit Schmerzen und Bewegungseinschränkungen im Bereich der Schulter
begegnen Mediziner*innen im klinischen Alltag häufig. Die Ursachen der Beschwerden
sind vielfältig. Sämtliche Erkrankungen, die mit eingeschränkter aktiver und
passiver Schultergelenksbeweglichkeit einhergehen, werden regelhaft unter dem
Begriff „Schultersteife“ zusammengefasst [1].
Es werden verschiedene Formen der Schultersteife unterschieden. Die primäre Form wird
als kapsuläre Schultersteife oder „Frozen Shoulder“ bezeichnet. Hierfür kann häufig
kein auslösender Moment bestimmt werden, die zu Anfang vorliegende Entzündung der
Gelenkkapsel wird mit konventionellen Mitteln in der Regel nicht nachgewiesen. Durch
Fibrose kommt es zur strukturellen Veränderung und Kontraktur der Gelenkkapsel.
Typisch ist der charakteristische phasenhafte Krankheitsverlauf.
Die sekundären Formen beinhalten sämtliche Schultersteifen, bei denen eine Ursache
erkennbar ist. Sind vordergründig strukturelle, also intrinsische Veränderungen am
Schultergelenk ursächlich, z. B. Arthrosen, Traumen mit knöchernen, muskulären,
tendinösen Läsionen oder postoperative Zustände mit längerer Immobilisation, wird
bei schmerzhaft bewegungseingeschränkten Folgezuständen in der Regel von einer
„Stiff Shoulder“ gesprochen [2]. Auch extrinsische
Ursachen, z. B. bei Funktionsstörungen im Rahmen von manualmedizinischen Syndromen
der oberen Thoraxapertur [3] oder im Rahmen von
Komorbiditäten wie Morbus Parkinson, Apoplex oder Mammakarzinom, sowie systemische
Ursachen, z. B. Diabetes mellitus, Hyper- oder Hypothyreosen und anderen
Stoffwechselerkrankungen, können sekundär zu einer eingeschränkten
Schultergelenksbeweglichkeit führen. Sie sind jedoch gehäuft auch mit der primären
Form assoziiert [4].
Klinik und Verlauf
Die Frozen Shoulder betrifft insbesondere Menschen im Alter von 40–65 Jahren. Frauen
sind häufiger betroffen als Männer. Die Ätiologie der Frozen Shoulder ist nach wie
vor nicht abschließend geklärt. Charakteristisch ist ein Krankheitsverlauf in 3
Phasen:
-
Entzündungsphase („freezing“)
-
Steifheitsphase („frozen“)
-
Auftauphase („thawing“)
Die Übergänge zwischen den Phasen sind fließend.
Entzündungsphase
Pathogenetisch kommt es zunächst zu einer diffusen Synovitis und Kapsulitis mit
Neovaskularisation [5]. Klinisch steht in
dieser Phase der Entzündung der Schmerz im Vordergrund. Es beginnt
typischerweise mit einem plötzlich einsetzenden, starken Schulterschmerz
(Visuelle Analogskala (VAS) >7), der in den Oberarm ausstrahlt ([Abb. 1]). Die Schmerzen bestehen über das
gesamte Bewegungsausmaß, jedoch auch in Ruhe und häufig nachts. In den ersten
Wochen ist die Bewegung in der Regel passiv nicht wesentlich eingeschränkt. Die
aktive Beweglichkeit ist eingeschränkt durch den Schmerz. Das Gewebe zeigt eine
hohe Reaktivität. Die Phase dauert in der Regel einige Wochen bis 9 Monate.
Steifheitsphase
Durch das entzündlich bedingte Übermaß an Fibroblasten und Myofibroblasten kommt
es im weiteren Verlauf zu einer ausgeprägten Fibrosierung mit Kontraktur
zunächst der anterioren und dann der gesamten glenohumeralen Gelenkkapsel. Die
Steifheit nimmt schleichend zu. Der Entzündungs- und Versteifungsprozess sowie
die damit einhergehenden fehlenden Dehnungs-, Zug- und Bewegungsreize schränken
die Gleitfähigkeit der myofaszialen, nervalen und bindegewebigen Strukturen
untereinander ein und mindern die Qualität der Gleit- und Schmiermittel sowie
der Viskoelastizität des kollagenen Bindegewebes und des dynamischen lockeren
retikulären Bindegewebes. Die aktive und passive Beweglichkeit ist dadurch in
allen Bewegungsrichtungen, insbesondere in der Außenrotation, deutlich
eingeschränkt. Der Schmerz nimmt im Verlauf langsam ab (VAS 4–6). Es besteht nur
noch eine mäßige Gewebsreaktivität. Diese 2. Phase dauert meistens 4–9
Monate.
Auftauphase
Im weiteren Verlauf löst sich die Kapselfibrose wieder auf. Es kommt sukzessive
zu einer Verbesserung der aktiven und passiven Beweglichkeit. Schmerzen bestehen
nur noch bei endgradigen passiven Bewegungen (VAS <3). Die Gewebsreaktivität
ist niedrig. Diese Phase dauert etwa 4–12 Monate. Die Gesamtdauer des
Krankheitsverlaufs der Frozen Shoulder beträgt meist 1–3 Jahre. Der
Genesungsprozess der Gelenkkapsel hin zur Normalisierung der bindegewebigen
Strukturen kann jedoch mehrere Jahre in Anspruch nehmen [6].
Diagnostik
Die Diagnosestellung der Frozen Shoulder erfolgt anhand der typischen Anamnese und
der klinischen Untersuchung. Die Beweglichkeit des Schultergelenkes ist aktiv und
passiv zu untersuchen. Um die Beweglichkeitseinschränkungen im Glenohumeralgelenk
möglichst isoliert zu erfassen, sollten auch passive Untersuchungen mit Fixation der
Scapula eingeschlossen werden. Die manualmedizinisch-orthopädische Untersuchung
zeigt typischerweise Bewegungseinschränkungen im Sinne eines Kapselmusters nach
Cyriax (Einschränkung der Außenrotation (AR)>Abduktion (Abd.)>Innenrotation
(IR)) oder Sachse (Abd.>AR>IR) [7].
Kelley et al. empfehlen, „Rule in“- und „Rule out“-Kriterien zur Diagnostik
heranzuziehen, um zu verhindern, dass jede steife Schulter als Frozen Shoulder
benannt wird [6]. Zu den „Rule in“-Kriterien
zählen: Alter 40–65 Jahre, typischer Verlauf, eingeschränkter Schlaf, die
Einschränkung aller Bewegungsrichtungen – insbesondere der Außenrotation, passives
Bewegen in Endposition reproduziert bekannten Schmerz, AR/IR nehmen bei zunehmender
Abduktion ab. Die „Rule out“-Kriterien umfassen: AR stark eingeschränkt mit hartem
Endgefühl, schmerzhafte Abduktion ohne AR-Einschränkung, AR/IR nehmen bei
zunehmender Abduktion zu.
Weiterführende Diagnostik
Bei untypischem Verlauf und nicht passendem klinischen Muster ist zum Ausschluss
einer sekundären Schultersteife und Red Flags eine weitere Diagnostik indiziert.
Zur Beurteilung der knöchernen und gelenkigen Strukturen sollten
Röntgenaufnahmen der Schulter in 3 Ebenen durchgeführt werden. Die Sonografie
der Schulter kann zur Untersuchung der Bursen, der langen Bizepssehne und der
Rotatorenmanschette sinnvoll sein. Die Untersuchungen sind bei der primären
Schultersteife in der Regel unauffällig. Eine Magnetresonanztomografie (MRT)
sollte bei weiterer Unklarheit durchgeführt werden. Im Anfangsstadium können
sich entzündliche Kapselveränderungen und Flüssigkeitsansammlungen zeigen.
Ergänzend sollte auch eine Labordiagnostik (zumindest BB, CrP, HbA1c, TSH) zum
Ausschluss von Stoffwechselerkrankungen oder Infektionen erfolgen [8].
Wertung der Ursachen und Einflussfaktoren
Wertung der Ursachen und Einflussfaktoren
Da der Krankheitsverlauf der Frozen Shoulder in der Regel selbstlimitierend ist,
stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit und dem Umfang einer Therapie. 30
Prozent der Patient*innen behalten leichte Schmerzen und/oder leichte
Bewegungseinschränkungen der Schulter zurück. Bei 17 Prozent ist innerhalb von 5
Jahren auch die kontralaterale Seite betroffen, bei 14 Prozent tritt die Frozen
Shoulder bilateral auf. Rezidive an der gleichen Schulter sind selten. Zur
individuellen Einschätzung des notwendigen Therapieumfangs und zur Planung des
passenden Behandlungskonzeptes sind alle Ursachen und Einflussfaktoren einzubeziehen
und hinsichtlich ihrer Relevanz zu werten. Neben der Strukturpathologie zählen dazu
die Funktionsstörungen und die psychischen und sozialen Einflussfaktoren (Yellow
Flags).
Grundlegende und sekundäre Funktionsstörungen
Zur Umsetzung einer befundgerechten Behandlung ist es notwendig, das Vorliegen
von grundlegenden Funktionsstörungen im Bewegungssystem, also
Bewegungsmusterstörungen, insuffiziente Tiefenstabilisation, Hypermobilität und
Dekonditionierung, manualmedizinisch zu untersuchen. Denn diese tragen zur
Aufrechterhaltung von schmerzhaften sekundären Funktionsstörungen bei, z. B.
gelenkige Blockierung, muskuläre
Verspannung/Verkürzung/Abschwächung/Triggerpunkte, fasziale
Verschieblichkeitsstörung, bindegewebige Verquellung, mit denen alle
Schultererkrankungen einhergehen oder kombiniert sind ([Tab. 1]) [9]. Zudem muss die Reaktivität des Gewebes und das allgemeine vegetative
Reaktionsniveau berücksichtigt werden. Die Reaktivität spiegelt das Vermögen
des Gewebes wider, mit physischem Stress umzugehen, und ermöglicht dadurch die
Bestimmung der Art und Intensität der Behandlung. Diese ganzheitliche
Betrachtung einer zu behandelnden Person in ihrem individuellen Kontext bietet
die Möglichkeit, im Voraus zu bestimmen, ob ein längerer Behandlungszeitraum
erwartet wird, ob mehr oder weniger somatisch behandelt werden muss und ob
multidisziplinäre Ansätze sinnvoller sein könnten [10].
Tab. 1 Typische funktionelle Befunde bei Frozen Shoulder
[9].
Grundlegende Funktionsstörungen
|
Auffällige Befunde
|
Funktionell klinische Bedeutung
|
Inkoordination des Stabilisationssystems
|
Hemmung der Tiefenstabilisation in: Kopfanteflexion,
Oberkörperaufrichtung, Hüftextension, Einbeinstand
|
Aufrechterhaltung sekundärer Funktionsstörungen, Überlastung
myofaszialer und gelenkiger Strukturen, Verkettungen
|
Störungen der Bewegungsmuster
|
Koordinationsstörung der: Kopfanteflexion, Armabduktion,
Schulterblattfixation, Atmung, Rumpfmuskulatur
|
Aufrechterhaltung sekundärer Funktionsstörungen, Überlastung
myofaszialer und gelenkiger Strukturen, insuffiziente
Schulterstabilisierung, Verkettungen
|
Sekundäre Funktionsstörungen
|
Auffällige Befunde
|
Funktionell klinische Bedeutung
|
Gelenkig
|
Blockierungen: Glenohumeral, ACG, SCG, HWS, BWS, CTÜ,
Kopfgelenke
|
Schmerz, Bewegungseinschränkung
|
Muskulär
|
-
Verspannung/Verkürzung: Mm. pectoralis, M.
trapezius (Pars descendens), M. levator scapulae, M.
scalenus, M. subclavius, M.
sternocleidomastoideus
-
Abschwächung: Mm. rhomboidei, M. serratus
posterior superior, M. infraspinatus, M.
supraspinatus, M. teres major, M. subscapularis
-
Triggerpunkte: können in allen o. g. Muskeln
auftreten
|
-
Schmerz, Bewegungseinschränkung
-
Schmerz, Bewegungseinschränkung
-
Übertragener Schmerz
|
Faszial/bindegewebig
|
-
Gleitstörung: Scapulothorakal, Hals-, Armfaszien,
Nerven, Viszerum
-
Verquellungen: CTÜ, gestörter Lymphabfluss
|
-
Schmerz, Bewegungseinschränkungen, Dysästhesien
-
Schwellungsgefühl der Hände
|
Komplexe Störungen und Verkettungen
|
Auffällige Befunde
|
Funktionell klinische Bedeutung
|
Oberes gekreuztes Syndrom (nach Janda)
|
Verspannung: Mm. pectorales, M. trapezius (Pars descendens),
kurze Nackenstrecker. Abschwächung Mm. rhomboidei, tiefe
Halsbeuger
|
Überlastung myofaszialer und gelenkiger Strukturen
|
Syndrome der oberen Thoraxapertur (SOT)
|
-
oberes SOT: Scalenussyndrom
-
mittleres SOT: Subclaviussyndrom
-
unteres SOT: Pectoralis minor Syndrom
|
-
Übertragener Schmerz, Imitation C6-Syndrom
-
Übertragener Schmerz, Imitation C6-Syndrom
-
Brustschmerz, übertragener Schmerz, Imitation
C8-Syndrom
|
Integrative Behandlung
Nach der Diagnosestellung sollte die behandelte Person ausführlich über die
Entstehung und den typischen und selbstlimitierten Verlauf der Frozen Shoulder sowie
den gutartigen Charakter der Erkrankung aufgeklärt werden. Dies ist ein erster und
wichtiger Aspekt des therapeutischen Prozesses, denn es beseitigt Unruhe und
Unsicherheiten bezüglich der Erkrankung und verhindert negative Krankheitsgedanken.
Unter Berücksichtigung der genannten Kontextfaktoren ist individuell zu
entscheiden, welche Therapien eine Person benötigt, damit der selbstlimitierende
Prozess so schnell wie möglich ablaufen kann. Die Behandlungsziele und die
therapeutischen Optionen unterscheiden sich in den verschiedenen Krankheitsphasen.
Das primäre Behandlungsziel in der Entzündungsphase ist das Erreichen einer
Schmerzlinderung und der Erhalt von Alltagsaktivität und Lebensqualität.
Medikamentöse und invasive Schmerztherapie
Aufgrund der ausgeprägten Schmerzen zu Beginn der Erkrankung ist eine adäquate
medikamentöse Schmerztherapie notwendig. Die Behandlung mit nicht steroidalen
Antirheumatika (NSAR) sollte primär erfolgen. Eine Erweiterung der Therapie mit
Opioiden und/oder Koanalgetika nach dem WHO-Stufenschema muss individuell
abgewogen werden. Erfahrungsgemäß kommt es jedoch in der Anfangsphase häufig zu
einem nicht ausreichenden Effekt der Analgetika [11]. Regelmäßig wird daher zusätzlich eine orale Kortisontherapie
empfohlen. Das häufig angewandte 20-Tages-Stufenschema nach Habermeyer und
Agneskirchner beginnt mit einer Dosis von 40 mg Prednisolon täglich, die alle 5
Tage um 10 mg reduziert wird.
Alternativ kann die Kortisontherapie als intraartikuläre glenohumerale Injektion
erfolgen. In Studien soll diese etwas bessere Ergebnisse gezeigt haben als die
systemische Therapie. Sie beinhaltet jedoch ein Infektionsrisiko und ist
aufgrund negativer Auswirkung auf die Sehnen und hyalines Knorpelgewebe sowie
der systematischen Nebenwirkungen nur begrenzt wiederholbar. Ähnlich wie bei der
analgetischen Therapie ist der wirkliche Nutzen für Patient*innen hinsichtlich
einer Schmerzlinderung sehr unterschiedlich [12]. Weitere invasive Verfahren, die nach Erfahrung der Autoren eine
gute Schmerzlinderung herbeiführen können, sind lokale Nervenblockaden des N.
suprascapularis oder Interscalenus-Blockaden, z. B. mit Naropin. Die Wirksamkeit
ist jedoch zeitlich begrenzt [13].
Komplementäre Verfahren
Unterstützend sollten regulativ und reflektorisch wirksame Verfahren mit in die
Therapie einbezogen werden. Die Neuraltherapie verhilft Patient*innen durch
Injektion von Procain lokal, segmental oder im Störfeld sowie als
Procain-Basen-Infusion zur Schmerzlinderung und zu einer verbesserten
vegetativen Balance. Eine Anwendung der Neuraltherapie kann unterstützend auch
in der Steifheits- und der Auftauphase sinnvoll sein [14]. Einige Studien zeigten, dass auch
Akupunkturbehandlungen zu einer Schmerzlinderung beitragen können [15].
Als weitere Therapieoption erzielt die Anwendung von Blutegeln eine Linderung von
Schmerz, Entzündung und bindegewerblichen Verquellungen. Während des circa
60-minütigen Saugaktes werden über den Speichel unter anderem analgetisch und
antiinflammatorisch wirksame Substanzen abgegeben, die auch tiefere
Gewebsschichten erreichen. Weitere unspezifische Effekte addieren sich zum
Gesamteffekt [16]. Bisher wurde nur in wenigen
Studien der Effekt einer Kinesio-Tape-Behandlung untersucht [17]. Patient*innen berichten jedoch regelmäßig
von Schmerzlinderung und vermindertem Spannungsgefühl nach Anlage von
muskeldetonisierenden Tapes oder Lymphtapes im Schulter-Nacken-Bereich. Mögliche
Placebo-Effekte können hierbei sicherlich genutzt werden.
Ein positiver Effekt verschiedener physikalischer Therapien wie der Kryotherapie,
Ultraschall- oder Elektrotherapie konnte in Studien nicht gezeigt werden [18]. Basierend auf der Erfahrung der Autoren
können bei ausgeprägten Schmerzen während der Entzündungsphase jedoch
physikalische Verfahren sinnvoll sein, die eine Verbesserung der Durchblutung
und des Stoffwechsels in der Region hervorrufen und vegetativ eutonisierend
wirken, z. B. Gleichstrombehandlungen durch Zellenbäder der Arme sowie
Stangerbäder oder solche, die wie der Träbert-Reizstrom primär schmerzdämpfend
wirken.
Physiotherapie befundorientiert
In der Anfangsphase der Frozen Shoulder kann mit dem Ziel einer Schmerzlinderung
eine Physiotherapie verordnet werden. Die Behandlung muss befundorientiert
erfolgen. Vermeulen et al. geben in einer „Praxisleitlinie Frozen Shoulder“ aus
den Niederlanden konkrete Behandlungsempfehlungen für Physiotherapeut*innen
[10]. Generell müssen sich die Intensität
der Behandlung sowie die Eigenaktivität der behandelten Person am
unterschiedlichen Belastbarkeitsniveau der Gelenkkapsel in den verschiedenen
Krankheitsphasen orientieren. Zur optimalen Belastungssteuerung empfehlen die
Autoren, die sogenannte 24-Stunden-Regel anzuwenden. Das heißt, die Reaktion des
Gewebes und das Auftreten von Schmerzen sollte für 24 Stunden nach Belastung
durch Behandlung oder Eigenaktivität beobachtet werden. Der Behandlungsprozess
scheint auf Basis der Gewebsreaktivität besser steuerbar zu sein als anhand der
Beweglichkeit.
Während der Entzündungsphase mit hoher Gewebsreaktivität ist 24 Stunden nach
Belastung kein zusätzliches Auftreten von Schmerzen erwünscht, da ein zu
starker Reiz und Überlastung die Kapselentzündung verstärken können. Daher
sollten die funktionelle Behandlung und die Bewegung nur innerhalb der
Schmerzgrenzen erfolgen. In dieser Phase sind keine intensiven lokalen
Behandlungen, sondern überwiegend regionale manualmedizinische Behandlungen
indiziert, z. B. schmerzdämpfende myofasziale Techniken,
Triggerpunktbehandlungen und Mobilisationstechniken der Hals- und
Brustwirbelsäule, insbesondere der Schlüsselregionen Kopfgelenke und
zervikothorakaler Übergang, unter Berücksichtigung möglicher Verkettungen.
Daneben sollten aktive Bewegungsübungen im schmerzfreien Bereich durchgeführt
werden. Dazu gehören Schwung- und Pendelübungen, isometrische Spannungsübungen
in Rückenlage, pendelnde Seilzugübungen unter Schulterniveau, tiefe
Ruderübungen mit einem Theraband, Anteflexionsübungen mithilfe des gesunden
Arms sowie skapulothorakale Bewegungen und thorakale Flexions- und
Extensionsübungen im Stütz. Unterstützend sollten Entspannungsübungen und
ein aerobes Ausdauertraining zur Verbesserung des allgemeinen körperlichen und
geistigen Zustandes regelmäßig selbstständig durchgeführt werden.
Gewebsreaktivität bestimmt Behandlungsintensität
Während der Steifheitsphase zielen die Behandlungen vorwiegend auf den
bestmöglichen Erhalt der Beweglichkeit und auf die Kompensation der
eingeschränkten Funktion ab. Im Vordergrund stehen dabei die
physiotherapeutische Therapie regional und lokal sowie das Erlernen und die
regelmäßige Durchführung von Eigenübungen. Die Behandlungsintensität kann
abhängig von der Gewebsreaktivität langsam gesteigert werden. Die Intensität
sollte so dosiert werden, dass eine Schmerzreaktion nach der Behandlung oder
Eigenaktivität maximal für bis zu 4 Stunden anhält. Die Patient*innen sollten
darüber informiert und entsprechend geschult werden, damit sie wissen, wie sie
sich im Alltag adäquat belasten und bewegen können. Bei weiter abnehmender
Gewebsreaktivität sollte die Belastungsintensität in der Auftauphase weiter
gesteigert werden. Schmerzen bis zu 24 Stunden nach einer Behandlung oder
Aktivität sind zulässig. Ziel ist die Wiederherstellung der vollständigen
schmerzfreien Beweglichkeit. Die physiotherapeutische Therapie beinhaltet in
dieser Phase sowohl passive als auch aktive Bewegungen, Dehnungen und
Mobilisationsübungen in alle Bewegungsrichtungen. Zur Verbesserung der
Dehnbarkeit des Bindegewebes können Wärmebehandlungen zur Vorbereitung auf eine
physiotherapeutische Behandlung genutzt werden [19].
Grundlegende Funktionsstörungen mitbehandeln
Die manuelle Therapie zielt darauf ab, sekundäre Funktionsstörungen aufzuarbeiten
und die Gleitfähigkeit der Gewebe untereinander wiederherzustellen. Es reicht
jedoch nicht aus, lediglich die Einzelbefunde zu behandeln. Die Behandlung der
grundlegenden Funktionsstörungen ist Voraussetzung für einen nachhaltigen
Therapieeffekt. Dazu gehört insbesondere die neuromuskuläre Reedukation. Die
durch lange dauernde Bewegungseinschränkung gestörten Bewegungsmuster und
propriozeptive Dysfunktionen sollten durch krankengymnastische Übungen und
Eigenübungen normalisiert werden. Übungen zur Verbesserung des tiefen
rumpfstabilisierenden Systems bilden die Grundlage für die Wiederherstellung
von freier Beweglichkeit und Kraft der oberen Extremität [20]. Dazu sollten in der Behandlung sowie
selbstständig exzentrische Übungen für die Muskulatur der Rotatorenmanschette,
zentrierte Seilzugübungen, konzentrische und exzentrische Hantelübungen bis zu
1 kg, Liegestütz-, Unterarmstütz- oder Seitstütz-Übungen durchgeführt
werden. Um einen optimalen Behandlungserfolg zu erreichen, sollte jede
behandelte Person täglich ein Eigenübungsprogramm durchführen. Möglichst
stündlich sollte die Schulter für einige Minuten endgradig in alle Richtungen
bis in die Endposition bewegt und gehalten werden.
Fallbeispiel
Eine 50-jährige Frau wurde zur multimodalen Komplexbehandlung aufgrund einer
bilateralen Frozen Shoulder in die Sana Kliniken Sommerfeld eingewiesen. Die
Schmerzen in der rechten Schulter hatten vor 15 Monaten plötzlich und ohne
vorhergehendes traumatisches Ereignis begonnen. Die durchgeführte Diagnostik mit
Röntgen und MRT der rechten Schulter zeigte keine auffälligen Strukturveränderungen.
Die Schmerzen bestanden sowohl in Ruhe, insbesondere nachts, als auch bei Bewegung
und waren von hoher Intensität. Durch Einnahme von Analgetika wie Ibuprofen,
Diclofenac und Naproxen war zunächst keine wesentliche Schmerzlinderung eingetreten.
Daraufhin erfolgten in Abständen von einigen Wochen insgesamt 3 Kortisoninjektionen
in das Glenohumeralgelenk. Bei weiterhin ausbleibender Schmerzlinderung und
deutlicher Beeinträchtigung der Alltagsaktivität und des Nachtschlafes erfolgte eine
orale Kortisonstoßtherapie nach Habermeyer-Schema, die jedoch ebenfalls wenig
Linderung brachte. Die Schmerzen waren nach 3 Monaten weiterhin maximal ausgeprägt.
Erst osteopathische Behandlungen und eine Akupunkturbehandlungsserie brachten
letztendlich eine langsam eintretende Schmerzlinderung und damit wieder mehr
Lebensqualität. In der Folge war eine langsam zunehmende Bewegungseinschränkung der
rechten Schulter eingetreten. Sie wurde über die folgenden 6 Monate seriell mit
manueller Therapie behandelt und es wurden zusätzlich konsequent Eigenübungen
durchgeführt. Schleichend kam es zu einer Besserung der rechtsseitigen
Bewegungseinschränkungen, die sich zum Zeitpunkt der Krankenhausaufnahme nur noch
endgradig zeigten.
Komplexe Befundlage
Seit 3 Monaten bestanden nun auch stechende Schmerzen im Bereich der linken
Schulter, die in den Oberarm bis in den Ellenbogen sowie in den Brustbereich
links ausstrahlten. Zudem hatte sich ein seit Jahren rezidivierend aufgetretener
Nackenschmerz deutlich verstärkt und es traten regelmäßig
Hinterhauptkopfschmerzen auf, ziehend bis zur Stirn. Schmerzbedingt bestanden
mittlerweile ausgeprägte Durchschlafstörungen, dadurch eine zunehmende
Erschöpfung sowie vermehrt innere Unruhezustände und ständiges Frösteln. Die
ambulant erfolgten Therapien zeigten bisher keine Wirkung. Bei ihrer Arbeit als
Fitnesstrainerin fühlte sich die Patientin zunehmend eingeschränkt. Sie
berichtete von Durchhaltestrategien, zudem von psychosozialen Belastungsfaktoren
aufgrund eines Todesfalls in der Familie vor 2 Monaten.
Abb. 1 Die Entzündungsphase beginnt in der Regel mit starken
Schulterschmerzen, die in den Oberarm ausstrahlen. (© Mihail/Adobe
Stock; Symbolbild)
Multimodale Komplexbehandlung
Aufgrund der erheblichen Chronifizierungsgefährdung wurde die Indikation zur
interdisziplinären Diagnostik und Therapie im stationären Setting gestellt.
Diese erfolgte im Rahmen einer multimodal nicht operativen Komplexbehandlung des
Bewegungssystems nach OPS 8–977 entsprechend des ANOA-Konzeptes
(Arbeitsgemeinschaft nicht operativer orthopädischer manualmedizinischer
Akutkliniken e.V.) [20]. Zur Ergänzung der
Strukturdiagnostik erfolgte eine Sonografie und ein MRT der linken Schulter, in
der sich Flüssigkeitseinlagerungen in der Gelenkkapsel und ein geringer
Gelenkerguss zeigte, vereinbar mit dem Bild einer Kapsulitis. Die
manualmedizinisch-neuroorthopädische Untersuchung zeigte aktive und passive
Bewegungseinschränkungen in allen Richtungen, insbesondere der Außenrotation
([Abb. 2]
[3]). Es zeigten sich ausgeprägte schmerzhafte sekundäre
Funktionsstörungen im Bereich des Schultergürtels mit deutlichen Verspannungen
insbesondere des M. trapezius (oberer Anteil), M. levator scapulae, Mm.
pectorales und Mm. scaleni sowie Abschwächungen der Mm. rhomboidei, M. serratus
posterior, M. infraspinatus und M. supraspinatus. In diesem Bereich befanden
sich multiple Triggerpunkte, eine eingeschränkte Faszienverschieblichkeit und
bindegewebige Verquellungen. Zudem zeigten sich bedeutsame grundlegende
Funktionsstörungen: Die Bewegungsmuster in der Armabduktion ([Abb. 4]), der Schulterblattfixation, der
Kopfanteflexion und der Atmung waren erheblich gestört. Die Ganganalyse
erbrachte zudem Hinweise auf eine Insuffizienz der tiefenstabilisierenden
Muskulatur im Rumpfbereich mit myofaszialen Verkettungen in die
Schulter-Nacken-Region und Hemmung der Oberkörperbewegung. Außerdem bestand ein
allgemein erhöhtes vegetatives Anspannungsniveau.
Abb. 2 Fallbeispiel Frozen Shoulder. Eingeschränkte Außenrotation
li.>re.
Abb. 3 Fallbeispiel Frozen Shoulder. Eingeschränkte Innenrotation
li. > re. (Quelle: Koll/Gnauert/Seidel)
Abb. 4 Fallbeispiel Frozen Shoulder. Gestörtes Bewegungsmuster der
Abduktion li. (Quelle: Koll/Gnauert/Seidel)
Befundorientierte Behandlung
Die Behandlungen richteten sich nach der aktuellen Krankheitsphase (rechts:
„thawing“, links: „freezing“) unter Berücksichtigung der Gewebsreaktivität und
der ausgeprägten funktionellen Befunde. Die medikamentöse Schmerztherapie
erfolgte mit Arcoxia 90 mg morgens. Zur Verbesserung des Nachtschlafes und
Erhöhung der Schmerzschwelle wurde die Patientin zudem mit Amineurin 25 mg zum
Abend behandelt. Unterstützend erfolgten physikalische Therapien mit
Hochvoltstrom, Phonophorese, Wärmepackungen und Stangerbädern zur
Schmerzlinderung, Stoffwechselanregung und Verbesserung der vegetativen
Reaktionslage. Zudem wurden Teilkörpermassagen, Schröpfbehandlungen und einmalig
Blutegel angewendet.
Es erfolgten neuraltherapeutische Injektionsbehandlungen mit Procain. Zudem wurde
zweimalig eine N. suprascapularis-Blockade links mit Naropin durchgeführt.
Ergänzend erfolgten Kinesio-Tape-Anlagen zur Relaxation der
Schulter-Nacken-Muskulatur sowie befundgerechte physiotherapeutische
Behandlungen. Die sekundären gelenkigen, myofaszialen und bindegewebigen
Funktionsstörungen inklusive Verkettungen wurden manualmedizinisch aufgearbeitet
unter Berücksichtigung der Gewebsreaktivität. Die grundlegenden
Funktionsstörungen wurden durch krankengymnastische Einzel- und Gruppentherapien
behandelt, insbesondere durch Atemtherapie, propriozeptive sensomotorische
Fazilitation nach Janda sowie dosiertes Muskelkoordinationstraining. Die
Patientin wurde mit einem Eigenübungsprogramm vertraut gemacht, das sie täglich
anwenden sollte. Sie nahm zudem an der Einführung in ein Entspannungsverfahren
(PMR) und an psychoedukativen Vorträgen teil.
Die Patientin konnte von den Therapien insgesamt wesentlich profitieren. Die
komplexe Befundlage machte in diesem Fall einen interdisziplinären
Therapieansatz notwendig. Die Therapie der Frozen Shoulder sollte stets
befundgerecht erfolgen.
Zusammenfassung
Die „Frozen Shoulder“ ist eine Form der Schultersteife, die phasenhaft verläuft und
bei den Betroffenen zu Schmerzen und Bewegungseinschränkungen führt. Eine genaue
Struktur- und Funktionsdiagnostik und die Berücksichtigung möglicher psychosozialer
Einflussfaktoren sind für die Therapieplanung erforderlich. Bei der Behandlung der
Frozen Shoulder kommen neben Schmerztherapie, Physiotherapie inklusive
Krankengymnastik, Manueller Therapie und Eigenübungen auch komplementäre Verfahren
wie Akupunktur oder Blutegel-Behandlungen zum Einsatz. Multimodale, komplexe
Behandlungskonzepte können notwendig sein.
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht in: Koll S, Gnauert A, Seidel W. Die
Integrative Behandlung der Frozen Shoulder. zkm 2019; 2: 12–18. Online zu finden
unter http://dx.doi.org/10.1055/a-0877-1964