Das Bewusstsein für psychische Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung hat in den
letzten Jahren deutlich zugenommen. Vor dem Hintergrund der hohen Prävalenz
psychischer Erkrankungen und des häufig großen Leids Betroffener und ihrer Familien
und der einhergehenden Isolation ist diese Entwicklung positiv zu bewerten. Eine
Entsprechung findet diese Entwicklung in einer deutlichen Zunahme der medialen
Berichterstattung besonders für Depressionen [1].
Unter Pandemiebedingungen beschleunigte sich diese Entwicklung in breiteren
gesellschaftlichen und politischen Debatten um Einsamkeit und psychische Gesundheit.
Folglich wird die Behandlung von Depressionen in der deutschen Allgemeinbevölkerung
inzwischen deutlich höher priorisiert als noch 2001 bzw. 2011 [2]. Auch psychotherapeutische und
psychopharmakologische Behandlungen sind populärer geworden und werden international
deutlich häufiger empfohlen als vor 25 Jahren [3].
Diese Entwicklungen werden in Deutschland flankiert von regelmäßigen
Präventionsprogrammen in Bildungseinrichtungen (z. B. Irrsinnig Menschlich e.V.),
nationalen Kampagnen für psychische Gesundheit (z. B. Aktionswoche Seelische
Gesundheit) und politischen Förderinstrumenten (z. B. Förderbekanntmachung des
Bundesministeriums für Gesundheit zur Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen).
Die Petition „Depression muss in die Lehrpläne!“ des Jugendbeirates der Stiftung
Deutsche Depressionshilfe hatte im Juli 2024 innerhalb eines Monats bereits knapp
45.000 Unterschriften gesammelt.
„Psychische Krankheit“ – eine Kategorie in Wechselwirkung mit der
Gesellschaft
Nimmt man einen einfachen Zusammenhang dieser Bemühungen in einem psychoedukativen
Verständnis von psychischer Krankheit und Symptomen an, erscheint der Fall klar: Die
breite Vermittlung von Wissen und Erfahrungen um Erkrankung und Behandlung führt
relativ nebenwirkungsarm zu mehr Gesundheitskompetenz, erhöhter Sensibilität und
reduziertem Stigma in der Öffentlichkeit. Ein Ziel dieser Bemühungen ist das
sogenannte „shifting the curve“, das heißt eine breit angelegte Verbesserung der
gesamten Krankheitslast in der Allgemeinbevölkerung durch gute Prävention [4]. Diese Public Mental Health Strategie und ihre
Messbarkeit beruht auf der Annahme, dass ein zeitlich ausreichend konstantes und
klar operationalisierbares Verständnis von psychischer Krankheit und Symptomen
vorliegt.
Die Erkenntnis, dass medizinisch-gesellschaftlich konsentierte diagnostische
Schwellen psychischer Krankheit an Entwicklungen von Diagnosemanualen und Zeitgeist
gebunden sind überrascht nicht. Hingegen sind potenzielle Wechselwirkungen zwischen
einem sich wandelnden gesellschaftlichen Verständnis von psychischer Krankheit und
ihrer Kategorisierung weniger verstanden. Der kanadische Wissenschaftstheoretiker
Ian Hacking arbeitete umfangreich zu Wechselwirkungen zwischen menschlichen
Phänomenen und deren Kategorisierung und postulierte einen sogenannten „Looping
effect“ [5]. Klassifizierte Personen interagieren
mit der Klassifikation, ändern oder adaptieren sich und führen so wiederum zu einer
Änderung der Klassifikation selbst. In diesem theoretischen Rahmen bewertete Hacking
psychiatrische Diagnosekonzepte als sog. „moving targets“ in direkter
gesellschaftlicher Wechselwirkung. Hier zeigt sich eine direkte Relevanz zu den
aktuellen „Awareness“-Bemühungen: Wenn im Rahmen einer breit angelegten
Öffentlichkeitsarbeit vor allem Berichte attraktiver und sympathischer Menschen mit
leichteren und gut behandelbaren Symptomen psychischer Erkrankung genutzt werden,
mag das zu einer messbaren Einstellungsverbesserung gegenüber der genutzten
Kategorie (z. B. „psychische Krankheit“ oder „Depression“) führen. Die Kernfrage ist
dann allerdings: Haben sich durch diese Bemühungen die Einstellungen zu echten
Menschen mit echten Diagnosen geändert oder hat sich die zu bewertende Kategorie
selbst verändert? Die Annahme eines manipulierbaren Konzepts psychischer Krankheit
wird auch durch experimentelle Daten gestützt: Wenn Probanden im Verlauf eines
Experiments immer weniger schwere Symptome psychischer Krankheit präsentiert
bekommen, ordnen diese zunehmend auch leichtere und mittelgradige Symptome als
„psychisch krank“ ein [6]. Werden also weniger
schwere Symptome öffentlich wahrgenommen, könnte dies durch eine prävalenzinduzierte
Konzeptveränderung zu einer Verschiebung des Krankheitskonzeptes hin zu leichteren
Symptomen beitragen und diesen „Looping effect“ beschleunigen [7]. Eine derartige Konzeptveränderung hätte Folgen
für die Public Mental Health Strategie des „shifting the curve“: Auch wenn gute
Präventionsarbeit zu einer „objektiv“ deutlich gesünderen Gesamtpopulation führte,
hieße dies eben nicht, dass Hilfebedarf oder Diagnoseraten abnehmen. Die Schwelle zu
einer Kategorisierung als psychische Krankheit verschiebt sich in diesem
theoretischen Rahmen dann ebenfalls hin zu dem „gesünderen“ Pol. Zugespitzt handelt
es sich also um ein dynamisches System mit stetigem Bedarf, dass auf Präventions–
und Behandlungsbemühungen nicht unidirektional reagiert. Beobachtungen, dass die
Häufigkeit depressiver Erkrankungen auf Populationsebene trotz gestiegener
präventiver und therapeutischer Bemühungen keinesfalls abnimmt, sprechen für eine
gewisse Relevanz dieser Dynamik auf Bevölkerungsebene (vgl. treatment-prevalence
paradox [8]).
Ein höheres Stigma schwerer psychischer Krankheit als Nebenwirkung?
Nun könnte man einwenden, dass diese Verschiebung durchaus positive Effekte hat. Der
wachsende Bedarf etwa nach Psychotherapie und die steigenden Verordnungszahlen von
Antidepressiva zeigen ja eine gestiegene Inanspruchnahme professioneller Hilfe, was
angesichts der gut belegten langen Latenz bis zur Inanspruchnahme von Hilfe bzw. der
Häufigkeit gänzlich unbehandelter psychischer Krankheiten eine erwünschte
Entwicklung ist. Allerdings gibt es Menschen, die von einer Konzeptverschiebung kaum
profitieren, sondern denen sogar Benachteiligung droht: Menschen mit schweren
psychischen Krankheiten, deren gesellschaftliche Akzeptanz sich, wie Langzeitstudien
zeigen, in den letzten Jahrzehnten nicht verbessert, sondern teilweise sogar
verschlechtert hat [9]. Dazu gehören Menschen mit
Psychosen, die immer stärker als fremdartig wahrgenommen werden; Menschen mit
Suchtkrankheiten, denen man ihre Erkrankung häufig zum Vorwurf macht [10]; aber vermutlich auch Menschen, die anhaltende
Symptome einer schweren psychischen Krankheit zeigen, weil eine Behandlung nicht
gelingt, oder auch nicht gewünscht wird. Diese Menschen sind zwar im Rahmen von
Mental-Health-Awareness-Bemühungen oft mitgemeint, aber kaum repräsentiert. Es steht
zu befürchten, dass sie angesichts eines „normalisierenden“ Mental-Health-Diskurses
verstärkt als andersartig oder schuldhaft wahrgenommen werden. Tatsächlich haben
Kontinuitätsvorstellungen in Bezug auf die Depression in den letzten zehn Jahren
zugenommen, sind aber im gleichen Zeitraum in Bezug auf die Schizophrenie noch
geringer geworden [11].
Jenseits der Einstellungen der Öffentlichkeit verschärft diese Entwicklung zusätzlich
das „Inequality Paradox“: Eine erhöhte Vulnerabilität von benachteiligten Gruppen
mit weniger sozialen und finanziellen Ressourcen führt häufig dazu, dass diese von
Präventionsmaßnahmen kaum oder gar nicht profitieren und höhere Barrieren zu
Behandlungsangeboten haben [12]. Unter den
Annahmen einer relevanten Konzeptverschiebung zum gesünderen Pool besteht die große
Gefahr, dass diese Menschen nicht nur nicht weniger krank werden, sondern auch
zunehmend als „anders krank“ wahrgenommen und noch stärker diskriminiert werden.
Soziale Ungleichheit würde so direkt zu Entwicklungen einer kategoriellen
Ungleichheit beitragen – die soziale Schere darf hier keinesfalls zu einer
konzeptionellen Schere psychischer Krankheit werden. Angesichts der bereits
bestehenden Ungleichheit in der öffentlichen Berichterstattung [1] ist aber auch zu befürchten, dass diese Gruppe
noch weiter aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet, weil das Thema
„psychische Krankheit“ anders, nämlich „gesünder“ und „normaler“ besetzt ist. Da
unser psychiatrisch-psychotherapeutisches Hilfesystem mutmaßlich zumindest in Teilen
ohnehin zu einer bevorzugten Versorgung von ressourcenreichen Menschen mit gut
behandelbaren Symptomen neigt, wäre eine solche Entwicklung aus
sozialpsychiatrischer Sicht verstörend. Es ist die Aufgabe der Psychiatrie, sich mit
ihren Angeboten und Ressourcen immer wieder neu auf die Menschen zu fokussieren, die
am schwersten betroffen und am schwersten zu erreichen sind.