Schlüsselwörter
COVID-19 - immungeschwächt - Krankheitslast - Krankenhauskosten - Präexpositionsprophylaxe
Keywords
COVID-19 - immunocompromised - burden of disease - health care resource utilization
- pre-exposure prophylaxis
Einleitung
Seit Beginn der COVID-19-Pandemie wurden bis zum 20.01.2023 insgesamt über 37 Mio.
SARS-CoV-2-Infektionen in Deutschland gemeldet [1]. COVID-19-Erkrankungen führten im Jahr 2020 zu einem Anstieg der Sterbefallzahlen,
die im Vergleich zu 2019 2,3-fach höher lagen als erwartet [2]. Die Gesundheitsausgaben waren im Jahr 2020 rund 26,8 Mrd. € bzw. 6,5 % höher als
2019 [3]. Damit fiel der jährliche Anstieg der Gesundheitsausgaben um 22 % höher aus als
im Vorjahr. Die assoziierte Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems war ein
konstanter und zentraler Treiber in der politischen Diskussion um den Umgang mit der
Pandemie. Erst die Zulassung der ersten COVID-19-Impfstoffe ab Dezember 2020, die
die Wahrscheinlichkeit einer COVID-19-Erkrankung und eines schweren Verlaufs bis hin
zum Tod verringern können, konnte den Druck auf das deutsche Gesundheitssystem etwas
reduzieren [4]
[5].
Personen, die wegen bestimmter Grunderkrankungen oder Therapien ein geschwächtes Immunsystem
haben, sind dem Risiko ausgesetzt, nicht von aktiven Immunisierungen durch COVID-19-Impfstoffe
profitieren zu können. Diese Risikogruppe hat weiterhin keinen oder zumindest keinen
ausreichenden Schutz vor SARS-CoV-2-Infektionen, COVID-19 und schweren COVID-19-Verläufen.
Risikofaktoren für eine inadäquate Immunreaktion auf COVID-19-Impfungen umfassen insbesondere
Autoimmun-Erkrankungen unter immunsuppressiver Therapie, dialysepflichtige chronische
Nierenerkrankungen, Fibrosen und/oder Zirrhosen der Leber, HIV-Infektionen mit < 200
CD4 +-Zellen/µl, onkologische Erkrankungen unter Behandlung, Organtransplantation
sowie primäre und/oder sekundäre Immundefekte [6]
[7]
[8]
[9]
[10]
[11]
[12]. Studien aus Europa und den USA zeigen für diese Risikogruppe erhöhte COVID-19-assoziierte
Hospitalisierungs- und Mortalitätsraten im Vergleich zu Patienten ohne Risikofaktoren
[13]
[14]
[15]
[16]
[17]
[18]
[19]
[1].
Entsprechende Untersuchungen gibt es für Deutschland bisher nicht. Ziel dieser Studie
ist es daher, zum einen erstmals die Größe der Gruppe von gesetzlich Versicherten
mit einem erhöhten Risiko für eine inadäquate Immunreaktion auf COVID-19-Impfungen
zu quantifizieren. Zum anderen werden die Inzidenz von COVID-19, COVID-19-Krankheitsverläufen
und Mortalitätsraten mit COVID-19, sowie die Dauer und Kosten assoziierter Hospitalisierungen
innerhalb der Risikogruppe mit der Gruppe ohne Risiko verglichen.
Methoden
Die vorliegende retrospektive Kohortenstudie wird aus der Perspektive der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV) der Forschungsdatenbank des Wissenschaftlichen Instituts
für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung (WIG2) durchgeführt. Diese
enthält von mehr als 4 Mio. anonymisierten GKV-Versicherten demografische Daten sowie
longitudinale Abrechnungsdaten der stationären und ambulanten Versorgung sowie von
Arzneimitteln. Die Repräsentativität hinsichtlich Alter, Geschlecht und Morbidität
ist für die gesamte GKV-Population gegeben [20].
Der Beobachtungszeitraum der Studie erstreckt sich vom 01.01.2020 bis zum 31.12.2020.
Innerhalb dieses Zeitraums wurden alle Versicherten inkludiert, die mind. 12 Jahre
alt sind und eine vollständige Versichertenperiode aufwiesen. Diese Population wird
vorliegend in Versicherte mit erhöhtem Risiko, keine adäquate Immunreaktion bzw. keinen
adäquaten COVID-19-Impfschutz aufbauen zu können (Risikogruppe), und Versicherte,
die dieses Risiko nicht aufweisen (Gruppe ohne Risiko), aufgeteilt. Das Risiko einer
inadäquaten Immunreaktion auf COVID-19-Impfungen wurde mit mind. einem der in [Tab. 1] aufgeführten Risikofaktoren (Risiko-Subgruppen) im Beobachtungsjahr definiert. Die
Operationalisierungen der Risikofaktoren über die Abrechnungsdaten sind in Appendix
1 (s. „Online Supplemental Material“) dargestellt.
Tab. 1
Definition der Risikogruppe und der Gruppe ohne Risiko
Quelle: Kriterien auf Grundlage von [21] definiert.
|
Risikogruppe
|
Gruppe ohne Risiko
|
Einschluss- (✓) und Ausschlusskriterien (X)
|
|
|
≥ 12 Jahre
|
✓
|
✓
|
Vollständige Versichertenperiode (über den gesamten Beobachtungszeitraum bei der gleichen
Krankenkasse versichert oder mit mind. einem Versichertentag verstorben)
|
✓
|
✓
|
Mind. einer der folgenden Risikofaktoren
|
|
|
Autoimmun-Erkrankung unter immunsuppressiver Behandlung [6]
|
✓
|
X
|
Dialysepflichtige chronische Nierenerkrankung [7]
|
✓
|
X
|
Fibrose und/oder Zirrhose der Leber [8]
|
✓
|
X
|
HIV mit CD4 +-Zellen < 200/μl [9]
|
✓
|
X
|
Onkologische Erkrankungen unter Therapie [10]
|
✓
|
X
|
Organtransplantation [11]
|
✓
|
X
|
Primäre und/oder sekundäre Immundefekte [12]
|
✓
|
X
|
Studienpopulation
|
1823 978
|
64 052 034
|
Die ermittelten Versichertenzahlen der Risikogruppe bzw. Risiko-Subgruppen und der
Gruppe ohne Risiko werden auf die gesamte GKV-Population hochgerechnet. Dazu wird
die KM6-Statistik zur Berechnung der Grundgesamtheit in der GKV [22], standardisiert nach Alter und Geschlecht, analog zur Vorgehensweise in Dossiers
bei Verfahren der frühen Nutzenbewertung angewendet.
Unterschiede zwischen der Risikogruppe bzw. Risiko-Subgruppen im Vergleich zur Gruppe
ohne Risiko in Bezug auf eine COVID-19-Inzidenz (ambulante COVID-19-Diagnose und/oder
Hospitalisierung wegen COVID-19, s. Appendix 1, „Online Supplemental Material“), Hospitalisierungen
wegen COVID-19 sowie Hospitalisierungen wegen COVID-19 mit intensivmedizinischer Behandlung
und Mortalität von Patienten mit Hospitalisierung wegen COVID-19 werden durch relative
Risiken (RR) und zugehörige 95 %-Konfidenzintervalle (95 %-KI) untersucht. Erwartete
Hospitalisierungskosten-Unterschiede werden durch Multiplikation der Hospitalisierungsrate
(Mengenkomponente) mit den mittleren Hospitalisierungskosten (Kostenkomponente) betrachtet.
Unterschiede in der Dauer und den (erwarteten) Kosten der Hospitalisierungen werden
durch Längen- bzw. Kostenverhältnisse und den 95 %-KI der Mittelwerte untersucht.
Die Analysen wurden mit „Microsoft SQL Server Management Studio (17.4)“ und „R Version
4.2.0“ durchgeführt. Konfidenzintervalle wurden unter Verwendung der Bibliothek „epiR“
auf Grundlage invertierter Wald-Tests ermittelt.
Ergebnisse
Populationsgröße und Merkmale der Versicherten
Die Risikogruppe umfasst ca. 1,82 Mio. GKV-Versicherte. Die Gruppe ohne Risiko umfasst
etwa 64,05 Millionen. Der Anteil weiblicher Versicherter ist in beiden Gruppen etwa
gleich (53,30 % mit Risiko; 52,16 % ohne Risiko). Das Durchschnittsalter in der Risikogruppe
beträgt 60 ± 16,54 Jahre und liegt damit über dem der Gruppe ohne Risiko (48 ± 19,85).
Die meisten Versicherten in der Risikogruppe weisen exakt einen der definierten Risikofaktoren
(92,39 %) auf. Die häufigsten Risikofaktoren sind onkologische Erkrankungen unter
Therapie (41,27 %), Autoimmun-Erkrankungen unter immunsuppressiver Behandlung (22,19 %)
sowie Fibrosen und/oder Zirrhosen der Leber (18,37 %) ([Tab. 2]). Die Anzahl Versicherter mit HIV und CD4 +-Zellen < 200/μl beträgt weniger als
5, sodass die Ergebnisse dieser Risiko-Subgruppe aus datenschutzrechtlichen Gründen
nicht dargestellt werden können.
Tab. 2
Demografie der Risikogruppe sowie Verteilung der Risikofaktoren.
Merkmal
|
Anzahl
|
Anteil
|
GKV-Versicherte
|
1823 978
|
|
Weiblich
|
972 189
|
53,30 %
|
Durchschnittsalter
|
60,01
|
|
Standardabweichung Alter
|
16,54
|
|
Risiko-Subgruppen
|
|
|
Autoimmun-Erkrankung unter immunsupressiver Behandlung
|
404 745
|
22,19 %
|
Dialysepflichtige chronische Nierenerkrankung
|
122 014
|
6,69 %
|
Fibrose und/oder Zirrhose der Leber
|
335 135
|
18,37 %
|
Onkologische Erkrankungen unter Therapie
|
752 810
|
41,27 %
|
|
125 834
|
6,90 %
|
Organtransplantation
|
87 336
|
4,79 %
|
Primäre und/oder sekundäre Immundefekte
|
273 387
|
14,99 %
|
Versicherte mit exakt:
|
|
|
Einem Risikofaktor (1)
|
1685 210
|
92,39 %
|
2 Risikofaktoren
|
122 485
|
6,72 %
|
3 Risikofaktoren
|
14 792
|
0,81 %
|
Mehr als 3 Risikofaktoren
|
1490
|
0,08 %
|
COVID-19-Inzidenz
Versicherte der Risikogruppe haben ein um 21 % höheres Risiko, an COVID-19 zu erkranken,
als Versicherte ohne Risikofaktoren (1,96 % vs. 1,62 %; RR 1,21; 95 %-KI 1,20–1,23).
Für Versicherte mit einer dialysepflichtigen chronischen Nierenerkrankung ist dieses
Risiko mit einer mehr als 3-mal so hohen Inzidenz besonders ausgeprägt (5,48 % vs.
1,62 %; RR 3,39; 95 %-KI 3,31–3,48). Aber auch Versicherte mit Autoimmun-Erkrankung
unter immunsuppressiver Behandlung (2,02 %; RR 1,25; 95 %-KI 1,23–1,28) sowie mit
primären und/oder sekundären Immundefekten (2,24 %; RR 1,39; 95 %-KI 1,35–1,42) und
Organtransplantation (2,53 %; RR 1,57; 95 %-KI 1,50–1,63) zeigen im Vergleich zu der
Gruppe ohne Risiko ein überdurchschnittliches Risiko, an COVID-19 zu erkranken ([Tab. 3]).
Tab. 3
COVID-19-Inzidenz innerhalb der Risikogruppe, Risiko-Subgruppen und der Gruppe ohne
Risiko.
Merkmal
|
Anzahl
|
Anteil
|
RR[*]
|
95 %-KI[*]
|
Gruppe ohne Risiko
|
1035 152
|
1,62 %
|
–
|
–
|
Risikogruppe
|
35 740
|
1,96 %
|
1,21
|
1,20–1,23
|
Risiko-Subgruppen
|
|
|
|
|
Autoimmun-Erkrankung unter immunsuppressiver Behandlung
|
8196
|
2,02 %
|
1,25
|
1,23–1,28
|
Dialysepflichtige chronische Nierenerkrankung
|
6689
|
5,48 %
|
3,39
|
3,31–3,48
|
Fibrose und/oder Zirrhose der Leber
|
4840
|
1,44 %
|
0,89
|
0,87–0,92
|
Onkologische Erkrankungen unter Therapie
|
11 180
|
1,49 %
|
0,92
|
0,90–0,94
|
|
2248
|
1,79 %
|
1,11
|
1,06–1,15
|
Organtransplantation
|
2211
|
2,53 %
|
1,57
|
1,50–1,63
|
Primäre und/oder sekundäre Immundefekte
|
6136
|
2,24 %
|
1,39
|
1,35–1,42
|
* im Vergleich zur Gruppe ohne Risiko.
Hospitalisierungen von COVID-19-Erkrankten
Bei der Risikogruppe ist die Wahrscheinlichkeit eines Krankenhausaufenthalts wegen
COVID-19 mehr als 3-mal so hoch (33,26 % vs. 9,77 %; RR 3,40; 95 %-KI 3,33–3,48) als
bei der Gruppe ohne Risiko ([Tab. 4]). An COVID-19 erkrankte Versicherte mit hämatoonkologischen Erkrankungen unter Therapie
weisen die höchste Hospitalisierungsrate auf (56,76 %; RR 5,81; 95 %-KI 5,42–6,22).
Zudem haben COVID-19-Patienten mit dialysepflichtiger chronischer Nierenerkrankung,
onkologischen Erkrankungen unter Therapie, Leberfibrose und/oder -zirrhose oder nach
Organtransplantation gegenüber den restlichen Subgruppen ein überdurchschnittlich
hohes Hospitalisierungsrisiko aufgrund von COVID-19. Die Risikogruppe zeigt im Vergleich
zur Gruppe ohne Risiko ein um 36 % höheres Risiko für eine Hospitalisierung aufgrund
von COVID-19 mit intensivmedizinischer Behandlung (ICT) (24,83 % vs. 18,24 %; RR 1,36;
95 %-KI 1,30–1,42). Für Patienten mit hämatoonkologischen Erkrankungen unter Therapie,
dialysepflichtiger chronischer Nierenerkrankung, Fibrose und/oder Zirrhose der Leber
sowie nach Organtransplantation liegt das Risiko einer Hospitalisierung wegen COVID-19
mit ICT über dem Durchschnitt der Risikogruppe.
Tab. 4
Hospitalisierung wegen COVID-19 und intensivmedizinische Behandlung (ICT) der Versicherten
mit COVID-19.
Merkmal
|
Hospitalisierungen aufgrund von COVID-19
(bezogen auf Versicherte mit COVID-19)
|
Hospitalisierungen aufgrund von COVID-19 mit ICT
(bezogen auf hospitalisierte Versicherte mit COVID-19)
|
Anzahl
|
Anteil
|
RR[*]
|
95 %-KI[*]
|
Anzahl
|
Anteil
|
RR[*]
|
95 % KI[*]
|
Gruppe ohne Risiko
|
101 167
|
9,77 %
|
–
|
–
|
18 453
|
18,24 %
|
–
|
–
|
Risikogruppe
|
11 887
|
33,26 %
|
3,40
|
3,33–3,48
|
2952
|
24,83 %
|
1,36
|
1,30–1,42
|
Risiko-Subgruppen
|
|
|
Autoimmun-Erkrankung unter immunsuppressiver Behandlung
|
1422
|
17,35 %
|
1,78
|
1,68–1,88
|
229
|
16,10 %
|
0,88
|
0,77–1,02
|
Dialysepflichtige chronische Nierenerkrankung
|
3525
|
52,70 %
|
5,39
|
5,17–5,62
|
1102
|
31,26 %
|
1,71
|
1,60–1,84
|
Fibrose und/oder Zirrhose der Leber
|
1880
|
38,84 %
|
3,97
|
3,77–4,19
|
618
|
32,87 %
|
1,80
|
1,64–1,98
|
Onkologische Erkrankungen unter Therapie
|
4791
|
42,85 %
|
4,38
|
4,24–4,54
|
984
|
20,54 %
|
1,13
|
1,05–1,21
|
|
1276
|
56,76 %
|
5,81
|
5,42–6,22
|
496
|
38,87 %
|
2,13
|
1,92–2,37
|
Organtransplantation
|
860
|
38,90 %
|
3,98
|
3,68–4,31
|
287
|
33,37 %
|
1,83
|
1,60–2,09
|
Primäre und/oder sekundäre Immundefekte
|
985
|
16,05 %
|
1,64
|
1,54–1,76
|
144
|
14,62 %
|
0,80
|
0,67–0,96
|
* im Vergleich zur Gruppe ohne Risiko.
COVID-19-assoziierte Mortalität
Die Risikogruppe hat ein rund 5-fach höheres Mortalitätsrisiko als die Gruppe ohne
Risikofaktoren (11,70 % vs. 2,27 %; RR 5,14; 95 %-KI 4,97–5,33) ([Tab. 5]).
Tab. 5
COVID-19-assoziierte Mortalität bei Versicherten mit Hospitalisierung aufgrund von
COVID-19.
|
Verstorbene
|
Mortalität, bezogen auf Versicherte mit COVID-19
|
Mortalität, bezogen auf hospitalisierte Versicherte mit COVID-19
|
Anzahl
|
Anteil
|
RR[*]
|
95 %-KI[*]
|
Anteil
|
RR[*]
|
95 %-KI[*]
|
Gruppe ohne Risiko
|
23 533
|
2,27 %
|
|
|
23,26 %
|
|
|
Risikogruppe
|
4180
|
11,70 %
|
5,14
|
4,97–5,33
|
35,16 %
|
1,51
|
1,46–1,57
|
Risiko-Subgruppen
|
|
|
|
Autoimmun-Erkrankung unter immunsuppressiver Behandlung
|
342
|
4,17 %
|
1,84
|
1,65–2,05
|
24,05 %
|
1,03
|
0,92–1,16
|
Dialysepflichtige chronische Nierenerkrankung
|
1203
|
17,98 %
|
7,91
|
7,43–8,42
|
34,13 %
|
1,47
|
1,37–1,57
|
Fibrose und/oder Zirrhose der Leber
|
727
|
15,02 %
|
6,61
|
6,11–7,15
|
38,67 %
|
1,66
|
1,52–1,81
|
Onkologische Erkrankungen unter Therapie
|
1909
|
17,08 %
|
7,51
|
7,14–7,90
|
39,85 %
|
1,71
|
1,62–1,81
|
|
562
|
25,00 %
|
11,00
|
10,02–12,07
|
44,04 %
|
1,89
|
1,71–2,09
|
Organtransplantation
|
165
|
7,46 %
|
3,28
|
2,80–3,85
|
19,19 %
|
0,82
|
0,70–0,97
|
Primäre und/oder sekundäre Immundefekte
|
222
|
3,62 %
|
1,59
|
1,39–1,82
|
22,54 %
|
0,97
|
0,84–1,12
|
* im Vergleich zur Gruppe ohne Risiko.
Die höchsten Mortalitätsraten weisen COVID-19-Erkrankte mit einer hämatoonkologischen
Erkrankung unter Therapie (25,00 %; RR 11,00; 95 %-KI 10,02–12,07) auf. Darüber hinaus
liegt das Mortalitätsrisiko bei an COVID-19 erkrankten Versicherten mit onkologischen
Erkrankungen unter Therapie (17,08 %; RR 7,51; 95 %-KI 7,14–7,90), dialysepflichtigen
chronischen Nierenerkrankungen (17,98 %; RR 7,91; 95 %-KI 7,43–8,42) sowie Leberfibrose
und/oder -zirrhose (15,02 %; RR 6,61; 95 %-KI 6,11–7,15) über der Mortalitätsrate
der Risikogruppe insgesamt. Der Anteil der verstorbenen Patienten unter den aufgrund
von COVID-19 hospitalisierten Patienten fällt in der Risikogruppe um 51 % höher aus
als bei Patienten ohne Risikofaktoren (35,16 % vs. 23,26 %; RR 1,51; 95 %-KI 1,46–1,57).
Auch hier weisen Patienten mit hämatoonkologischen Erkrankungen das höchste relative
Risiko auf (44,04 % vs. 23,26 %; RR 1,89; 95 %-KI 1,71–2,09).
Dauer, Kosten und erwartete Kosten von COVID-19-assoziierten Hospitalisierungen
COVID-19-assoziierte Krankenhausaufenthalte von Patienten der Risikogruppe sind im
Durchschnitt rund 18 % länger (15,36 vs. 13,00 Tage; Verhältnis 1,18) und um 19 %
teurer (12 371 € vs. 10 410 €; Verhältnis 1,19) als diejenigen von hospitalisierten
COVID-19-Patienten ohne Risiko ([Tab. 6]). Patienten mit hämatoonkologischen Erkrankungen unter Therapie weisen im Durchschnitt
mit 18,94 Tagen die längste Dauer und mit 19 150 € die höchsten Kosten auf. Die erwarteten
Hospitalisierungskosten wegen COVID-19 unter Berücksichtigung des Hospitalisierungsrisikos
(Mengenkomponente) und der mittleren Hospitalisierungskosten wegen COVID-19 (Kostenkomponente)
sind in der Risikogruppe etwa 4-fach höher als in der Gruppe ohne Risiko (4115 € vs.
1017 €; Verhältnis 4,04).
Tab. 6
Durchschnittliche Dauer, Kosten und erwartete Kosten von Hospitalisierungen der Versicherten
wegen COVID-19.
|
Mittlere Dauer von Hospitalisierungen wegen COVID-19
|
Mittlere Kosten für Hospitalisierungen wegen COVID-19
|
Erwartete mittlere Kosten für Hospitalisierungen wegen COVID-19
|
Dauer (Tage)
|
Verhältnis[*]
|
95-%-KI
|
Kosten (Euro)
|
Verhältnis*
|
95 %-KI
|
Kosten (Euro)
|
Verhältnis*
|
95 %-KI
|
Gruppe ohne Risiko
|
13,00
|
–
|
–
|
10 410
|
|
|
1017
|
|
|
Risikogruppe
|
15,36
|
1,18
|
13,95–16,77
|
12 371
|
1,19
|
10 736,51–14 005,65
|
4115
|
4,04
|
4050,15–4179,01
|
Risiko-Subgruppen
|
|
|
|
Autoimmun-Erkrankung unter immunsuppressiver Behandlung
|
15,27
|
1,17
|
10,99–19,54
|
11 605
|
1,11
|
7180,42–16 030,21
|
2013
|
1,98
|
1947,83–2079,20
|
Dialysepflichtige chronische Nierenerkrankung
|
15,70
|
1,21
|
12,61–18,79
|
14 500
|
1,39
|
10 290,85–18 709,10
|
7641
|
7,51
|
7311,32–7917,21
|
Fibrose und/oder Zirrhose der Leber
|
18,17
|
1,40
|
14,14–22,20
|
13 571
|
1,30
|
10 045,77–17 097,06
|
5271
|
5,18
|
5092,21–5450,88
|
Onkologische Erkrankungen unter Therapie
|
15,35
|
1,18
|
13,46–17,24
|
11 534
|
1,11
|
9570,07–13 498,26
|
4943
|
4,86
|
4829,64–5055,91
|
|
18,94
|
1,46
|
14,80–23,09
|
19 150
|
1,84
|
13 586,44–24 714,14
|
10 870
|
10,68
|
10 380,53–11 359,48
|
Organtransplantation
|
15,89
|
1,22
|
10,37–21,42
|
14 061
|
1,35
|
9019,17–19 102,12
|
5469
|
5,38
|
5212,01–5726,17
|
Primäre und/oder sekundäre Immundefekte
|
14,66
|
1,13
|
10,62–18,69
|
14 938
|
1,43
|
8383,02–21 492,13
|
2398
|
2,36
|
2311,89–2483,91
|
* im Vergleich zur Gruppe ohne Risiko.
Diskussion
Die vorliegende Studie identifiziert für das Jahr 2020 ca. 1,82 Mio. GKV-Versicherte,
die ein erhöhtes Risiko für eine inadäquate Immunreaktion auf COVID-19-Impfungen aufweisen.
Versicherte der Risikogruppe haben ein um 21 % höheres Risiko, an COVID-19 zu erkranken,
als Versicherte ohne Risikofaktor. In der Risikogruppe ist die Wahrscheinlichkeit
eines Krankenhausaufenthalts wegen COVID-19 mehr als 3-mal so hoch und die Wahrscheinlichkeit,
während einer COVID-19-bedingten Hospitalisierung zu sterben, mehr als 5-mal so hoch
wie in der Gruppe ohne Risiko.
Insbesondere die Patienten mit hämatoonkologischen Erkrankungen, onkologischen Erkrankungen
und dialysepflichtigen chronischen Nierenerkrankungen weisen höhere Hospitalisierungs-
und Mortalitätsraten auf als die Gruppe ohne Risiko, wobei die Ergebnisse durch bisherige
Untersuchungen für diese Patienten unterstützt werden [14]
[17]
[18]
[19]. Die Ergebnisse zu allen Risikofaktoren korrespondieren hinsichtlich der Hospitalisierungsrate,
der Inanspruchnahme von ICT und der Anzahl der Todesfälle während einer Hospitalisierung
aufgrund von COVID-19 mit der internationalen Literatur [13]
[14]
[15]
[16]
[17]
[18]
[19]. Zum Teil sind bei bestimmten Risiko-Subgruppen in der vorliegenden Studie die Effekte
gegenüber der Literatur kleiner, wie bspw. die Mortalitätsrate bei Versicherten mit
onkologischen Erkrankungen unter Therapie bzw. die Inanspruchnahme von ICT und die
Mortalitätsrate bei hospitalisierten COVID-19-Erkrankten mit Organtransplantation
[17]
[18]. In der Gruppe von Versicherten mit primären und/oder sekundären Immundefekten zeigt
sich vorliegend eine Mortalitätsrate von 3,62 %, bezogen auf Versicherte mit COVID-19.
Eine Studie aus Großbritannien von März bis Juli 2020 zeigt für 60 betrachtete Patienten
mit primären Immundefekten eine Mortalitätsrate von 20,00 % bzw. 33,33 % von 33 Patienten
mit sekundären Immundefekten. Ebenfalls werden höhere Hospitalisierungsraten für primäre
(53,33 %; 32 von 60) bzw. sekundäre Immundefekte (75,75 %; 25 von 33) gegenüber 16,05 %
in vorliegender Studie für die gepoolte Gruppe aus Patienten mit primären und/oder
sekundären Immundefekten berichtet [19].
Während die Risikogruppe ein deutlich höheres Mortalitätsrisiko als die Gruppe ohne
Risikofaktoren aufweist, ist das Mortalitätsrisiko unter den aufgrund von COVID-19
hospitalisierten Patienten in der Gruppe der Patienten mit Organtransplantation geringer
als in der Vergleichsgruppe (RR 0,82; 95 %-KI 0,70–0,97). Auch wenn die obere Grenze
des 95 %-Konfidenzintervalls nahe an 1 liegt, ist der scheinbar protektive Effekt
nicht erklärbar. In der Literatur wurde die Mortalität von mit COVID-19 hospitalisierten
Empfängern von Organtransplantaten betrachtet und bspw. eine im Verlauf des Jahres
2020 sinkende Mortalität beobachtet. Gründe für diese Entwicklung konnten, wie in
vorliegender Studie, nicht aufgezeigt werden [23].
Die mittleren Kosten durch Hospitalisierungen wegen COVID-19 betrugen im Jahr 2020
in der Gruppe ohne Risiko 10 410 € je hospitalisiertem Versicherten. Dies entspricht
einer Auswertung der Daten von Versicherten der AOK, die jedoch nicht zwischen Risikogruppe
bzw. Gruppe ohne Risiko differenziert hat (auf Anfrage der Welt am Sonntag, siehe bspw. [24]). Im Ergebnis quantifiziert die vorliegende Studie erstmals die erhöhte ökonomische
Last, die mit der erhöhten Inanspruchnahme des stationären Sektors durch Versicherte
mit Risikofaktor für eine inadäquate Immunreaktion auf eine COVID-19-Impfung verbunden
ist.
So lagen in der Risikogruppe im Jahr 2020 die mittleren Kosten durch Hospitalisierungen
je hospitalisiertem Versicherten um knapp 2000 € bzw. 19 % höher als in der Gruppe
ohne Risiko. Die mittlere Hospitalisierungsdauer je hospitalisiertem Versicherten
ist um etwa 2,36 Tage bzw. 18 % höher als bei Versicherten ohne Risikofaktor. Die
höchsten mittleren Kosten wurden mit 19 150 € von den Patienten mit hämatoonkologischer
Erkrankung unter Therapie verursacht, wobei die durchschnittliche Dauer der Hospitalisierung
knapp 19 Tage betrug. Die im Mittel zu erwartenden Kosten aufgrund von Hospitalisierung
der Risikogruppe sind 4-mal so hoch wie bei Versicherten ohne Risikofaktor. Dies verdeutlicht
die Belastung der Ressourcen im stationären Sektor durch die Risikogruppe. Die bisher
diskutierten Studien quantifizierten keine Kosten für die Behandlung der Risikogruppe,
zeigen aber zumindest ähnliche Effekte bei der Mengenkomponente, d. h. höhere Hospitalisierungsraten
sowie eine höhere Inanspruchnahme von ICT.
Seit Ende 2020 sind Impfstoffe gegen COVID-19 verfügbar und aktuell sind bereits 76,4 %
der deutschen Bevölkerung durch eine 2-fache Impfung gegen COVID-19 grundimmunisiert
[25]. Die in der Studie erfassten 1,82 Mio. Versicherten zeigen potenziell eine inadäquate
Immunantwort auf COVID-19-Impfungen. Zur Ermittlung der Anzahl der Versicherten, die
tatsächlich von einer solchen betroffen wären, können näherungsweise die Serokonversionsraten
nach 3 COVID-19-Impfungen herangezogen werden. Basierend auf der aktuell verfügbaren
Datenlage könnte es in Deutschland schätzungsweise 240 000 Versicherte geben, die
nach 3 COVID-19-Impfungen keine humorale Immunantwort entwickeln (Appendix 2, s. „Online
Supplemental Material“). Für diese Risikopatienten gibt es mittlerweile zugelassene
Arzneimittel zur Präexpositionsprophylaxe gegen COVID-19, die potenziell Schutz vor
schweren COVID-19-Verläufen bieten. Ihre Wirksamkeit muss jedoch vor dem Hintergrund
neuer Virusvarianten (VOCs, variants of concern) fortlaufend evaluiert werden. Im
deutschen Gesundheitssystem sind Präexpositionsprophylaxen (mit Ausnahme von HIV)
nicht regelhaft erstattungsfähig. Mit der Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung
und auf Präexpositionsprophylaxe gegen COVID-19 (§ 2 COVID-19-Vorsorgeverordnung)
ist mittlerweile seit dem 8. April 2023 eine langfristige Erstattung der Präexpositionsprophylaxe
für bestimmte Patientengruppen geregelt.
Limitationen
Routinedaten der GKV können in Einzelfällen fehlende oder fehlerhafte Kodierungen
aufweisen [26]. Ferner ist die Dunkelziffer nicht erfasster SARS-CoV-2-Infektionen bzw. COVID-19-Erkrankungen
nicht bekannt. So ist vorstellbar, dass insbesondere Patienten mit asymptomatischen
COVID-19-Erkrankungen nicht aufgegriffen wurden, da diese möglicherweise zu Beginn
der Pandemie nicht getestet wurden. Dies könnte ebenfalls Patienten betreffen, die
kurz nach der Krankenhausaufnahme verstarben und nicht mehr getestet wurden – aufgrund
fehlender Symptome. So nutzte bspw. eine Studie aus der Schweiz eine Autopsiekohorte
und konnte zeigen, dass eine hohe Dunkelziffer von COVID-19-Fällen bestand, aber auch
deutlich mehr COVID-19 bedingte Todesfälle als gemeldet auftraten [27]. Die COVID-19-Inzidenzen in dieser Studie können daher auch unterschätzt sein; gleichfalls
könnte der Anteil schwerer Erkrankungsverläufe überschätzt sein. Weitere Limitationen
ergeben sich durch die Eingrenzung des Beobachtungszeitraums der Studie auf das Jahr
2020. Es wurde eine ungeimpfte Population untersucht, weshalb ein möglicher Einfluss
von COVID-19-Impfungen auf die betrachteten klinischen Verläufe und Hospitalisierungskosten
nicht berücksichtigt werden konnte. Des Weiteren dominierte 2020 der Wildtyp von SARS-CoV-2
in Deutschland, während es heute neue Virusvarianten gibt [28]
[29].
Fazit und Ausblick
In Deutschland gibt es etwa 1,82 Millionen gesetzlich Versicherte mit erhöhtem Risiko
für eine inadäquate Immunantwort auf COVID-19-Impfungen, unter denen schätzungsweise
240 000 Versicherte nach 3 COVID-19-Impfungen keine humorale Immunantwort bildeten.
Risikopatienten mit COVID-19 zeigen in der Gesamtschau sowohl häufiger schwere COVID-19-Verläufe
als auch höhere Kosten, erwartete Kosten und längere Dauern für Hospitalisierungen
im Vergleich zu COVID-19-Patienten ohne dieses Risiko. Dies zeigt ihre Vulnerabilität
und zusätzliche Belastung für das deutsche Gesundheitssystem. Seit November 2021 gibt
es zur COVID-19-Präexpositionsprophylaxe zugelassene SARS-CoV-2-spezifische Arzneimittel,
die diesen vulnerablen Risikopatienten potenziell Schutz vor schweren COVID-19-Verläufen
bieten können; ein Anspruch auf Versorgung mit derartigen Arzneimitteln ist seit April
2023 über die COVID-19-Vorsorgeverordnung für bestimmte Gruppen geregelt. Weiterführende
Studien mit Abrechnungsdaten aus den Jahren nach 2020 sind notwendig, um den Einfluss
verschiedener SARS-CoV-2-Varianten, aktiven und passiven Immunisierungen sowie spezifischer
COVID-19-Therapien auf den medizinischen und ökonomischen Bedarf der Risikogruppe
zu bewerten.
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Im Jahr 2020 gab es in Deutschland ca. 1,82 Mio. gesetzlich Versicherte mit erhöhtem
Risiko für eine inadäquate Immunantwort auf COVID-19-Impfungen (Risikogruppe), von
denen schätzungsweise 240 000 Versicherte keine humorale Immunantwort nach 3 COVID-19-Impfungen
entwickelten.
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Die Risikogruppe zeigt im Vergleich zur Gruppe ohne Risiko höhere Anteile mit COVID-19
(Relatives Risiko [RR] 1,21), Hospitalisierungen wegen COVID-19 (RR 3,40), Hospitalisierungen
wegen COVID-19 mit intensivmedizinischer Behandlung (RR 1,36) und Mortalität (RR 5,14).
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In der Risikogruppe sind Hospitalisierungen durchschnittlich 18 % länger (15,36 Tage
vs. 13,00 Tage) und 19 % teuer (12 371 € vs. 10 410 €) und die erwarteten Hospitalisierungskosten
betragen das 4-Fache der Gruppe ohne Risiko (4115 € vs. 1017 €).
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Diese Studie zeigt die Vulnerabilität der Risikogruppe, insbesondere der hämatoonkologischen
Patienten, gegenüber COVID-19, wodurch sich ein Bedarf an weiteren Schutzmöglichkeiten
für diese Patienten ergibt.
Finanzielle Unterstützung
Finanzielle Unterstützung
Sponsor dieser Studie ist die AstraZeneca GmbH Deutschland.