Hintergrund
Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern und Jugendlichen sind eine
wichtige präventive Leistung der Gesundheitssysteme vieler Länder. Anzahl und Art
dieser
Untersuchungen weichen allerdings je nach Land stark voneinander ab.
In den nordischen Ländern und Großbritannien sind fachärztliche Spezialist*innen sowie
speziell ausgebildete Pflegende dafür verantwortlich, in den Niederlanden hingegen
die
Institutionen der Kinder- und Jugendgesundheitsbehörde und in den deutschsprachigen
Ländern, Frankreich und den USA ambulant tätige Grundversorger (Kinder- und
Hausärzt*innen). In den USA werden die Vorsorgeuntersuchungen Well-Child Visits genannt, in Deutschland Früherkennungsuntersuchungen (auch U-Untersuchungen).
In den verschiedenen Ländern sind die Untersuchungen entweder durch gesetzliche
Krankenversicherungen oder durch staatliche Mittel sichergestellt. Die Untersuchungen
sind in den meisten Ländern freiwillig, manche Länder verknüpfen allerdings die
Auszahlung von Kindergeld an den Nachweis der Untersuchungen. Trotz vieler Bemühungen
ist die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen durch die
Familien nicht ganz vollständig. Sie liegt bei jüngeren Kindern in der Regel bei
95% und
ist besonders hoch, wenn Vorsorgeuntersuchungen zugleich mit den Impfungen stattfinden.
Später nimmt die Teilnehmerrate etwas ab.
Besondere Risikofaktoren für eine geringere Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen
sind:
-
ein niedriger sozioökonomischer Status,
-
ein Migrationshintergrund beider Eltern,
-
ein mangelndes Verständnis für Sinn und Zweck der Untersuchungen,
-
eine unzureichende Gesundheitsvorsorge schon vor der Geburt sowie
-
ein junges Alter der Eltern.
Weil gleichzeitig besonders diejenigen Kinder mit niedrigem sozioökonomischem Status
ein höheres Risiko für Entwicklungsauffälligkeiten und Gefährdungen haben, werden
in
vielen Ländern Einladungs- und Erinnerungssysteme oder sogar eine obligatorische
Meldung
(z. B. im Bundesland Saarland bereits eingeführt) zur Verbesserung der Inanspruchnahme
diskutiert. Da Vorsorgeuntersuchungen aber hinsichtlich Inanspruchnahme und Umfang
nicht
vollständig sind, können sie nicht als zuverlässige Instrumente der
Gesundheitsstatistik dienen. Sie sind in erster Linie eine individualmedizinische Maßnahme.
Studien haben gezeigt, dass Vorsorgeuntersuchungen durchaus wirksame
und zweckmäßige Effekte auf das Gesundheitssystem haben und für die
Gesellschaft wirtschaftlich sind. Sie führen beispielsweise zu
einer Reduktion von Konsultationen in den Krankenhäusern sowie einer effizienteren
Kontrolle und besseren Behandlung von chronischen Krankheiten. Zudem werden
Impfprogramme in der Regel zuverlässiger befolgt, wenn die Impfungen im Rahmen
der
Vorsorgeuntersuchungen stattfinden. Schließlich dienen diese präventiven Untersuchungen
aber vor allem dazu, Entwicklungsstörungen möglichst frühzeitig zu
erkennen und Eltern vorausschauend über gesundheitliche Themen zu beraten.
Dabei ist besonders eine Rückversicherung der elterlichen
Kompetenzen sehr wichtig. Die erzieherischen Fähigkeiten der Eltern werden
nachweislich gestärkt, wenn ihnen eine Fachperson bestätigt, dass sie für ihr Kind
gut
Sorge tragen und ihre Rolle als Eltern gewissenhaft ausfüllen.
Vorsorgeuntersuchungen leisten einen wichtigen Beitrag zur Früherfassung von Missbrauch und/oder Vernachlässigung von Kindern und
Jugendlichen. Die Begleitung dieser Familien ab der Geburt des Kindes ermöglicht,
dass
bereits zu einem frühen Zeitpunkt entsprechende Unterstützungs- und Versorgungsangebote
für die Eltern zu Förderung und Erziehung vermittelt werden können (z. B. Eltern-Kind- und Frühe Hilfen). Allerdings sind für die
Früherfassung von Misshandlung bisher keine geeigneten standardisierten Methoden
in den
Vorsorgeuntersuchungen implementiert.
Insgesamt haben Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen
gemeinsam mit den Angeboten der Frühen Hilfen dazu beigetragen, dass die Säuglings-
und Kindersterblichkeit sowie die Morbidität im Kindes- und Jugendalter deutlich
gesenkt werden konnten.
Früherkennungsuntersuchungen dienen nicht allein der Identifikation von möglicherweise
vorliegenden Krankheiten und Entwicklungsverzögerungen (Sekundärprävention). Sie enthalten auch die antizipierende
(vorausschauende) Beratung von Familien, bevor mögliche Krankheiten oder
Störungen auftreten (Primärprävention). Der Begriff Vorsorgeuntersuchungen schließt diese primäre Form der Prävention
mit ein und umfasst daher auch wichtige psychosoziale Aspekte
von der Geburt bis in die Adoleszenz.
Erst die vorausschauende Beratung macht die
U-Untersuchungen zu echten Vorsorgeuntersuchungen und beschränkt diese nicht nur
auf
die Früherkennung von Krankheiten und Störungen.
Tatsächlich geben Eltern als Hauptgründe für den Besuch von Vorsorgeuntersuchungen
ihr
Bedürfnis nach Beratung und nach Rückversicherung bezüglich
der kindlichen Entwicklung und Gesundheit sowie das Besprechen ihrer diesbezüglichen
Sorgen an. Eine Schweizer Studie zeigt, dass die psychosozialen Aspekte und
Beratungsthemen in den Vorsorgeuntersuchungen sehr divers sind ([Tab. 1]). Eltern lassen sich von
niedergelassenen Kinderärzt*innen beraten, weil diese bei den Familien in der Regel
hohes Vertrauen genießen. Sie kennen die Kinder und ihre Eltern meist seit der
Geburt
und begleiten sie in den Vorsorgeuntersuchungen vom Säuglingsalter bis in die
Adoleszenz.
Tab. 1
Beratungsthemen in den Vorsorgeuntersuchungen.
-
Impfberatung
-
Stillen/Gedeihen/Wachstum
-
Schlaf- und Schreiverhalten
-
Bewegungsverhalten/Motorik
-
Unfallverhütung
-
Ernährung/Essverhalten
-
Zähne/Mundhygiene
-
Allergien
-
Sauberkeitsentwicklung
|
-
Spielverhalten
-
Sprachentwicklung
-
Erziehungsfragen und familiäre Probleme
-
Einschulung und Schulschwierigkeiten
-
Umgang mit Medien
-
Reiseberatung
-
Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten
-
Fragen zu Medikamenten
-
Pubertätsthemen/Probleme der Adoleszenz
|
Allgemeines
Im Rahmen der begrenzten zeitlichen Ressourcen kann nur eine Auswahl der Themen in
den
Vorsorgeuntersuchungen bearbeitet werden, die sich an den von den Eltern festgelegten
Schwerpunkten orientiert. Die Eltern haben die Möglichkeit, ihre Fragen und Themen
zur
Untersuchung auf einer speziellen Seite im Deutschen U-Heft zu notieren. Es liegt
in der
Verantwortung und dem Ermessen der Untersucherin oder des Untersuchers, die passende
Gewichtung und Priorisierung vorzunehmen.
Dokumentation
In Deutschland haben auf Grundlage des seit 1971 mehrfach revidierten fünften
Sozialgesetzbuchs „versicherte Kinder bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres
Anspruch auf 10 Untersuchungen sowie nach Vollendung des 10. Lebensjahres auf
eine
Untersuchung zur Früherkennung von Krankheiten, die ihre körperliche, geistige
oder
psychosoziale Entwicklung in nicht geringfügigem Maße gefährden […]“. Im Kinderuntersuchungsheft („gelbes Heft“) werden die Eltern
über die Untersuchungen informiert und die Befunde von der Ärztin bzw. dem Arzt
dokumentiert.
In der Schweiz hat die Schweizerische Kinderärzte Gesellschaft (Pädiatrie Schweiz)
entsprechende Checklisten zu den Vorsorgeuntersuchungen
herausgegeben, die als Leitlinien für die Vorsorgeuntersuchungen dienen. Die
Untersuchungen gelten allerdings lediglich als teilstandardisiert, denn weder
die
deutschen noch die schweizerischen Richtlinien beinhalten eine genaue Bestimmung
zur
Durchführung der Vorsorge. Auch sind die Vorgaben im „gelben Heft“ wie auch in
den
Schweizer Checklisten außerordentlich umfangreich. Sie können anlässlich der
einzelnen Termine aus zeitlichen Gründen oft nicht umfassend erfüllt werden.
Auch der in diesem Artikel geforderte Minimalstandard übersteigt das, was im
praktischen Alltag üblich ist. Dennoch verfolgt das hier präsentierte Konzept
das
Ziel, eine Umsetzungsempfehlung für alle deutschsprachigen Länder zu geben.
Zeitpunkte und Inhalte
In [Tab. 2]sind die
Zeitpunkte des U-Programmes in Deutschland gemäß der Kinderrichtlinie des
Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) dargestellt. Auch werden die wichtigsten
Themen
aufgelistet, die allerdings nicht zwingend abgearbeitet werden müssen, sondern
je
nach Kind und Familie zum Teil angepasst werden können.
Tab. 2
Zeitpunkt der Vorsorgeuntersuchungen und
Beratungsthemen
U
|
Zeitpunkt (Toleranzzeitraum)
|
Beratungsthemen (ausgewählt aus „gelbem Heft“ und Schweizer
Checklisten)
|
SIDS = Sudden Infant Death Syndrome
Zum Teil werden von gewissen Krankenkassen eine U10 (mit 7–8
Jahren), eine U11 (mit 9–10 Jahren) und eine J2 (mit 16–17 Jahren)
vergütet.
Bei frühgeborenen Kindern gilt das chronologische Alter; das
korrigierte Alter muss bei der Entwicklungsbeurteilung allerdings
berücksichtigt werden.
|
U1
|
unmittelbar nach der Geburt
|
Apgar-Test; äußerliche Fehlbildungen; Geburtsmaße; Beratung zu
Stillen und Ernährung; Vitamin-K-Gabe
|
U2
|
3.–10. Lebenstag (3–14)
|
entwicklungsneurologische Beurteilung; Beratung zu Ernährung,
Schlafen und Schreien, SIDS-Prävention und Unfallverhütung;
Vitamin-K-Gabe; Information über Vitamin-D-Gabe
|
U3
|
4.–5. Lebenswoche (3–8)
|
Beurteilung der Eltern-Kind-Interaktion sowie der elterlichen
Befindlichkeit und Belastung (Erschöpfung); Information über Frühe
Hilfen und andere Netzwerke; Beratung zu Ernährung, Schlafen und
Schreien, Unfallverhütung, SIDS-Prävention; Screening nach
kongenitalen Hüftdysplasien mittels Sonografie; Vitamin K-Gabe;
Impfberatung
|
U4
|
3.–4. Lebensmonat (2–4)
|
Beurteilung der Eltern-Kind-Interaktion, der elterlichen
Befindlichkeit und Ressourcen; Beratung bezüglich der veränderten
Lebenssituation und einer möglichen Berufsaufnahme sowie zu
außerfamiliärer Betreuung, Ernährung, Schlafen und Schreien,
Unfallverhütung, SIDS-Prävention
|
U5
|
6.–7. Lebensmonat (5–8)
|
Beurteilung der Eltern-Kind-Interaktion sowie der elterlichen
Befindlichkeit und Ressourcen; Beratung zu Ernährung, Schlafen,
Schnuller, Mundhygiene (Zahnpflege, Fluorid-Prophylaxe), Bewegungsbedürfnis
des Kindes,
Unfallverhütung; Aufklärung zu Fremdeln und Medienumgang
|
U6
|
10.–12. Lebensmonat (9–14)
|
Beobachtung der sozialen Interaktion, Kommunikation und
Selbstregulation des Kindes; Beurteilung des Spielverhaltens und der
Bewegungsentwicklung; Beratung zu Sprachentwicklung und Ernährung;
Aufklärung zum Medienumgang; Impfberatung
|
U7
|
21.–24. Lebensmonat (20–27)
|
Erfassung der Sprachentwicklung und des Spielverhaltens (z. B.
Symbolspiel); Beratung zu Ernährung, Mundhygiene (Zahnpflege),
Schlafen, Sauberkeitsentwicklung und Kontakten mit anderen Kindern;
Aufklärung zum Medienumgang; Beratung zur Autonomieentwicklung und
zum Trotzen, zu Bewegungsverhalten, zum Umgang mit Ängsten und zur
Unfallverhütung
|
U7a
|
34.–36. Lebensmonat (33–38)
|
Erfassung der Sprach- und Spielentwicklung; Beratung bezüglich
Schlafen, Sauberkeitsentwicklung, Kontakten mit anderen Kindern und
zur Autonomieentwicklung; Beurteilung der Feinmotorik; Aufklärung
zum Medienumgang; Fragen zu Spielgruppe und Kita
|
U8
|
46.–48. Lebensmonat (43–50)
|
Einschätzung des familiären Umfelds; Beratung zu Ernährung,
Mundhygiene (Zahnpflege), Sauberkeitsentwicklung und zu Kontakten
mit anderen Kindern; Beurteilung der Feinmotorik und
Autonomieentwicklung; Beratung zu Unfallverhütung und Medienumgang;
Fragen zur Kindergartenbereitschaft
|
U9
|
60.–64. Lebensmonat (58–66)
|
Beurteilung der Ernährung und Mundhygiene (Zahnpflege);
Rückmeldungen zum Kindergarten; Beratung im Umgang mit Ängsten, zum
Bewegungsverhalten, zu Unfallverhütung und Medienumgang; Fragen zur
Schulbereitschaft und zum Erziehungsverhalten; Impfberatung
|
J1
|
13.–14. Lebensjahr
|
Erfassung der körperlichen Leistungsfähigkeit; Beratung zu
Ernährung, Schlafstörungen und funktionellen Beschwerden (z. B.
Kopf, Bauch, Rücken); Impfberatung; Interview nach dem
HEADSS-Schema: häusliche Situation, Rückmeldung zu Schule und
außerschulischen Aktivitäten, Zukunftsplänen, Autonomieverhalten,
Risiko- und Suchtverhalten, Freundschaften, Sexualität, Medienumgang
und Gemütsschwankungen (Suizidrisiko)
|
Bei jeder Vorsorgeuntersuchung wird außerdem eine körperliche
Untersuchung durchgeführt und eine entwicklungspädiatrische Beurteilung der Motorik, des Spieles, der
kognitiven Entwicklung, der Kommunikation und Sprache sowie der sozioemotionalen
Entwicklung vorgenommen. Dafür kommen in den verschiedenen Entwicklungsbereichen
Grenzsteine (s. u.) zur Anwendung.
Auch werden anlässlich der einzelnen Vorsorgetermine die Körpermaße (Körpergewicht und Körperlänge, Kopfumfang bis zur U7,
Body-Mass-Index ab der U5) erhoben, mit der elterlichen Zielgröße abgeglichen und in die entsprechenden Wachstumskurven (Somatogramme) eingetragen; diese sind im „gelben Heft“
abgebildet. Außerdem sollten bei jeder Vorsorgeuntersuchung die Risiken für einen
körperlichen, psychischen oder sexuellen Missbrauch oder
eine Kindesvernachlässigung (z. B. durch eine postpartale
Depression) beurteilt werden. Dabei müssen die Interaktion der Eltern mit dem
Kind
und die elterliche Feinfühligkeit beurteilt werden.
Apparative Untersuchungen
Zwischen der U1 und der U2 werden spezielle weitere
Früherkennungsuntersuchungen durchgeführt: das Pulsoxymetrie-Screening nach angeborenen Herzfehlern (zwischen der
24. und 48. Lebensstunde), das Neugeborenenscreening nach angeborenen
Stoffwechselstörungen, Endokrinopathien und anderen Erkrankungen wie
Sichelzellkrankheit und spinale Muskelatrophie (zwischen der 36. und 72.
Lebensstunde) sowie das Hörscreening mittels
otoakustischer Emissionen (OAE) oder automatisierter Hirnstammaudiometrie (AABR,
bis zur 72. Lebensstunde).
Zwischen U2–U9 erfolgt das Sehscreening, das der
Früherfassung einer Amblyopie und deren Risikofaktoren dient (z. B. Schielen
oder stark unterschiedliche Brechwerte). Neben einer Inspektion der Augen wird auch geprüft, ob das Kind einem bewegten
Gegenstand oder der untersuchenden Person mit den Augen folgen kann (Blickfolgeuntersuchung). Die Durchleuchtungsuntersuchung in einem Abstand von 1–2 Metern dient
der Erfassung einer Katarakt oder einer anderen Trübung im Verlauf der Sehachse.
Dabei wird der Fundusreflex (Fundusrot) untersucht. Mit dem Brückner-Test im abgedunkelten Raum im Abstand von 3 Metern können
beim gleichzeitigen Durchleuchten beider Pupillen stark unterschiedliche
Brechwerte und ein geringes Schielen erfasst werden. Stärkeres Schielen lässt
sich auch mit einer Asymmetrie des Lichtreflexes auf der Hornhaut erkennen
(Hirschberg-Test). Als Alternative zum (technisch
anspruchsvollen) Brückner-Test wurden in den letzten Jahren verschiedene Autorefraktometer für die kinderärztliche Praxis
entwickelt, die ab der U6 eingesetzt werden können. Diese können eine
Anisometropie erkennen, unabhängig davon, ob sich bereits eine Amblyopie
entwickelt hat. Ab U7–U9 ist zusätzlich auch ein Stereotest sinnvoll (z. B. Lang-Stereotest). Wenn die Stereogramme
der Figuren im Abstand von 40 cm erkannt werden, dann ist ein Mikroschielen
praktisch ausgeschlossen. Ab der U8 soll auch der Visus geprüft werden (z. B.
mit Symbolen, Lea-Optotypen oder Snellen-E-Haken).
Ebenso ist im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen ein regelmäßiges Hörscreening wichtig, auch wenn gewisse angeborene
Beeinträchtigungen des Gehörs bereits mit den OAE in der Neugeborenenzeit
erfasst werden können. So sollten ab U4 eine nicht angeborene, erworbene
Schwerhörigkeit oder eine progrediente angeborene Hörstörung identifiziert
werden. Eine Methode dazu ist die Sensibilisierung der Eltern mit geeigneten
Fragen: Lässt sich das Kind mit der Stimme
beruhigen, auch wenn es die Eltern nicht sieht? Erschrickt das Kind, wenn die
Eltern ans Bett treten? Wird das Lautinventar des Kindes im Verlauf variabler?
Reagiert es auf das Rufen des Namens? In der U5 wird das Hörvermögen zusätzlich
gezielt beidseits mit der Hochtonrassel geprüft. In der
U8 oder U9 erfolgt das Hörscreening mit einem Reintonaudiometer mit Kopfhörer ([Tab. 3]).
Tab. 3
Empfehlungen für das Screening auf Hör- und
Sehstörungen in den Vorsorgeuntersuchungen.
U
|
Sehen
|
Hören
|
Inspektion, Blickfolgeuntersuchung, Durchleuchtung und
Hirschberg-Test sind auch nach der U5 sinnvoll.
|
U2
|
Inspektion, Blickfolgeuntersuchung, Durchleuchtung,
Hirschberg-Test
|
otoakustische Emissionen (OAE), automatisierte
Hirnstammaudiometrie (AABR)
|
U3
|
Inspektion, Blickfolgeuntersuchung, Durchleuchtung,
Hirschberg-Test
|
|
U4
|
Inspektion, Blickfolgeuntersuchung, Durchleuchtung,
Hirschberg-Test
|
Anamnese
|
U5
|
Inspektion, Blickfolgeuntersuchung, Durchleuchtung,
Hirschberg-Test
|
Anamnese, Hochtonrassel
|
U6
|
+ Covertest mit Fixationswürfel, Brückner-Test oder
Autorefraktometer
|
Anamnese
|
U7
|
+ Stereotest (z. B. Lang-Test)
|
Beurteilung der Sprachentwicklung
|
U8
|
+ Prüfung des seitengetrennten Fernvisus (z. B. mit
Lea-Einzeloptotypen mit Balken)
|
Reintonaudiometrie mit Kopfhörer
|
U9
|
+ Prüfung des Nahvisus (z. B. mit Snellen-E-Haken oder
Lea-Reihenoptotypen)
+ Farbensinn mit Ishihara-Tafeln (wenn gewünscht)
|
Reintonaudiometrie mit Kopfhörer, wenn in der U8 noch nicht
erfolgt
|
Besonderheiten in den einzelnen Vorsorgeuntersuchungen
U1 (1. Lebenstag)
Die U1 findet unmittelbar nach der Geburt statt. So wird 5 und 10 Minuten nach der
Geburt der Apgar-Wert von der anwesenden Ärztin bzw. vom
anwesenden Arzt oder der Hebamme bestimmt. Dabei werden die Herz- und Atemfrequenz
erfasst sowie eine Beurteilung von Atemanstrengung, des Hautkolorits, des
Muskeltonus und des Reflexverhaltens (zum Beispiel beim Absaugen) vorgenommen.
Auch
werden Nabelarterien-pH und Basenüberschuss gemessen sowie dokumentiert.
Dann folgen eine Beurteilung der Reifezeichen des
Neugeborenen (geringe Lanugohaare, feste Ohrmuscheln, Plantarlinien über die
vorderen Drittel der Fußsohle, mindestens ein Hoden deszendiert, Fingernägel über
den Fingerkuppen, Durchmesser der Brustdrüsen etwa 10 mm) sowie die Suche nach
Fehlbildungen und Geburtstraumata. Schließlich werden die Geburtslänge, das
Geburtsgewicht und der Kopfumfang gemessen. Zudem erhalten alle gesunden
Neugeborenen zur Blutungsprophylaxe je 2 mg Vitamin K oral (auch bei der U2 und U3).
U2 (3.–10. Lebenstag)
Im Rahmen der U2 (in der Regel vor Entlassung aus der Geburtsklinik) wird eine
umfassende Untersuchung durchgeführt und eine entwicklungsneurologische Einschätzung gemacht. Außerdem erfolgt das
Neugeborenenscreening. Darüber hinaus werden die Eltern in Bezug zur kindlichen
Ernährung, dem Stillen sowie dem Schlaf- und Schreiverhalten beraten und mit dem
Handling ihres Kindes vertraut gemacht. Auch die antizipierende Beratung zur Prävention von Unfällen (z. B. am
Wickeltisch) und dem plötzlichen Kindstod mit Empfehlung für die Rückenlage, den
bestmöglichen Schlafort (im eigenen Bett im Schlafzimmer der Eltern) und für eine
rauchfreie Umgebung sind wichtige Themen der kinderärztlichen Vorsorge in den
ersten
Lebenswochen. Bestandteil der U2 ist außerdem die Aufklärung der Eltern über die
Vitamin-D-Prophylaxe sowie die bevorstehenden Impfungen ab dem 2.
Lebensmonat.
Im gelben Heft befindet sich auch die Stuhlfarbkarte. Die
Eltern werden aufgefordert, sich bei entfärbten Stühlen bei der Kinderärztin bzw.
beim Kinderarzt zu melden, um weitere Abklärungen einleiten zu können. Damit kann
zum Beispiel eine angeborene Gallengangsatresie erfasst werden. Die Früherkennung
einer Cholestase soll spätestens bis zur 6. Lebenswoche angestrebt werden, weil
später eine Kasai-Operation durch den zirrhotischen Leberumbau kaum mehr Erfolg
verspricht.
U3 (4.–5. Lebenswoche)
Die U3 ist in der Regel die erste Untersuchung beim Kinderarzt bzw. der
Kinderärztin in der Praxis. Wichtig ist in dieser Untersuchung das Erfragen der
aktuellen Belastungen (z. B. nach dem Energielevel der
Bezugspersonen auf einer Skala von 0-10) und Unterstützungsmöglichkeiten sowie der
Veränderungen im Lebensrhythmus der Familie.
Darüber hinaus sind eine Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion und die
Einschätzung der Feinfühligkeit der Eltern angezeigt. Diese
lässt sich beispielsweise beim An- und Ausziehen des Kindes vor und nach der
Untersuchung einschätzen oder beim Trösten, wenn das Kind unruhig ist oder weint.
Eine ungenügende Feinfühligkeit kann insbesondere bei starker Erschöpfung oder
psychischer Erkrankung der Bezugspersonen auftreten und ist ein Risikofaktor für
Missbrauch oder Vernachlässigung des Kindes.
Unter Feinfühligkeit versteht man, dass die
Bezugsperson die Signale des Säuglings lesen und interpretieren kann. Sie
versteht seine emotionale Gefühlslage, erkennt seine Bedürfnisse und kann
angemessen sowie prompt darauf reagieren. Dabei sind Haltung, Mimik und
Äußerungen der Bezugspersonen an den Entwicklungsstand des Säuglings
angepasst.
Außerdem spielen anlässlich dieses Untersuchungszeitpunktes Beratungsthemen rund um die Ernährung des Säuglings sowie sein Schrei-
und Schlafverhalten eine zentrale Rolle. Beobachtet werden die ersten Verhaltensmuster in der Wahrnehmung (der Säugling fixiert und
verfolgt das Gesicht des Untersuchenden oder von Gegenständen), im Sozialverhalten
(Antwort mit Lächeln ab 5. oder 6. Lebenswoche, wenn der Säugling angelächelt
wird)
und in der Kommunikation (seufzende, zufriedene Laute und Lallen). Die entwicklungsneurologische Beurteilung beinhaltet die
Einschätzung der spontanen Bewegungen des Säuglings, vor allem die Bewegungen
der
Arme und Beine.
Dabei sind die Einschätzung der Variabilität der Bewegungen im Raum und über die
Zeit sowie die Harmonie (Flüssigkeit und Eleganz) der General
Movements wesentliche Kriterien zur Beurteilung der frühkindlichen
Motorik. Außerdem werden einzelne Reflexreaktionen geprüft
(z. B. Hand- und Fußgreifreflexe).
Zudem werden die Entwicklung der Körper- und
Kopfkontrolle sowie die Haltung des Säuglings
beurteilt. Diese zeigen eine charakteristische Abfolge und sind in [Abb. 4] für verschiedene
Körperlagen dargestellt. In der Bauchlage geht der Säugling von einer Flexions-
in
eine Extensionshaltung über; in Rückenlage verläuft die Entwicklung genau umgekehrt.
Im Alter von 6 Monaten kann er in der Bauchlage Arme und Beine von der Unterlage
abheben. In der Rückenlage kann er den Kopf von der Unterlage abheben und sich
sogar
häufig schon auf den Bauch drehen.
Abb. 4 Entwicklung der Körper- und Kopfkontrolle in den ersten 6 Monaten.
Im Rahmen der U3-Vorsorgeuntersuchung werden auch die Inguinalpulse palpiert. Wenn diese schlecht spürbar oder gar fehlend
sind und der Blutdruck in den unteren Extremitäten deutlich tiefer ist als in
den
oberen Extremitäten, dann kann dies ein Hinweis für eine Aortenisthmusstenose
sein.
In dieser Vorsorgeuntersuchung wird auch das Screening nach
kongenitalen Hüftdysplasien mittels Sonografie durchgeführt.
U4 (3.–4. Lebensmonat)
Bei dieser Untersuchung wird zur Einschätzung der motorischen Entwicklung unter
anderem auf den muskulären Tonus und das Bewegungsverhalten geachtet. Der Muskeltonus spiegelt sich auch in der
Fähigkeit zur Kopfkontrolle wider ([Abb. 4]). Möglicherweise sind bereits in
diesem Alter spezifische Fördermaßnahmen notwendig (z. B. Physiotherapie). Die
Variabilität in der kindlichen Entwicklung ist gerade in diesem Lebensabschnitt
–
und auch noch bis zur U7 – sehr groß, was bei der Beurteilung des Säuglings
berücksichtigt werden muss.
Darüber hinaus soll auf einen möglichen Plagiozephalus
geachtet werden: Dieser tritt zumeist einseitig auf, weil der Säugling häufig
auf
dem Rücken liegt und den Kopf bevorzugt auf eine Seite, z. B. gegen das Licht,
gedreht hält. Die fachliche Instruktion der Eltern im Handling und
in der Lagerung des Säuglings ist daher wichtig. So sollen Kinder während
ihrer Wachphasen regelmäßig auf den Bauch gelegt werden. Man sollte sie auch von
derjenigen Seite ansprechen, in die sie nicht spontan schauen. Wichtige Beratungsthemen im Rahmen der U4 können der berufliche
Wiedereinstieg der versorgenden Personen sowie das Fortführen des Stillens bzw.
die
Einführung der Beikost sein.
U5 (6.–7. Lebensmonat)
Die Beurteilung der motorischen Entwicklung steht bei dieser Untersuchung nach wie
vor im Vordergrund. Von besonderer Bedeutung ist die Beobachtung der Bewegungsqualität des Kindes. Auch soll die Kopfkontrolle – also die Fähigkeit, bei jeder Änderung der Körperhaltung
den Kopf senkrecht einzustellen – noch einmal geprüft werden. Der Säugling dreht sich in der Regel in diesem Alter von der Rücken- in
die Bauchlage (und umgekehrt) und beginnt, gezielt zu
greifen und Gegenstände zu betrachten. In diesem Alter darf der Säugling
noch keine eindeutige Händigkeit haben; dies könnte auf eine Hemiparese oder auf
eine Plexusparese hindeuten.
Die Sinnesorgane können mittels Beobachtung beurteilt
werden. Schon beim Anamnesegespräch mit den Eltern kann man erkennen, ob das Kind
direkten Blickkontakt herstellt oder auf akustische Reize reagiert (z. B. bei
Zuruf oder mit der Hochtonrassel). Auch soll geprüft werden, ob das Kind dem Blick
des Untersuchenden folgen
kann. Dabei schätzt man das Interesse des Kindes an der Umgebung ein und macht
sich
ein Bild über die frühe Kommunikation (stimmhaftes Lallen).
In dieser Untersuchung werden zudem die Vitamin-D- und die
Fluorid-Prophylaxe besprochen. Außerdem erfolgt erneut eine Impfberatung. Auch sollte auf den Schutz vor intensiver
Sonnenstrahlung hingewiesen werden. Im Falle einer außerhäuslichen Betreuung ist
eine entsprechende Beratung der Eltern angezeigt und häufig erwünscht.
U6 (10.–12. Lebensmonat)
Bei dieser Untersuchung sollte nach dem Fremdeln, der
geteilten Aufmerksamkeit (Joint Attention), dem Zeigen mit dem Zeigefinger sowie nach dem sozialen Referenzieren gefragt werden ([Abb. 5]). Diese Verhaltensweisen sind
wichtige Meilensteine in der sozialen und auch sprachlichen Entwicklung. Geteilte Aufmerksamkeit bedeutet dabei, die Aufmerksamkeit
von anderen Personen auf Dinge zu lenken, um diese zu teilen – beispielsweise
dem
anderen mit dem Zeigefinger etwas Interessantes zu zeigen, an dem man Freude hat.
Unter sozialem Referenzieren versteht man die
Rückversicherung eines Kindes bei einer Bezugsperson, wie eine bestimmte Situation
emotional zu bewerten ist.
Kinder mit einer Störung aus dem autistischen
Spektrum erreichen die sozialen Meilensteine in der Regel
verzögert.
Abb. 5 Soziales Referenzieren (a) und Zeigen (b).
Die Beurteilung der Sinnes- und Sprachentwicklung ist
auch bei dieser Untersuchung von Bedeutung (Silbenverdopplung, Reaktion auch auf
leise Geräusche). Trotz des Hörscreenings bei Neugeborenen sollte während der
ersten
Lebensjahre an eine mögliche sekundäre, meist transiente Hörstörung gedacht werden, die häufig durch eine Schallleitungsstörung
bedingt ist (meist infolge einer Flüssigkeitsansammlung im Mittelohr).
Das Kind zeigt in diesem Alter sicheres freies Sitzen und
meist auch schon eine Stehbereitschaft bei Annäherung der
Füße an den Boden. Außerdem greift es in der Regel mit dem Pinzettengriff nach kleinen Gegenständen (gestreckter Zeigefinger und
opponierter Daumen).
Beratungsthemen sind die Zahn- und Mundhygiene (keine
Nahrungsgabe in der Nacht), der Umgang mit digitalen Medien und das
altersentsprechende Spielangebot. Da in diesem Alter das Kind normalerweise beginnt,
Erwachsenenkost am Tisch zu essen, wird in der Untersuchung oft sein Essverhalten
thematisiert: Die Kinder ahmen häufig das Essverhalten der Eltern nach. Entsprechend
bedeutsam ist die verantwortungsbewusste Rolle der Bezugspersonen als Vorbilder beim Essverhalten.
U7 (21.–24. Lebensmonat)
Auch bei der U7 ist die Beurteilung der Sinnesorgane und der
weiteren Entwicklung wichtig. Dabei spielt die Einschätzung des
Spielverhaltens (z. B. repräsentatives Spiel und räumliches Spiel, [Abb. 6] und [Abb. 7]) eine besondere
Rolle. Meilen- und Grenzsteine der verschiedenen Spielarten sind in [Abb. 1] dargestellt.
Für das repräsentative Spiel benötigen Kinder eine
innere Vorstellung, wie ein Gegenstand eingesetzt werden kann, um ihn dann an
sich selbst und auch symbolisch an einem Gegenüber wie einer Person oder Puppe
auszuprobieren.
Abb. 6 Repräsentatives Spiel.
Abb. 7 Formen des Raumspiels. a Turm. b Zug. c Brücke.
Verzögerungen in der Sprachentwicklung sind zwischen dem
21. und 24. Lebensmonat nicht einfach zu erkennen, da die Kinder im Rahmen der
Untersuchung oft nur wenig sprechen, und gerade in dieser Zeit eine große
Variabilität beim Spracherwerb besteht. In der Praxis können für die Erfassung
des
Sprachstands der Kinder standardisierte Elternfragebögen
eingesetzt werden – wie zum Beispiel der SBE-2-KT, der in verschiedenen Sprachen
zur
Verfügung steht. In der aktuellen AWMF-Leitlinie zur Sprachtherapie werden die
entsprechenden Grenzwerte der verschiedenen gängigen Fragebögen und Tests angegeben.
Ein bedeutender Risikofaktor für den abnormen Spracherwerb ist das Ausbleiben
von
Zweiwortkombinationen. Kinder, die bis zum 2.
Geburtstag keine Wörter spontan kombinieren, tragen ein Risiko, im weiteren Verlauf
eine Störung im Erwerb der Sprache zu entwickeln. Wenn ein Kind keine oder erst
wenige Wörter spricht, sollte bei normalem Gehör das Sprachverständnis geprüft werden; zum Beispiel, indem das Kind vom
Untersuchenden genannte Körperteile an einer Puppe zeigt. Ab dem 2. Lebensjahr
sollte das Kind in der Lage sein, auf nicht situative Aufforderungen zu reagieren
(z. B. einen Gegenstand aus einer Zimmerecke holen). Eine frühe Erfassung von
Sprachentwicklungsverzögerungen ist wichtig, damit eine entsprechende Beratung
zu
häuslichen sprachfördernden Maßnahmen sowie eine pädaudiologische und logopädische
Abklärung erfolgen kann.
Die Beurteilung der Sprachentwicklung ist in der U7 und U7a ein zentrales
Element, weil eine Früherfassung von Sprachstörungen für die weitere Entwicklung
des Kindes wichtig ist.
Ebenfalls möglichst frühzeitig sollte eine Autismus-Spektrum-Störung erfasst
werden. Beim Vorliegen von autistischen Symptomen sollte das Screening-Instrument M-CHAT-R eingesetzt werden, das standardisiert die
Autismus-typischen Verhaltensweisen erfassen kann. Dabei füllt man den M-CHAT
am
besten zusammen mit den Eltern aus.
Typisch für dieses Alter ist die fortschreitende Autonomieentwicklung, die beim Kind nicht selten einen regelrechten
Rausch („Ich kann machen, was ich will.“), aber gleichzeitig auch große Angst
auslösen kann. Häufig treten dann vermehrt Trotz- und
Wutanfälle auf. Trotzen ist echte Verzweiflung des Kindes und darf nicht
als Machtkampf betrachtet werden. Ein erster Hinweis für die Selbstwahrnehmung
und
den Beginn der Trotzphase ist das Erkennen des eigenen Bildes im Spiegel, das
mit
dem sogenannten Rouge-Test erfasst wird. Erfüllt das Kind
den Rouge-Test, ist die Trotzphase in der Regel erreicht.
Beim Rouge-Test wird dem Kind unbemerkt ein farbiger
Fleck auf die Stirn getupft und seine Reaktion auf den Fleck im Spiegel
beobachtet. Berührt das Kind das eigene Gesicht oder den Fleck, kann man mit
Sicherheit sagen, dass es sich im Spiegel erkennt. Vor dem Alter von 14 Monaten
können Kinder diese Aufgabe in der Regel noch nicht lösen, während sich mit 21
Monaten praktisch alle Kinder im Spiegel erkennen.
Aus orthopädischer Sicht sollten im Rahmen dieser Vorsorgeuntersuchung die Schuhe
des Kindes beurteilt werden; ein passender Schuh sollte gut
anliegen, aber wegen des raschen Wachstums trotzdem genügend Platz geben. Bezüglich
der motorischen Entwicklung können das Treppensteigen, das
Vor- und Rückwärtsgehen, das Bücken, das Aufrichten aus der Hocke und das schnelle
Laufen und Rennen beobachtet werden.
U7a (34.–36. Lebensmonat)
Dieser Untersuchungszeitpunkt wurde in Deutschland im Jahr 2008 zusätzlich
eingeführt, um die Sprachentwicklung erneut zu beurteilen.
Auch hier können Wortschatz-Fragebögen wie der SBE-3-KT eingesetzt werden. Ebenso
sollte darauf geachtet werden, wie das Kind spricht. Kinder mit einem phonetischen
Inventar von nur 4–5 Konsonanten und einer limitierten Zahl von Vokalen weisen
ein
erhöhtes Risiko für eine Sprachentwicklungsstörung auf. Außerdem sollte auf die
Anwendung von grammatikalischen Grundregeln geachtet (einfacher Satzbau und Plural)
und das Sprachverständnis eingeschätzt werden (z. B. Verstehen von Präpositionen
wie
„auf“, „unter“ oder „in“). Die Aussprache ist in diesem Alter meist noch unfertig
und transiente Redeflussstörungen (Stottern) treten oft als
Entwicklungsphänomen auf. Eine sprachliche Integration von Kindern mit
Migrationshintergrund ist eventuell zu beachten. Eltern können im Rahmen dieser
Untersuchung auch hinsichtlich des Besuchs einer Spielgruppe beraten werden.
Zusätzlich sollte eine Beurteilung der feinmotorischen
Fähigkeiten erfolgen. Zu diesem Zeitpunkt kann bei motorischen
Auffälligkeiten eine Ergotherapie indiziert sein.
U8 (46.–48. Lebensmonat)
In diesem Untersuchungszeitraum sind das soziale Verhalten des Kindes und die
Anpassung an den Kindergarten oder ein soziales Gefüge ein Thema.
Dazu sind gewisse körperliche, kognitive und sozioemotionale Voraussetzungen
notwendig, die man beobachten oder erfragen sollte. So muss sich das Kind für
einen
Vormittag von seinen Bezugspersonen trennen können und sich in der Gruppe
einigermaßen wohl fühlen. Es kann Anleitungen bei Bewegungsspielen, beim Basteln
sowie Malen übernehmen, kann Aufträge verstehen und ausführen und ist zudem fähig,
Erzähltes aufzunehmen und in ganzen Sätzen wiederzugeben. Das Kind besitzt auch
eine
gewisse Ausdauer, damit es mehrmals pro Tag der Bezugsperson einige Minuten zuhören,
zuschauen und dabei stillsitzen kann. Auch sollte es eine gewisse Selbstständigkeit
erlangt haben, seine Jacke und die Schuhe an- und ausziehen zu können. Werden
diese
Voraussetzungen nicht erfüllt, dann sind weitere (besonders
entwicklungspädiatrische) Abklärungen indiziert.
Ein besonders wichtiger sozialer Entwicklungsschritt in diesem Alter (Übergang vom
Vorschul- zum Schulkind) ist die Entwicklung der Theory of Mind
(ToM) – der Einsicht des Kindes in die mentale Verfassung des
anderen.
Verfügt ein Kind über eine ToM, dann realisiert es, dass es etwas weiß, was andere
nicht wissen können, und dass seine Mitmenschen eigene Wünsche, Meinungen und
Absichten besitzen. So kann ein Kind erst dann lügen oder täuschen, wenn es über
eine ToM verfügt. In der Praxis kann dieser wichtige soziale Entwicklungsschritt
mit
dem Sally-Anne-Paradigma oder dem Smarties-Test erfasst werden.
Beim Smarties-Test wird den Kindern gezeigt, dass
eine Smarties-Schachtel wider Erwarten keine Smarties, sondern Bleistifte
enthält. Nun müssen die Kinder angeben, was eine andere Person, die nicht in
die
Schachtel schauen durfte, über den Inhalt dieser Smarties-Schachtel denkt. Ab
dem Alter von 3–5 Jahren geben Kinder in der Regel an, dass auch andere Personen
nicht wissen, dass die Schachtel Bleistifte enthält.
Im Rahmen der U8 wird ebenfalls Wert auf die Erfassung von Verhaltensbesonderheiten gelegt: z. B. allenfalls noch bestehendes
Einnässen am Tag oder Einkoten sowie Vorliegen von starken Trotzreaktionen,
Hyperaktivität oder Schlafstörungen. Bei der körperlichen Untersuchung ist besonders
auf die feinmotorischen Fähigkeiten zu achten, weil diese
im Kindergarten eine große Rolle spielen.
Eine Fernvisusprüfung wird mit einem Sehtest
durchgeführt, dessen standardisierte Symbole (Optotypen) von den Kindern leicht
identifiziert werden und bei Unschärfe nicht mehr voneinander unterschieden werden
können (z. B. beim Lea-Test). Nach der orientierenden binokulären Prüfung soll
der
Visus auch monokulär durch Abdecken eines Auges getestet werden. Die Hörprüfung erfolgt mit einem Reintonaudiometer mit Kopfhörer,
wobei die Hörschwellen in den sprachrelevanten Frequenzen (mindestens 5
Prüffrequenzen von 0,5–6 kHz bei mindestens 4 Lautstärken zwischen 20 und 50 dB)
geprüft werden sollen. Allerdings ist eine Tonaudiometrie in diesem Alter nicht
immer möglich und muss allenfalls in der U9 wiederholt werden.
Die Urinuntersuchung zur Erfassung von chronischen
Nierenerkrankungen (Mikrohämaturie oder Proteinurie) mittels Teststreifen gehört
routinemäßig zur U8.
U9 (60.–64. Lebensmonat)
In dieser Untersuchung stellen sich nicht selten Fragen zur Schulbereitschaft; zudem ist eine orientierende Befragung der
motorischen, kognitiven und sozioemotionalen Entwicklung angezeigt. Gelegentlich
wird die U9-Untersuchung auch anstelle der Schuleingangsuntersuchung eingesetzt, die ansonsten von der Amtsärztin
bzw. dem Amtsarzt durchgeführt wird.
Die Kontrolle der Grobmotorik beinhaltet unter anderem
das sichere Hüpfen auf einem Bein, das Laufen auf einem Strich (über etwa 2 Meter),
die Prüfung der Arm- und Beinkraft sowie der Körperhaltung. Zur Überprüfung der
Hand-Augen-Koordination sollte das Kind einen Kreis,
ein Dreieck, ein Quadrat, einen Menschen und ein Haus zeichnen können. Die Sprach- und Sprechfähigkeit werden mit der Benennung
bestimmter Bilder und dem Nacherzählen einer einfachen Geschichte erfasst. Auch
sollte die phonologische Bewusstheit des Kindes beurteilt
werden, die eine wichtige Vorläuferfähigkeit für den Schriftspracherwerb ist.
Phonologische Bewusstheit bedeutet die Fähigkeit, die
Laute in einem Wort identifizieren zu können: Welches ist der erste Laut in
„Salz“? Kommt in „Schwein“ ein [r] vor? Mit welchem Laut hört das Wort „Salz“
auf? Kommt ein [f] in „Elefant“ vor? Wo liegt das [f] in „Elefant“ (Anfang,
Mitte oder Schluss)? Zur phonologischen Bewusstheit im weiteren Sinn gehört auch
das Erkennen von Reimen: Reimt sich „Tisch“ auf „Fisch“ oder „Messer“ auf
„Gabel“?
Zur körperlichen Untersuchung gehört das Erfassen von Deformierungen der Wirbelsäule, eines Beckenschiefstands, ausgeprägter
X- oder O-Beine und auch von Fußgewölbeanomalien.
Stark weitsichtige Kinder können in diesem Alter mit einer Prüfung des Nahvisus entdeckt werden. Wegen der Fähigkeit zur
Akkommodation kann der Fernvisus normal sein. Ab dem Entwicklungsalter von etwa
5
Jahren gelingt die Visusprüfung bei fast allen Kindern mit einem Anzeigen der
Richtung der Snellen-E-Haken oder mithilfe des Lea-Testes. Eine Aufklärung der
Eltern über den altersadäquaten Umgang mit digitalen Medien
ist als Bestandteil der U9 sinnvoll.
J1 (13.–14. Lebensjahr)
Vorsorgeuntersuchungen während der Pubertät stellen ganz besondere Anforderungen,
weil die Jugendlichen häufig nicht aus eigenem Antrieb zur Untersuchung kommen
und
sie sich in der Regel gesund fühlen. Es braucht daher ein besonders respektvolles Setting; so muss zum Beispiel für das Ausziehen
im Rahmen der körperlichen Untersuchung eine besondere Privatsphäre geschaffen
werden, damit sich die Jugendlichen wohl fühlen. Auch ist empfehlenswert, dass
jeweils eine Drittperson im Raum anwesend ist.
Grundsätzlich sollte mit den Jugendlichen – in Absprache mit den Eltern – aber
auch
ein bilaterales Gespräch geführt werden.
Auch wenn die Kontrolle des Impfstatus, die Erfassung der Körpermaße und der
pubertären Entwicklung, die Untersuchung der Sinnesorgane und des Bewegungsapparats
wichtige Elemente der J1 sind, so ist insbesondere die präventive,
psychosoziale Beratung ein Eckpfeiler dieser Vorsorgeuntersuchung. Eine
mögliche, allerdings noch wenig bekannte Methode ist die semistrukturierte Anamnese
nach dem sogenannten HEADSS-Schema: Das Akronym setzt sich
aus den folgenden Elementen zusammen:
-
Home/Education: Wohnsituation, psychosoziales
Umfeld, Familienatmosphäre, Schulsituation, Schulleistungen und
Zukunftspläne
-
Eating: Essverhalten, Nahrungsvorlieben und
körperliche Befindlichkeit
-
Activities: Hobbys, Freizeitverhalten, Sport,
Medienumgang und Freunde
-
Drugs: Rauchen, Alkohol, Cannabis, andere Drogen
und Medikamente
-
Sexuality: romantische Freundschaften, sexuelle
Erfahrungen und Orientierung, Verhütung und Missbrauchsrisiko
-
Suicide/Depression: Traurigkeit,
Gemütsschwankungen und Suizidalität
Erfragen einer möglichen Suizidalität: Hast Du jemals
daran gedacht, dass Du Dir etwas antun oder nicht mehr leben möchtest? Hattest
Du je das Gefühl, dass es Dir oder Deiner Familie besser gehen würde, wenn Du
tot wärst? Hast Du in den letzten Wochen daran gedacht, Dich umzubringen?
Trotz den Risiken während der Adoleszenz gilt aber, dass viele Jugendliche diese
bedeutende Entwicklungsphase nur mit wenigen Schwierigkeiten durchlaufen. Daher
darf
die Pubertät nicht nur als Problemphase gesehen werden, sondern als einzigartige Entwicklungsperiode mit vielen Möglichkeiten und
Wegen zu einem selbstbestimmten und glücklichen Leben. Wenn man den Jugendlichen
mit
ehrlichem Interesse begegnet, dann schenken sie den Untersuchenden nicht selten
großes Vertrauen und kommen mit erstaunlichen Fragen in die
Vorsorgeuntersuchung.
-
Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern und Jugendlichen sind eine wichtige
präventive Leistung der Gesundheitssysteme vieler Länder.
-
Vorsorgeuntersuchungen sind in erster Linie eine
individualmedizinische Maßnahme. Allerdings sind sie aus
gesellschaftlicher Sicht durchaus wirksam, zweckmäßig und
wirtschaftlich.
-
Vorsorgeuntersuchungen sind gleichermaßen Instrumente der
Primärprävention (antizipierende, vorausschauende Beratung) und der
Sekundärprävention (Krankheits- und Entwicklungsscreening).
-
Die U-Untersuchungen beinhalten zu jedem Vorsorgezeitpunkt eine
orientierende körperliche Untersuchung mit Erfassung der Körpermaße und
eine entwicklungspädiatrische Einschätzung der Motorik, des Spieles, der
kognitiven Entwicklung, der Kommunikation und Sprache sowie der
sozioemotionalen Entwicklung. Auf Zeichen für körperlichen, psychischen
oder sexuellen Missbrauch sowie Kindesvernachlässigung sollte ebenfalls
geachtet werden.
-
Es existieren keine verbindlichen Empfehlungen zur Durchführung von
Vorsorgeuntersuchungen. Die Vorgaben im „gelben Heft“ sowie die
Schweizer Checklisten sind so umfassend, dass sie aus Zeitgründen bei
den einzelnen Terminen nicht vollständig abgearbeitet werden
können.
-
Jeder Untersucher setzt eigene Schwerpunkte und Prioritäten bei den
Vorsorgeuntersuchungen, auch in Bezug darauf, welche Instrumente er
verwendet.
Zitierweise für diesen Artikel
Pädiatrie up2date 2025; 20; 1–19, DOI: 10.1055/a-2389-7253
Dieser Beitrag ist eine aktualisierte Version des Buchkapitels: Jenni O, Holtz
S. Vorsorgeuntersuchungen. Duale Reihe Pädiatrie. Meyer S, Hrsg. 6., vollständig
überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Thieme; 2024. DOI: 10.1055/b000000645