PiD - Psychotherapie im Dialog 2025; 26(02): 101
DOI: 10.1055/a-2342-2993
Lesenswert

Iris Wolff: Lichtungen

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Klett-Cotta, 11. Aufl., 2024, ISBN: 978–3–608–98770–6, 256 Seiten, 24 €

Dieser Roman erzählt die faszinierende Geschichte von Kato und Lev, die trotz aller zeitlichen und kontextuellen Veränderungen, trotz der Beziehungen zu anderen Partner*innen die Tiefe ihrer Liebe erleben, leben und ausbauen. Dabei nehmen sie uns Leser*innen mit auf eine Reise in die Vergangenheit der deutschsprachigen Minderheit in der post-Ceausescu-Ära Rumäniens, in der manchmal Zeiten verschwimmen oder Fantasie und Realität schwer zu trennen sind.

Die Reise geht rückwärts, die Figur des Protagonisten Lev entwickelt sich von Kapitel 9 bis Kapitel 1 in umgekehrter Reihenfolge und beantwortet im Lauf der Lektüre nach und nach die entstandenen offenen Fragen. Jedes Kapitel schildert eine Geschichte aus Levs jungem Leben, seiner vaterlosen Familie, dem schwierigen Verhältnis zu seinen Stiefbrüdern, seiner besonderen Beziehung zur Großmutter, seiner Naturverbundenheit und seiner Welt in Siebenbürgen und dem Banat. Als verbindendes Element tritt Kato in sein Leben – zu einem Zeitpunkt, als er – mit einer vermutlich psychogenen Gangstörung ans Bett gefesselt – eigentlich keinen Kontakt zu der Außenseiterin aufbauen möchte.

Über sie erfahren wir eher wenig, Vater wohl Alkoholiker, Mutter gestorben, war sie schon sehr früh auf sich allein gestellt. Die Beziehung zu ihr entwickelt sich zunehmend dicht, oftmals in einem unausgesprochenen Verständnis, ohne überflüssige Worte, basierend auf Vertrauen ohne Rückversicherungsfragen. Kato wird ohnehin als offene und starke Persönlichkeit beschrieben – unabhängig und doch bindungsfähig, eigen und doch kommunikativ. Sie wird die Stütze für Lev, der sich mehr und mehr aus seinem Angewiesensein auf andere befreit.

Die Autorin führt uns in eine neue und faszinierende Welt Rumäniens am Ende der 1980er-Jahre, wir lernen Mosaiksteine des Lebens in Bukowina oder in der Maramuresch kennen und werden Zeug*innen, wenn auf alten Fahrrädern die Grenze zwischen Gehen und Bleiben ausgelotet wird. Sie leben in einer „Welt an der Schwelle. Kato hatte es wahrgenommen, er nicht“. Noch nicht, möchte man hinzufügen.

Die von der Malerei kommende Autorin, selbst in jungen Jahren aus Siebenbürgen ausgewandert, nimmt uns mit in sprachmalerisch leichte und dennoch intensive Farben, manches wirkt schwebend und gleichzeitig bis ins Detail beobachtet, viele Stellen drängen sich auf, noch einmal gelesen werden zu wollen. Lev zeigt uns, ans Bett gefesselt, wie er die Welt anhand von Geräuschen inventarisieren kann, gleichzeitig aber auch, wie die Grenzen zwischen Außen- und Innenwahrnehmung fließend werden. Viele Entwicklungsprozesse im Erzählfluss machen neugierig auf ihre Entstehungsgeschichte und werden nach und nach im weiteren biografischen Rückentwickeln verständlicher.

Mit dieser gewählten Form der Erzählung leistet Wolff etwas sehr Psychotherapeutisches: Ausgehend von der Gegenwart nimmt sie eine schrittweise Betrachtung der Prozesse vor, die die Hauptfigur bis dahin biografisch begleitet haben, und schafft somit Verständnis für Entscheidungen und Verhalten in der Gegenwart. Bemerkenswert ist dabei, dass negative Emotionen in dem Buch keine Rolle spielen – egal ob es sich um Verletzungen, um Bestohlen-Werden oder um Erniedrigungen handelt. Die Geschichte folgt vielmehr einem großen Fluss von Gefühlen, die ihren Platz im Lebensfluss haben, mit der Zuversicht, dass Gehen und Loslassen immer ein sicheres Gebundensein zur Voraussetzung haben. Auch gibt uns die Kommunikation zwischen Kato und Lev die Chance, ihre Beziehung zu spüren und nicht nur im verbalen Ausdruck wahrzunehmen.

Andrea Dinger-Broda und Michael Broda, Bad Bergzabern



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Article published online:
20 May 2025

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