Praxis Handreha 2025; 06(01): 20-24
DOI: 10.1055/a-2411-6022
Schwerpunkt | Vertiefung

Unterschätzte Auswirkung von Handverletzungen: Schmerzen in der Schulter

Ilker Sahiner
 

Eine Verletzung der Hand kann Auswirkungen auf den gesamten Bewegungs- und Halteapparat der oberen Extremität haben, da die Schulter die eingeschränkte Bewegungsfähigkeit von Hand und Arm kompensiert. Dabei kommt es oft zu Fehlbelastungen, die zu Schmerzen und Bewegungseinschränkungen führen. Dieser Zusammenhang wird in der physiotherapeutischen Praxis häufig unterschätzt, daher ist es für Therapeut*innen wichtig, physiotherapeutische Ansätze zur Behandlung und Vorbeugung zu kennen.


Handverletzungen im Überblick

In Europa kommt es pro Jahr zu rund 11 Millionen Handverletzungen [1], in Deutschland waren 2021 rund 237 000 Patient*innen davon betroffen [4]. Davon wurden 20 Prozent durch Arbeitsunfälle verursacht, am häufigsten wird dabei der Daumen verletzt [1] [4]. Ob Verstauchungen, Verletzungen des Bandapparates, Luxationen (Auskugeln des Handgelenks) oder Frakturen, die Hand kann auf viele Arten verletzt werden. Da verschiedene anatomische Verbindungen zwischen Hand und Schulter bestehen, ist diese häufig von Handverletzungen ebenfalls betroffen: Schulter, Ellenbogen und Hand stehen im engen Verhältnis zueinander, da myofasziale, neuromuskuläre, biomechanische sowie Blut- und lymphatische Ketten die Gelenke miteinander verbinden ([Abb. 1] [3] [4]).

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Abb. 1 Die anatomischen Verbindungen zwischen Hand und Schulter sorgen häufig dafür, dass Handverletzungen auch zu Schmerzen in der Schulter führen. (© andranik123/stock.adobe.com – Stock photo. Posed by a model)
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Abb. 2 Biomechanik der Schulterbewegung. (Quelle: Prometheus LernAtlas – Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Schünke M, Schulte E, Schumacher U et al., Hrsg. 6., vollst überarb Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022)
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Abb. 3 Biomechanik der Schulterbewegung. (Quelle: Prometheus LernAtlas – Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Schünke M, Schulte E, Schumacher U et al., Hrsg. 6., vollst überarb Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022)
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Abb. 4 Impingement-Syndrom und das seitliche Heben des Arms. (Quelle: Prometheus LernAtlas – Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Schünke M, Schulte E, Schumacher U, Voll M, Wesker K, Hrsg. 6., vollst überarb Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022)

Die fasziale, mediale Kette verläuft von kaudal nach kranial und verbindet die Hand, die ulnare Seite des Unterarmes, die Ellenbogeninnenseite, das Septum intermusculare mediale, M. coracobrachialis, Akromion, Fascia cervicalis superficialis und M. scalenus – und zieht dann zum seitlichen Schädel. Eine weitere fasziale Kette ist die laterale Kette, die vom Handgelenk den radialen Unterarm entlang über die Ellenbogenaußenseite und das Septum intermusculare laterale über den M. deltoideus nach ventromedial über den M. pectoralis und dann weiter über die mediale Kette bis zur Schädelbasis zieht. Diese Kette wird bei Handverletzungen am stärksten durch Kompensationsbewegungen beansprucht und ist daher am häufigsten betroffen.

Der Plexus brachialis stellt den neuronalen Zusammenhang zwischen Hand und Schulter dar. Der Plexus entspringt von C5 bis Th1 und kann in 3 Äste aufgeteilt werden: Fasciculus lateralis, Fasciculus posterior und Fasciculus medialis [1].


Wie Schmerzen in der Schulter entstehen

Ein Grund für Schmerzen in der Schulter können Ausweichbewegungen zur Kompensation der Einschränkungen oder Schmerzen sein, die durch die Handverletzung verursacht sind. Solche Bewegungen betreffen oft den gesamten Arm und die Schulter, da die verletzte Hand entlastet werden soll. So entstehen unphysiologische Bewegungsmuster des Schultergelenks. Während Ausweichbewegungen pathologisch sind, handelt es sich bei den sogenannten weiterlaufenden Bewegungen um gesunde Bewegungsabläufe, die die Hauptbewegung des Körpers unterstützen und erweitern. Beispielsweise die Extension und Seitenneige der Wirbelsäule bei der Elevation des Armes. Deshalb ist es für Therapeut*innen bei der Behandlung von Handverletzungen wichtig, dass sie ihre Patient*innen dabei unterstützen, Ausweichbewegungen zu vermeiden, aber weiterlaufende Bewegungen im Alltag einzusetzen.

Ausweichbewegungen

Das Schulterheben ist eine der häufigsten Kompensationen, wobei die betroffene Person die Schulter hochzieht, um den Arm und die Hand in alltäglichen Dingen zu unterstützen. Beispielsweise um Gegenstände zu greifen oder zu tragen, ohne die verletzte Hand zu provozieren und zu beanspruchen. Der M. trapezius, insbesondere der Pars descendens oder auch die Mm. scalenii werden dabei vermehrt beansprucht und nehmen an Spannung zu, was zu Schulterschmerzen führen kann. Besonders in der ATS (Apertura thoracis superior) kann es zu Spannungen kommen und in der Folge zu myofaszialen und neuromuskulären Problemen, die neben Schulterschmerzen auch Nackenschmerzen und andere viszerale Dysfunktionen auslösen können ([Tab. 1] [2]).

Tab. 1 Äste des Plexus brachialis [1].

Fasciculus lateralis

Nervus pectoralis lateralis (C5–C7)

Nervus musculocutaneus (C5–C7)

Nervus medianus (C5–Th1)

Fasciculus posterior

Nervii subscapulares (C5–C6)

Nervus thoracodorsalis (C6–C8)

Nervus axillaris (C5–C6)

Nervus radialis (C5–Th1)

Fasciculus medialis

Nervus medianus (C5–Th1)

Nervus pectoralis medialis (C8–Th1)

Nervus cutaneus antebrachii medialis

Nervus cutaneus brachii medialis (beide C8–Th1)

Nervus ulnaris (C8–Th1)

Tab. 2 Beispiele für Ausweichbewegungen und weiterlaufende Bewegungen der Schulter.

Bewegungsmuster

Ausweichbewegungen

Weiterlaufende Bewegungen

Schulterhochzug

Die Schulter wird angehoben, um den Arm zu heben oder zu bewegen, wenn die Funktion der Hand eingeschränkt ist

Natürliches Anheben der Schulter bei Überkopfarbeiten

Schulteraußenrotation

Übermäßige Außenrotation der Schulter, um Handbewegungen zu kompensieren

Normale Außenrotation beim Werfen oder Greifen von Gegenständen

Oberkörperdrehung

Der Oberkörper wird mit der Schulter gedreht, um Bewegungen der Hand zu erleichtern

Natürliche Drehung des Oberkörpers beim Greifen über eine größere Distanz

Schultervorneigung

Vorwärtsneigung der Schulter, um Reichweite zu erhöhen, ohne die Hand stärker zu belasten

Natürliche Vorwärtsbewegung bei Bewegungen wie Schieben oder Ziehen

Muskelbeteiligung

Unnatürlich verstärkte Muskelspannung in bestimmten Bereichen (z. B. M. Trapezius)

Normale Muskelkette zwischen Schulter, Arm und Rumpf

Belastungsverteilung

Ungleichmäßige Belastung, führt zu Überlastung und Verspannungen

Gleichmäßige Verteilung der Belastung auf Schulter, Arm und Rumpf

Eine weitere Ausweichbewegung ist die Schulterprotraktion, d. h. eine nach vorne geneigte Schulter. Durch diese Bewegung versuchen Patient*innen ihren Bewegungsradius nach vorne zu vergrößern. Dadurch können jedoch Strukturen der Schulter, z. B. die lange Bizepssehne oder die Rotatorenmanschette, provoziert werden, was zu Schmerzen führt.


Weiterlaufende Bewegungen

Weiterlaufende Bewegungen der Schulter nach Handverletzungen sind solche, bei denen die Funktion der Hand auf die Schulter übertragen wird. Diese Bewegungen erfolgen oft automatisch. Bei Greifbewegungen, bei denen die Beweglichkeit und/oder Kraft in der Hand eingeschränkt ist, setzen Patient*innen oft vermehrt die Schulter ein, um zu greifen oder sich abzustützen, anstatt die Hand allein zu bewegen und zu belasten.

Schulterbewegungen sind zudem zusätzlich weiterlaufende Bewegungen bei feinmotorischen Abläufen. Zur Feinmotorik, z. B. beim Schreiben, wird in der Regel hauptsächlich die Hand verwendet. Nach einer Handverletzung wird die betroffene Person jedoch versuchen, diese Bewegungen mit der Schulter oder dem gesamten Arm zu unterstützen, wodurch die Schulter häufiger und intensiver genutzt wird.



Folgen für den Organismus

Fasziale Kette: Bei einer Handverletzung kommt es zu erhöhten Spannungen in den faszialen Strukturen des Arms, die sich nach oben auf die Schulter auswirken und zu Schmerzen oder Bewegungseinschränkungen führen können. Insbesondere die mediale und laterale Armlinien, die vom Handgelenk bis zur Schulter ziehen, sind betroffen.

Neuromuskuläre Ketten: Die Hand, der Arm und die Schulter haben viele nervale und muskuläre Verbindungen. Eine Verletzung oder eine Einschränkung der Hand kann eine Veränderung der Muskulatur und dem Plexus brachialis entlang der gesamten oberen Extremität verursachen. Das kann zu ausstrahlenden Schmerzen und zu Versorgungsproblemen führen.

Biomechanik und Bewegungsketten: Nach einer Handverletzung verändert sich oft das Bewegungsmuster des Armes und der Schulter. Der Körper versucht die eingeschränkte Funktion der Hand zu kompensieren. Das führt häufig zu einer Fehlhaltung oder Überbeanspruchung des Schultergelenks. Beispielsweise kann eine Person, die aufgrund einer Handverletzung bestimmte Greifbewegungen vermeidet, die Schulter übermäßig nach vorne neigen oder die Schulter anheben. Das kann langfristig zu Spannungsveränderungen und Schulterschmerzen führen.

Blut- und Lymphzirkulation: Eine Handverletzung kann die Blut- und Lymphzirkulation im gesamten Arm beeinträchtigen. Eine Störung in der Hand, z. B. durch Schwellungen oder Entzündungen, kann den normalen Lymphfluss behindern, was zu einem erhöhten Druck und Spannungen in der Schulterregion führt.

Segmentale Einflüsse: Die Nervenverbindungen von Hand und Schulter laufen gemeinsam zum zervikothorakalen Rückenmarksabschnitt (Segmente C5–Th1). Eine Handverletzung kann über Reflexbögen und das vegetative Nervensystem muskuläre Verspannungen und Schmerzen in der Schulter auslösen. Das geschieht durch eine veränderte sensorische Rückmeldung an das zentrale Nervensystem, die zu einer Schutzspannung in der Schulter führen und Schmerzen verursachen können [1].

Wirbelsäule und Statik: Durch die eingeschränkte Funktion der Hand und der mehr als sonst beanspruchten Schulter kann es in der Wirbelsäule zu Problemen kommen. Durch das Kompensieren der Fehlbelastung und Ausweichbewegungen entstehen muskuläre Dysbalancen, kyphotische oder skoliotische Fehlhaltungen der Wirbelsäule sowie mehr Druck auf die Facettengelenke der Hals- und Brustwirbelsäule. Das kann in der Folge zu Problemen an der HWS und Nackenschmerzen führen.

Impingement-Syndrom

Beim Impingement-Syndrom handelt es sich um eine schmerzhafte seitliche Bewegung des Armes. Die Ursache dafür ist, dass der Humeruskopf an das Akromion stößt und dabei die dazwischenliegenden Strukturen quetscht, z. B. die Supraspinatussehne. Die Folge ist eine eingeschränkte Beweglichkeit des Arms zu einem schmerzhaften „Bogen“ (Painful Arc) zwischen 60–120° [2]. Häufige Ursachen für die Einengung des subacromialen Raumes sind das Arbeiten mit dem Arm über dem Kopf, eine einseitige Körperhaltung und eine Überbeanspruchung der Rotatorenmanschette. Das Schultergelenk ist aufgrund seiner großen Mobilität hauptsächlich muskulär und ligamentär gesichert, weshalb eine Immobilisation des Arms zum Muskelabbau und damit zu einer geringeren muskulären Sicherung des Schultergelenks beiträgt. Wird der Arm aufgrund einer Ruhigstellung der Hand in Ruhe gehalten, kann das ebenfalls Auswirkungen auf die Schulter haben. Sie wird dann deutlich weniger im Alltag eingesetzt und eher in ungünstigen Schonhaltungen benutzt. Das seitliche Heben des Armes kann in 3 Phasen geteilt werden ([Abb. 4]):

Phase 1 (0–90°): In dieser Phase arbeitet zuerst der M. Supraspinatus für die ersten 10°, dann hauptsächlich der M. deltoideus für das seitliche Heben des Humerus in Aktion. Bei 90° findet diese Phase über das Anschlagen des Tuberculum majus des Humerus an den Pfannenoberrand bzw. durch Widerstand des Lig. coracohumerale ein Ende. Eine Außenrotation verzögert den Kontakt.

Phase 2 (90–150°): In dieser Phase fungiert das Schulterblatt als Stellwerk für den Humeruskopf, indem es über Translation und Drehung von maximal 60° die Gelenkpfanne nach oben ausrichtet. Diese Bewegung wird muskulär vom M. trapezius und M. serratus anterior geführt. Begleitet wird die scapulare Rotation in ACG und SCG.

Phase 3 (150–180°): Diese Phase ist nur über eine kontralaterale Seitenneigung der Wirbelsäule realisierbar mit entsprechender Aktivität der paravertebralen Muskulatur.

Wenn eine dieser Phasen nicht fließend in die andere Phase übergeht, kann es zu Dysfunktionen und Einschränkung der Beweglichkeit und Schmerzen im Schultergelenk kommen. Da es bei einer Handverletzung oft zur Ruhigstellung der Hand kommt und Patient*innen Hand und Arm schonen, werden vermehrt kompensatorische Bewegungen in der Schulterregion ausgeführt. Das Anheben der Schulter, etwa um etwas zu tragen, oder die Bewegung der Schulter nach vorne, um etwas zu erreichen, führt zu Stress in den Strukturen der Schulter, besonders in den myofaszialen Strukturen, wie M. Supraspinatus. Wenn diese Strukturen verletzt werden, kann ein Impingement-Syndrom die Folge sein.



Fazit

Bei Patient*innen, die mit einer Verletzung der Hand in die physiotherapeutische Behandlung kommen, sollte immer der ganze Körper betrachtet werden. Durch die verschiedenen Verbindungen zu anderen Gelenken und Systemen, können durch die Handverletzung Folgeprobleme entstehen, die zu Schmerzen führen und mit weiteren Einschränkungen einhergehen. Um diese zu verhindern oder einzuschränken, ist es wichtig, die Patient*innen entsprechend aufzuklären und zu unterstützen. Außerdem gilt es, Behandlungsstrategien zu entwickeln, um eine gesunde Kompensation zu finden, die andere Strukturen nicht übermäßig beanspruchen.



Autor

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Ilker Sahiner
ist Physiotherapeut, Manualtherapeut, Sportphysiotherapeut, Osteopath i. A. und in einer ambulanten Physiotherapie-Praxis mit orthopädischem Schwerpunkt in Berlin tätig.

Interessenkonflikt

Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Ilker Sahiner
Physiotherapie Stützpunkt Berlin
Kolonnenstraße 60
10827 Berlin
Deutschland   

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
15. Januar 2025

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Georg Thieme Verlag
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Ilker Sahiner
ist Physiotherapeut, Manualtherapeut, Sportphysiotherapeut, Osteopath i. A. und in einer ambulanten Physiotherapie-Praxis mit orthopädischem Schwerpunkt in Berlin tätig.
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Abb. 1 Die anatomischen Verbindungen zwischen Hand und Schulter sorgen häufig dafür, dass Handverletzungen auch zu Schmerzen in der Schulter führen. (© andranik123/stock.adobe.com – Stock photo. Posed by a model)
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Abb. 2 Biomechanik der Schulterbewegung. (Quelle: Prometheus LernAtlas – Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Schünke M, Schulte E, Schumacher U et al., Hrsg. 6., vollst überarb Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022)
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Abb. 3 Biomechanik der Schulterbewegung. (Quelle: Prometheus LernAtlas – Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Schünke M, Schulte E, Schumacher U et al., Hrsg. 6., vollst überarb Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022)
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Abb. 4 Impingement-Syndrom und das seitliche Heben des Arms. (Quelle: Prometheus LernAtlas – Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Schünke M, Schulte E, Schumacher U, Voll M, Wesker K, Hrsg. 6., vollst überarb Aufl. Stuttgart: Thieme; 2022)