Einleitung
Die ICD, das internationale Klassifikationssystem für Krankheiten und verwandte Gesundheitsprobleme,
findet weltweit Anwendung in der Versorgungspraxis. Sowohl körperliche als auch psychische
Erkrankungen können mit ihr verschlüsselt und kommuniziert werden. Die 11. und neueste
Revision des Klassifikationssystems, die ICD-11, trat im Januar 2022 offiziell in
Kraft [1], [2] und kann ab jetzt fakultativ für die WHO-Todesfallstatistiken verwendet werden.
In Forschung und Praxis wird weiterhin die 1990 verabschiedete Vorgängerversion ICD-10
verwendet [3]. Nach einer flexiblen Übergangszeit von mindestens 5 Jahren soll die ICD-11 für
Todesfallstatistiken verbindlich sein [1], [2]. Eine verbindliche Umstellung für die klinische Praxis soll zu einem späteren, noch
nicht definierten Zeitpunkt erfolgen. Doch da die ICD-11 grundlegende Änderungen auf
dem neuesten Stand der Wissenschaft enthält und schon jetzt in der Ausbildung verwendet
wird, sollten alle relevanten Disziplinen mit ihr vertraut sein. Psychische Störungen
– zurzeit im Kapitel V(F) in der ICD-10 gelistet – finden sich in der ICD-11 als Kapitel
„06 Psychische Störungen, Verhaltensstörungen oder neuronale Entwicklungsstörungen“.
Einige Störungen oder Zustände wurden in andere Kapitel der ICD-11 verlagert.
Die in der ICD-11 in 23 Kategorien unterteilten Störungsbilder des Kapitels 06 entsprechen
weitestgehend den 22 Störungskategorien des 2013 eingeführten DSM-5. Im Vergleich
zur ICD-10 ergeben sich damit bedeutsame Veränderungen, sowohl hinsichtlich der Diagnostik
als auch daraus resultierend für die Behandlung psychischer Erkrankungen. Struktur
und Aufbau der ICD werden im Beitrag von Husemann, Wiegand und Hölzel in diesem Heft
erörtert [4]. Auf der Ebene der Störungsbilder gibt es zahlreiche Anpassungen. Im vorliegenden
Artikel werden die wichtigsten Veränderungen im Überblick für alle unter Kapitel 06
einsortierten Störungen im Text vorgestellt, für eine Zusammenfassung siehe [
Abb. 1
] und [
Tab. 1
], für umfassende Erläuterungen vgl. Hölzel und Berger [5]. Die ICD-11 ist als Online-Tool konzipiert. Nähere Informationen zu den Veränderungen
der Diagnosekriterien einzelner Störungsbilder können den ICD-11 CDDG (Clinical Descriptions
and Diagnostic Guidelines) entnommen werden, welche sich teilweise auf der englischen
Homepage der ICD-11 befinden [6]. Eine vorläufige deutsche Übersetzung der ICD-11 findet sich auf der Homepage des
BfARM (Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte) [7].
Abb. 1 Mapping zwischen ICD-11- und ICD-10-Kategorien. Die linke Seite zeigt die 23 Kategorien
des Kapitel 06 der ICD-11 in der dort gelisteten Reihenfolge sowie 2 weitere Kapitel
(Kap. 07 und 17), die Störungsbilder beinhalten, die in den 10 Kategorien der ICD-10
noch als psychische Störungen eingestuft wurden. Vor den 23 Kategorien stehen die
ICD-11-Codes, weitere Differenzierungen des Codes innerhalb der Kategorie werden durch
Sternchen (*) verdeutlicht. Rechts sind die entsprechenden F-Kategorien der ICD-10
gegenübergestellt. Der Übersichtlichkeit halber sind die Änderungen aus F5 zum Teil
nur in den Boxen und nicht durch Pfeile angezeigt. Blau markierte ICD-11-Kategorien
beinhalten die in der ICD-10 als F9 kodierten Störungsbilder mit Beginn in Kindheit
und Jugend. In Orange wird die genaue Zuordnung der Störungen durch Substanzen verdeutlicht,
in der ICD-11 sind Substanz- und Verhaltenssüchte eine gemeinsame Kategorie, aber
mit unterschiedlicher dritter Stelle im Code. 1: Diagnose der Trichotillomanie, in der ICD-10 unter F63 abnorme Gewohnheiten und
Störungen der Impulskontrolle zu finden, wurde in der ICD-11 den Zwangs- und verwandten
Störungen zu gewiesen und nicht den Impulskontrollstörungen (nach Daten aus [2], [3])
Tab. 1
Änderungen in Störungsbildern in der ICD-11. Störungsbilder, die im Vergleich zur
ICD-10 als psychische Störungen neu hinzugekommen sind (links) bzw. nicht mehr als
psychische Störungen kodiert werden (rechts). Weitere Differenzierungen der aufgeführten
ICD-11-Codes innerhalb der jeweiligen Störungskategorie werden durch Sternchen (*)
verdeutlicht. Beachte: GA34.41 ist zwar neu, aber keine psychische, sondern eine „urogenitale“
Störung.
|
Hinzukommende psychische Störungen in der ICD-11
(neu als „psychische“ Störungen kodierbar)
|
Wegfallende psychische Störungen in der ICD-11
(nicht mehr als „psychische“ Störungen kodierbar)
|
-
Katatonie (6A4*)
-
Bipolar-Typ-II-Störung (6A61)
-
Körperdysmorphe Störung (6B21)
-
Eigengeruchswahn (6B22)
-
Pathologisches Horten (6B24; vulgo „Messie-Syndrom”)
-
Exkoriationsstörung (6B25.1; Skin-Picking-Disorder)
-
Komplexe PTBS (6B41)
-
Anhaltende Trauerstörung (6B42)
-
Binge-Eating-Störung (6B82)
-
Vermeidend-restriktive Ernährungsstörung (6B83)
-
Körper-Integritäts-Identitätsstörung (6C21)
-
Computer-Spielsucht (6C51; Gaming Disorder)
-
Störung mit zwanghaftem Sexualverhalten (6C72) (vulgo „Sex-Sucht”; Compulsive Sexual
Behavior Disorder)
-
Intermittierende explosive Störung (6C73)
-
(Prämenstruelle dysphorische Störung (GA34.41); neu, aber in Kapitel 16 „Krankheiten
des Urogenitalsystems“)
|
-
Nicht organische Schlafstörungen (7 A*) früher F51, jetzt in Kapitel 07 „Schlaf- und Wachstörungen“
-
Sexuelle Dysfunktionen (HA0*) und Schmerzstörungen (HA2*) früher F52, jetzt in dem neuen Kapitel 17 „Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit“
-
Geschlechtsinkongruenz (HA6*) früher F64 (Störung der Geschlechtsidentität), jetzt in Kapitel 17 als H60* bei Erwachsenen
und Jugendlichen; als H61* bei Kindern
-
Akute Belastungsreaktion (QE84) früher F43.0, jetzt in Kapitel 24 „Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen
oder zur Inanspruchnahme des Gesundheitssystems führen“ unter „Problematik in Verbindung
mit schädlichen oder traumatischen Ereignissen“
-
Tic-Störungen
(8A05) früher F95, jetzt in Kapitel 08 „Krankheiten des Nervensystems“
|
Darüber hinaus ergeben sich strukturelle Änderungen in der Zuordnung von Störungsbildern,
insbesondere für F4 und F5. Die Klassifikation der aus F4 stammenden, recht heterogenen,
dort „neurotisch“ genannten Störungen, orientiert sich nun an der Symptomatik oder
Ätiologie der jeweiligen Störungen unter den neu aufgestellten Kategorien Angst und
furchtbezogene Störungen, Zwangsstörungen oder verwandte Störungen, spezifisch stressassoziierte
Störungen, dissoziative Störungen und Störungen der körperlichen Belastung oder des
Erlebens [6], [7] ([
Abb. 1
]). Die Essstörungen (F50) wurden der neuen Kategorie der „Fütter- und Essstörungen“
zugewiesen. Die „nicht organischen Schlafstörungen“ (F51) finden sich in einem eigenen
ICD-11-Kapitel (07), den „Schlaf-Wach-Störungen“, gemeinsam mit den organischen Schlafstörungen.
Ebenso wurden die „nicht organischen sexuellen Dysfunktionen“ (früher F52) dem neu
geschaffenen Kapitel „17 Zustände mit Bezug zur sexuellen Gesundheit“ zugewiesen,
in dem sich auch die „organischen sexuellen Dysfunktionen“ befinden. Damit soll die
strikte Trennung von „organischen“ und „nicht organischen“ Störungen in diesen Bereichen
überwunden werden [8]. Ebenfalls in Kapitel 17 findet sich die frühere Störung der „Geschlechtsidentität“
(ICD-10: F64) jetzt als „Zustand der Geschlechtsinkongruenz“ (HA60 bei Erwachsenen
und Jugendlichen bzw. HA61 bei Kindern), d. h. sie wird nicht mehr als psychische
Störung klassifiziert.
Im Folgenden werden die Störungskategorien des Kapitels 06 der ICD-11 in der Reihenfolge
ihrer Codes dargestellt [5], [8], [9], sowie die Internetquellen zur ICD-11 auf Englisch [6] und Deutsch [7]. Aufgeführte Sternchen (*) in den Codes verdeutlichen weitere, zumeist notwendige
Differenzierungen innerhalb der Kategorie. Eine Übersicht aller neuen und wegfallenden
Diagnosen bzw. Verschiebungen in andere Kapitel findet sich in [
Tab. 1
].
6A0* „Neuronale Entwicklungsstörungen“
6A0* „Neuronale Entwicklungsstörungen“
Die neu entstandene Kategorie umfasst größtenteils die in der ICD-10 den Kategorien
F7, F8 und F9 zugeordneten Störungsbilder, d. h. den „Intelligenzminderungen“ (6A00),
den Entwicklungsstörungen in den Bereichen Sprechen und Sprache (6A01), Lernentwicklung
(6A03) und motorischer Koordination (6A04). Einige Störungsbilder aus F9 wurden Störungskategorien
mit ähnlicher Ätiologie, Pathophysiologie und Phänomenologie zugeordnet bzw. neue
Kategorien gebildet wie z. B. die Ausscheidungsstörungen 6C0*. Die „Tic-Störungen“
(ICD-10: F95) wurden dem ICD-11 Kapitel „08 Krankheiten des Nervensystems“ zugewiesen
([
Tab. 1
]), es gibt aber noch die (leichtere) stereotype Bewegungsstörung (6A06).
Unter den neuronalen Entwicklungsstörungen stellt die neue Diagnose der „Autismus-Spektrum-Störung“
(AA02) eine Besonderheit dar. Auf eine diagnostische Unterscheidung von „frühkindlichem
Autismus“, „atypischem Autismus“ und „Asperger“ wurde wie in der DSM-5 verzichtet.
Stattdessen lässt sich in der ICD-11 mit der ersten Stelle hinter dem Punkt verschlüsseln,
ob eine Störung der Intelligenzminderung vorliegt und inwieweit die funktionelle Sprache
beeinträchtigt ist. Beispiel: Der Code 6A02.0 entspricht einer „Autismus-Spektrum-Störung
ohne Störung der Intelligenzminderung, mit leichtgradiger oder keiner Beeinträchtigung
der funktionellen Sprache“. Der Code 6A02.3 dagegen verschlüsselt eine Autismus-Spektrum-Störung
mit Intelligenzminderung und mit Beeinträchtigung der funktionellen Sprache. Ausgehend
von der Diagnosebeschreibung wird der Fokus nun stärker auf die Möglichkeit von Kompensationsleistungen
gelegt. So können sich Symptome auch erst im späteren Kindesalter oder Erwachsenenalter
vollständig manifestieren, wenn die erweiterten Anforderungen an Betroffene ihre Fähigkeiten
überstiegen.
Ebenfalls gibt es in der ICD-11 nun die Möglichkeit, die Diagnose der „Autismus-Spektrum-Störung“
gemeinsam mit der Diagnose eines ADHS (6A05) zu vergeben, wenn die entsprechenden
Kriterien erfüllt sind.
6A2* „Schizophrenie, andere primär psychotische Störungen“
6A2* „Schizophrenie, andere primär psychotische Störungen“
„Primäre“ psychotische Störungen werden von „sekundären“ (früher: organische) abgegrenzt,
letztere werden durch den Code 6E61 klassifiziert. Bei der Kodierung der „primären“
Schizophrenie (6A20) wurde gänzlich auf die Vergabe von Subtypen (wie paranoid, hebephren,
etc.) verzichtet. Dies wird u. a. durch den eingeschränkten Nutzen dieser Subtypen
für die Behandlungsauswahl begründet [8]. Stattdessen gibt es die Möglichkeit, die klinische Ausprägung durch Vergabe weiterer
mehrstelliger Codes, den „Specifiern“ (6A25.*) näher zu beschreiben, etwa das Vorliegen
von Positivsymptomen, Negativsymptomen, depressiven, manischen, psychomotorischen
oder kognitiven Symptomen. Weiterhin kann im Hauptcode der Verlauf (erste Episode,
mehrfache Episoden, kontinuierlich, aktuell symptomatisch, teil- oder vollremittiert)
genauer bezeichnet werden. Beispiel: Ein Patient erhält den Code 6A20.00/6A25.2. Dieser
ist folgendermaßen zu lesen: Der Hauptcode 6A20.00 bedeutet Schizophrenie, erste Episode,
gegenwärtig symptomatisch. Der Specifier 6A25.2 bedeutet depressive Symptome bei primär
psychotischer Störung. Diese Form der näheren klinischen Charakterisierung ist auch
für die anderen primär psychotischen Störungen möglich: „schizoaffektive Störung“
(6A21), „schizotype Störung“ (6A22), „akute vorübergehende psychotische Störung“ (6A23)
und die „wahnhafte Störung“ (6A24). Die Vergabe der Codes dient also der Erfassung
des aktuellen Zustandes im Sinne einer Momentaufnahme der Betroffenen. Als Neuerung
für die Diagnosevergabe einer „schizoaffektiven Störung“ (6A21) erfordert diese nun
das Vorliegen aller diagnostischen Voraussetzungen einer Schizophrenie sowie einer
manischen, gemischten oder mindestens mittelschwer ausgeprägten depressiven Episode
über mindestens einen Monat Dauer (ICD-10: 2 Wochen). Für weitere Details vgl. Gaebel
[10].
6A4* „Katatonie“
„Katatonie“, gekennzeichnet durch Symptome veränderter psychomotorischer Aktivität,
ist in der ICD-11 nunmehr als eigenständige Diagnose enthalten. Sie kann mit dem Zusatz
in Verbindung mit einer anderen psychischen Störung (6A40) oder durch Substanzen oder
Medikamente (6A41) vergeben werden. In Verbindung mit dem Vorliegen einer psychischen
Erkrankung kann neben einer Schizophrenie z. B. eine Diagnose aus dem Bereich der
affektiven Störungen, neuronalen Entwicklungsstörungen etc. vergeben werden.
6A6* bis 6A8*„Affektive Störungen“
6A6* bis 6A8*„Affektive Störungen“
Hier ist eine wesentliche Neuerung, dass für die Vergabe einer „bipolaren Störung“
(6A6*) das Auftreten einer einzelnen manischen oder gemischten Episode ausreichend
ist. Dadurch verschwindet die Diagnose der Manie als eigenständige diagnostische Kategorie.
Die „Bipolare Störung Typ I“ (6A60) kann bei Auftreten einer oder mehrerer manischer
Episoden mit mindestens einer Woche Dauer, beziehungsweise mindestens einer gemischten
Episode von 2 Wochen Dauer, vergeben werden. Neu ist, dass für die Diagnose einer
manischen Episode neben euphorischer, gereizter oder expansiver Stimmung die erhöhte
Energie als zweites Hauptkriterium vorliegen muss, d. h. die Diagnose wird strenger.
Neu gegenüber der ICD-10 (nicht aber dem DSM-5) enthält die ICD-11 die „Bipolare Störung
Typ II“ (6A61). Sie erfordert neben dem Auftreten mindestens einer hypomanischen Episode
über „einige Tage“ und nicht notwendigerweise 4 wie in der ICD-10 auch das Vorliegen
einer depressiven Episode. Eine manische Episode kann nach ICD-11 auch dann als solche
diagnostiziert werden, wenn sie durch eine vorangegangene Therapie mit ausgelöst wurde,
aber nach dem akuten Medikamenteneffekt anhält. (Eine durch Antidepressiva ausgelöste
Manie wurde durch Akiskal und Pinto in ihrer Charakterisierung des biopolaren Spektrums
als „Bipolar Typ III“ bezeichnet [11].) Erweiterungen der Kodierung hinter dem Punkt geben Auskunft über Schwergrade und
weitere Symptomspezifikationen. Beispiel: 6A60.5 entspricht einer „Bipolaren Störung
Typ I, gegenwärtig depressive Episode, mittelgradig, mit psychotischen Symptomen“.
„Depressive Störungen“ sind unter (6A7*) kodiert. Für die Depression finden sich bedeutsame
Veränderungen hinsichtlich der Diagnosekriterien. Es gibt keine Unterscheidung mehr
von Haupt- und Zusatzkriterien [12]. Die Diagnose einer depressiven Episode erfordert das Vorliegen von entweder einer
gedrückten Stimmung oder von Anhedonie (Verlust von Interesse oder Freude) sowie das
Vorliegen mehrerer anderer Symptome mit einer deutlichen Funktionsbeeinträchtigung.
Es gibt 10 Symptomgruppen (DSM-5: 9 [13]), die in 3 Cluster eingeteilt werden: affektives, kognitives und neurovegetatives
Cluster [12]. Das in der ICD-11 angeführte Symptom „Hoffnungslosigkeit“ (im ICD-10: pessimistische
Zukunftsgedanken), ist interessanterweise der beste Single-Symptom-Prädiktor für das
Vorliegen einer Depression [14], [15] und wurde deshalb als 10. Symptom in die ICD-11 aufgenommen, während es im DSM-5
als Symptom der depressiven Stimmung gilt [13]. Für den Schweregrad werden Symptome nicht mehr formal gezählt, sondern Anzahl und
Schwere der Symptome zusammen mit der resultierenden Funktionsbeeinträchtigung berücksichtigt.
So können sowohl einige schwere Symptome, aber auch viele leichtgradige Symptome zur
gleichen Beurteilung des Schweregrads führen. Bei einer leichten depressiven Episode
dürfen jedoch keine psychotischen Symptome vorliegen [12].
Mit Hilfe von „Specifiern“ 6A80.* gibt es die Möglichkeit, zusätzlich zur affektiven
Stammdiagnose „Depression“ oder „Bipolare Störung“ weitere klinische Erscheinungsformen
zu kodieren. Im Einzelnen sind dies: „mit ausgeprägten Angstsymptomen“ (6A80.0); „mit
Panikattacken“ (6A80.1); „mit anhaltender Symptomatik“, d. h. mind. 2 Jahre (damit
besteht im Gegensatz zur ICD-10 die Möglichkeit auch chronische Depression, die über
eine Dysthymie hinausgeht zu kodieren; 6A80.2); „mit Melancholie“ (6A80.3, also das,
was früher als „somatisches Syndrom“ bekannt war); „mit saisonalem Beginn“ (6A80.4)
und „mit rapid cycling“ (6A80.5). Beispiel: 6A60.5/6A80.5 bedeutet dann „Bipolare
Störung Typ I, gegenwärtig depressive Episode, mittelgradig, mit psychotischen Symptomen
mit dem Specifier „rapid cycling“„. Für weitere Details vgl. Volz und Köhler [16].
6B0* „Angst- und furchtbezogene Störungen“
6B0* „Angst- und furchtbezogene Störungen“
In dieser Kategorie finden sich jetzt, dem Titel gemäß, der den Begriff „neurotisch“
nicht mehr enthält, nur noch Störungen, die primär durch Angst oder Furcht charakterisiert
sind [17]. Es gibt keine Trennung in „Phobien“ (F40) und „andere Angststörungen“ (F41), es
gibt keine hierarchischen Diagnoseregeln mehr und es ist immer eine signifikante funktionelle
Beeinträchtigung zur Diagnosestellung notwendig. Für die „generalisierte Angststörung“
(6B00) wurde neben einer allgemeinen Besorgnis hinsichtlich alltäglicher Ereignisse
im Sinne einer frei flottierenden Angst das alternative Kriterium der übermäßigen
Besorgnis hinsichtlich Ereignissen in Familie, Gesundheit, Finanzen, Schule oder Beruf
eingeführt. Für die Diagnose einer „Panikstörung“ (6B01) ist nunmehr die Furcht vor
der Panikattacke selbst diagnostisch relevant. Für das nun von der Panikstörung auch
unabhängig diagnostizierbare Störungsbild der „Agoraphobie“ (6B02) wurde der Fokus
stärker auf die Kernsymptomatik gerichtet, also die Angst und Vermeidung von Situationen,
in denen eine Flucht schwierig sein könnte, oder keine Hilfe verfügbar ist. Es werden
dafür mehr als nur 4 spezifische, exemplarische Situationen (wie in der ICD-10) angeführt.
Die Störungskategorie enthält neben den „spezifischen Phobien“ (6BB03) und der „sozialen
Phobie“ (6B04) nunmehr auch die zuvor dem Kindes- und Jugendalter zugeordneten Angststörungen
aus F9, die „Trennungsangst“ (6B05), eine Diagnose, die ab jetzt auch für Erwachsene
vergeben werden kann, sowie den „selektiven Mutismus“ (6B06).
6B2* „Zwangsstörung und verwandte Störungen“
6B2* „Zwangsstörung und verwandte Störungen“
Hier finden sich neben bekannten eine Reihe neuer Krankheitsbilder [18]. Eine diagnostische Neuerung für die „Zwangsstörung (6B20) und verwandte Störungen“
ist, dass eine Krankheitseinsicht und damit eine Ich-Dystonie nicht mehr zwingend
vorhanden sein muss. Dies kann jetzt auch kodiert werden. Eine 6B20.0 ist etwa eine
„Zwangsstörung mit mittelmäßiger bis guter Krankheitseinsicht“, eine 6B20.1 „mit schlechter
bis fehlender Krankheitseinsicht“. Bei fehlender Krankheitseinsicht wird damit die
Abgrenzung zu psychotischen Störungen wichtiger. Für Zwangsstörungen (6A20) wird das
Zeitkriterium der ICD-10 (an den meisten Tagen über mindestens 2 Wochen) nicht mehr
explizit aufgeführt, stattdessen sind Leidensdruck oder funktionelle Beeinträchtigungen
für die Diagnose Voraussetzung.
Weiterhin finden wir hier in diesem Kapitel die neue Diagnose der „körperdysmorphen
Störung“ (6B21), bei der eine anhaltende Beschäftigung mit objektiv kaum oder nicht
wahrnehmbaren Makeln besteht, die neue Diagnose des „Eigengeruchswahn“ (6B22), also
die feste Überzeugung, einen unangenehmen oder anstößigen Geruch zu verbreiten, sowie
die früher unter F45.2 zu findende „Hypochondrie“ (6B23). Auch für diese gibt es kein
Zeitkriterium mehr, zudem muss sich die Symptomatik nicht mehr auf höchstens 2 Krankheiten
beziehen. Neben exzessiven gesundheitsbezogenen Verhaltensweisen wie zahlreichen Arztbesuchen
können auch maladaptive Vermeidungsverhaltensweisen wie die Vermeidung von Arztbesuchen
für die Diagnosestellung herangezogen werden. Weiterhin zu finden sind hier das neu
diagnostizierbare „pathologische Horten“ (6B24, vulgo „Messie-Syndrom“) sowie die
„Störungen des repetitiven Verhaltens“ (6B25). Neben der früher unter F 63.3 jetzt
in diesem Kapitel zu findende „Trichotillomanie“ (6B25.1) ist neu die „Skin-Picking-Disorder“
(6B25.2), auch Exkoriationsstörung genannt. Diese besteht in wiederholtem Zupfen an
der Haut mit Schädigung, verbunden mit Leidensdruck und/oder Funktionsbeeinträchtigung.
6B4* „Störungen, die spezifisch stressassoziiert sind“
6B4* „Störungen, die spezifisch stressassoziiert sind“
Neben bekannten Diagnosen wie der „Posttraumatischen Belastungsstörung“ (PTBS, 6B40)
finden sich neue Störungsbilder, wie die „komplexe PTBS“ und die „anhaltende Trauerstörung“
[19]. Für die PTBS wurde das Traumakriterium auf das individuelle Erleben der betroffenen
Person bezogen und nicht mehr auf das objektivierbare Maß der Schwere der Ereignisse,
d. h. es gibt keinen Zusatz für das Ereignis im Sinne von „das bei nahezu jedem tiefgreifende
Verzweiflung auslösen würde“. Zudem wurden die Diagnosekriterien auf 3 wesentliche
Kriterien von Wiedererleben, Vermeidung und anhaltender Bedrohungswahrnehmung reduziert.
Für die Diagnosevergabe der „komplexen PTBS“ (6B41) müssen neben diesen 3 Kriterien
3 weitere Kriterien erfüllt sein: Emotionsregulationsprobleme, ein negatives Selbstkonzept
sowie anhaltende Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen, die mit dem Trauma
in Verbindung stehen. Die neue Diagnose der „anhaltenden Trauerstörung“ (6B42) beschreibt
eine atypisch lange Trauerreaktion (über 6 Monate, im DSM-5-TR sind es 12 Monate)
unter Berücksichtigung der kulturellen und kontextuellen Normen.
Nicht mehr im Kapitel 06 der ICD-11 zu finden ist die „akute Belastungsreaktion“ (F43.0).
Sie kann jedoch weiter unter dem Code QE84 im Kapitel 24 kodiert werden ([
Tab. 1
]), hat aber nicht mehr den Status einer Störung. Die Diagnose der „Anpassungsstörung“
(6B43), früher F43.2 gibt es dagegen weiterhin. Sie wurde diagnostisch durch 2 Kriterien
klarer gefasst: eine gedankliche Überbeschäftigung mit dem Ereignis und dessen Folgen
inklusive übermäßigen Sorgen und beunruhigenden Gedanken oder Grübeln sowie eine mangelnde
Anpassung an den Stressor mit Funktionsbeeinträchtigungen in wichtigen Funktionsbereichen.
Nicht mehr spezifiziert werden muss das jeweilige Erscheinungsbild, im Sinne einer
näheren Beschreibung der Symptome als „kurze depressive Reaktion“ (F43.20), „Störung
des Sozialverhaltens“ (F43.24) oder Ähnlichem. Zusätzlich finden sich 2 Diagnosen,
die weiterhin nur im Kindesalter vergeben werden können: die „reaktive Bindungsstörung“
(6B44), früher F94.1, und die „Bindungsstörung mit enthemmtem Verhalten“ (6B45), zuvor
F94.2.
6B6* „Dissoziative Störungen“
6B6* „Dissoziative Störungen“
Die dissoziative Störung der Bewegung und der Wahrnehmung (ICD-10: F44.4-F44.7) wird
in „Dissoziative Störung mit neurologischen Symptomen“ (6B60) umbenannt. Während in
der ICD-10 die „Dissoziative Fugue“ (F44.1) noch eine eigenständige Diagnose darstellt,
wird sie in der ICD-11 in die „Dissoziative Amnesie“ (6B61) integriert und erscheint
dort als eine Subkategorie. Es kann zwischen einer „Dissoziativen Amnesie mit (6B61.0)
und ohne Fugue“ (6B61.1) unterschieden werden. Weiterhin finden sich die Diagnosen
„Trance- (6B62) und Besessenheitstrance-Störungen“ (6B63) als getrennte Kategorien
wieder. Die „Multiple Persönlichkeitsstörung“ (F44.81) wird wie im DSM-5 in „Dissoziative
Identitätsstörung“ (6B64) umbenannt. Neu ist die Kategorie einer „Partiellen Dissoziativen
Identitätsstörung“ (6B65), bei der Persönlichkeitszustände nur gelegentlich, in begrenztem
Umfang und nur vorübergehend die Kontrolle übernehmen. Die „Depersonalisations-Derealisations-Störung“
(6B66) war in der ICD-10 als F48.1 kodiert.
6B8* „Fütter- oder Essstörungen“
6B8* „Fütter- oder Essstörungen“
Dieser Störungskategorie zugeordnet wurden die zuvor unter F9 zu findenden Fütterstörungen
bei Kindern sowie die Essstörungen „Anorexia nervosa“ (6B80) und „Bulimia nervosa“
(6B81), früher in F5. Neu hinzugefügt wurden die „Binge-Eating-Störung“ (6B82) und
die „vermeidend-restriktive Ernährungsstörung“ (6B83). Letztere ist gekennzeichnet
durch die Einschränkung oder Vermeidung der Nahrungsaufnahme mit Auswirkungen wie
einem gravierenden Gewichtsverlust oder Beeinträchtigung wichtiger Funktionsbereiche.
Die Veränderung der Nahrungsaufnahme ist nicht wie bei der Anorexie auf eine verstärkte
Beschäftigung mit Körpergewicht und -form zurückzuführen.
6C0* „Störungen der Ausscheidungen“
6C0* „Störungen der Ausscheidungen“
Unter dieser Kategorie werden das Einnässen (Enuresis; 6C00 früher F98.0) und Einkoten
(Enkopresis; 6C01, früher F98.1) zusammengefasst. In der ICD-11 können inzwischen
beide Störungen gleichzeitig kodiert werden, das heißt, der Vorrang der Enkopresis
gegenüber der Enuresis der ICD-10 wurde aufgehoben.
6C2* „Störungen der körperlichen Belastung und des körperlichen Erlebens“
6C2* „Störungen der körperlichen Belastung und des körperlichen Erlebens“
Eine gravierende Änderung ergibt sich für die somatoformen Störungen, in ICD-10 unter
F45 zu finden. Wurden dort noch diverse Störungsbilder unterschieden, werden diese
in der ICD-11 in der Diagnose der körperlichen Belastungsstörung (6C20) zusammengefasst,
welche nach leicht, mittel- oder schwergradig unterschieden werden kann. Auftretende
belastende körperliche Symptome müssen über mehrere Monate vorliegen, gelegentlich
kann auch nur ein einzelnes Symptom vorliegen, etwa Schmerzen oder Müdigkeit. Die
Verursachung der Symptomatik (somatisch oder psychisch) ist in der ICD-11 nachrangig.
Auch hier geht es also um eine Aufweichung der vormals strikten Trennung von „organisch“
und „nicht organisch“. Entscheidend für die Diagnose ist nunmehr das Übermaß der Aufmerksamkeit
im Verhältnis zu Art und Entwicklung der Symptome. Hinzu kommt die neue Diagnose der
Körper-Integritäts-Identitätsstörung (BIID, 6C21), die symptomatisch durch den Wunsch
charakterisiert ist, körperlich behindert zu sein, etwa durch die Amputation von Gliedmaßen,
eine Querschnittslähmung oder eine Erblindung.
6C4* „Störungen durch Substanzgebrauch“, 6C5* „Verhaltenssüchte“
6C4* „Störungen durch Substanzgebrauch“, 6C5* „Verhaltenssüchte“
Die Neufassung der Störungen durch Substanzgebrauch sollte vor allem den Umgang mit
Suchtkranken in der Versorgung weltweit erleichtern [20]. Erstens wurden die zugehörigen Substanzklassen überarbeitet und deutlich erweitert.
Unter 6C4* finden sich 14 spezifische Kategorien und andere nicht näher bezeichnete
Substanzklassen. Zweitens wurde der schädliche Gebrauch (harmful use) differenziert
in eine einzelne Episode (dies ist neu gegenüber der ICD-10) oder wiederholten, d.
h. episodischen oder kontinuierlichen Gebrauch. Für die Diagnose eines schädlichen
Gebrauchs ist neben der Schädigung der eigenen Gesundheit auch die Schädigung der
Gesundheit anderer als Diagnosekriterium möglich. Drittens wurde die Kategorie gefährlicher
Gebrauch (hazardous use) eingeführt (QE1*), die sich allerdings im Kapitel 24 und
nicht im Kapitel 06 findet. Viertens wurden die Kriterien der Abhängigkeit vereinfacht.
Gab es in der ICD-10 6 Kriterien, werden diese jetzt zu 3 Kriterien zusammengefasst
[21]: Verminderte Kontrollfähigkeit, die mit Craving (starkem Verlangen) nach der Substanz
einhergehen kann, aber nicht muss, Priorität des Konsums über das alltägliche Leben
und oft Fortsetzung trotz negativer Konsequenzen und Physiologische Merkmale (Toleranz,
Entzugssymptome) oder wiederholter Konsum zur Verhinderung oder Linderung von Entzugssymptomen.
Es genügt schon das Vorliegen von 2 Kriterien für die Abhängigkeit. Dies könnte zu
einer höheren Rate an Abhängigkeitsdiagnosen führen, die dann stärker sozial bestimmt
wären [21]. Kognitive Störungen durch Alkoholgebrauch werden in der Kategorie „Neurokognitive
Störungen“ (6D7*) kodiert.
Die Störungen durch Verhaltenssüchte enthalten neben dem pathologischen Glückspielen
(6C50, gambling disorder) nunmehr neu auch das pathologische Spielen (6C51, gaming
disorder, „Computerspielsucht“). Diese Diagnose umfasst das Videospielen bzw. digitale
Spielen. Ihre Einführung war lange stark umstritten, gilt inzwischen aber klar als
Verhaltenssucht [22]. Beide Diagnosen können sich auf Offline- oder Online-Spiele beziehen.
6C7* „Störungen der Impulskontrolle“
6C7* „Störungen der Impulskontrolle“
Zu den Impulskontrollstörungen gehören in der ICD-11 neben „Pyromanie“ (6C70) und
„Kleptomanie“ (6C71) 2 neue Störungen. Die „Störung mit zwanghaftem Sexualverhalten“
(6C72), vulgo Sexsucht, in der ICD-10 allenfalls unter F52.7 kodierbar, aber nicht
näher beschrieben, ist das nunmehr klarer gefasste Unvermögen der Kontrolle sexueller
Impulse mit wiederholtem Sexualverhalten, resultierend in der Vernachlässigung anderer
Lebensbereiche oder anderen negativen Konsequenzen. Das Störungsbild kann sich ebenfalls
in Verhaltensweisen wie Masturbieren oder Pornografiekonsum äußern. Ebenfalls neu
ist die Diagnose der „intermittierend explosiven Störung“ (6C73), mit Wutausbrüchen,
die durch kurze Episoden verbaler oder körperlicher Aggression gekennzeichnet sind,
die in keinem Verhältnis zu den auslösenden Faktoren stehen.
6C9* „Disruptives Verhalten und dissoziale Störungen“
6C9* „Disruptives Verhalten und dissoziale Störungen“
In dieser Kategorie finden sich die „Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem,
aufsässigem Verhalten“ (6C90), kodierbar mit bzw. ohne chronische Reizbarkeit oder
Wut. Weiterhin findet sich die „Störung des Sozialverhaltens mit dissozialem Verhalten“
(6C91), kodierbar mit Beginn in der Kindheit oder mit Beginn in der Jugend.
6D1* „Persönlichkeitsstörungen und zugehörige Persönlichkeitsmerkmale“
6D1* „Persönlichkeitsstörungen und zugehörige Persönlichkeitsmerkmale“
Wohl die gravierendsten Veränderungen durchlaufen haben die Persönlichkeitsstörungen
[23], [24], [25]. Gab es in der ICD-10 noch zahlreiche Subtypen, resultierend in häufigen Komorbiditäten
bei von Persönlichkeitsstörungen Betroffenen [23], wurde auf diese Form der kategorialen Diagnosevergabe in der ICD-11 gänzlich zu
Gunsten eines dimensionalen Modells verzichtet.
Eingangsvoraussetzung für die Diagnose einer „Allgemeinen Persönlichkeitsstörung“
(6D10) sind Störungen des Selbst (Identität, Selbstwertgefühl, Selbsterkenntnis, Selbststeuerung)
und/oder interpersonelle Störungen (Interesse an Beziehungen, Fähigkeit zur Perspektivübernahme,
Fähigkeit zu engeren Beziehungen und zur Konfliktbewältigung), die klinisch manifest
für mindestens 2 Jahre vorliegen müssen. Im Gegensatz zur ICD-10 ist ein Beginn in
Kindheit und Jugend nicht zwingend erforderlich. Persönlichkeitsstörungen (PS) gehen
mit einem unangepassten Muster von Emotionen (Breite und Angemessenheit emotionalen
Erlebens und des Ausdrucks, emotionale Unter- oder Übererregbarkeit, Fähigkeit, für
einen selbst unangenehme Emotionen zu erkennen), Kognitionen (Genauigkeit situationaler
und interpersoneller Bewertungen v. a. unter Stress, Fähigkeit zum Treffen angemessener
Entscheidungen unter Unsicherheit, angemessene Stabilität bzw. Flexibilität von Überzeugungen)
und Verhalten (angemessene Impulskontrolle, Angemessenheit von Reaktionen auf starke
Emotionen und Stress in Bezug auf Gewalt und Selbstschädigung) einher. Dieses Muster
muss sich in einer Bandbreite von Situationen zeigen, das dem Entwicklungsstand der
Person unangemessen ist, nicht allein durch soziale oder kulturelle Faktoren erklärbar
ist sowie erheblichen Stress oder Beeinträchtigung in wichtigen Funktionsbereichen
zur Folge hat.
Nach der Diagnose erfolgte die Bestimmung des Schweregrades. Bei einer leichtgradigen
PS (6D10.0) sind spezifische Lebensbereiche betroffen, einige soziale und berufliche
Rollen können aufrechterhalten werden und es gibt keinen gravierenden Schaden für
sich selbst und andere. Bei einer mittelgradigen PS (6D10.1) sind mehrere Lebensbereiche
betroffen, es kommt hin und wieder zu selbst- oder fremdschädigendem Verhalten. Bei
einer schwergradigen PS (6D11.2) sind so gut wie alle Lebensbereiche betroffen, sie
ist mit einer Erfüllung sozialer Normen inkompatibel und geht oft mit selbst- oder
fremdschädigendem Verhalten einher.
Auch wenn verschiedene Unterarten der Persönlichkeitsstörung nicht mehr wie noch in
der ICD-10 unterschieden werden, so können zusätzlich prominente Persönlichkeitsmerkmale
(6D11.0-6D11.5) kodiert werden: negativ, distanziert, dissozial, gehemmt, zwanghaft
sowie das Borderlinemuster. Sie stehen in Zusammenhang mit den weit verbreiteten 5
Persönlichkeitsdimensionen („Big Five“) nach Costa und McCrae [26] und ähneln teilweise den früheren ICD-10-Subtypen ([
Tab. 2
]). Eine PS eines bestimmten Grades kann mit mehreren prominenten Merkmalen zugleich
einhergehen.
Tab. 2
Persönlichkeitsmerkmale in der ICD-11 im Vergleich zu den „Big Five“ (nach Daten aus
[1], [2], [26])
|
Persönlichkeitsmerkmale oder -muster in der ICD-11 (6D11)
|
Assoziierte „Big-Five“-Merkmale aus der Persönlichkeitspsychologie
|
-
6D11.0 Negativität
-
6D11.1 Distanziertheit
-
6D11.2 Dissozialität
-
6D11.3 Enthemmung
-
6D11.4 Zwanghaftigkeit-
-
-
-
6D11.5 Borderlinemuster
|
|
Neben der Vergabe von Persönlichkeitsstörungen ermöglicht die ICD-11 die Vergabe eines
Codes für eine Persönlichkeitsproblematik (QE50.7) und zwar im Kapitel 24 des ICD-10.
Diese ist nicht langanhaltend oder schwer genug sind, um die Kriterien einer Persönlichkeitsstörung
zu erfüllen. Sie bezeichnet das, was man im klinischen Alltag manchmal als Persönlichkeitsakzentuierung
bezeichnet – problematisch, aber eben keine Störung. Auch zu diesem Code können als
Zusatzcode die in [
Tab. 2
] genannten 5 Merkmale kodiert werden. Eine QE50.7/6D11.3 wäre dann eine Persönlichkeitsproblematik
mit Enthemmung, die nicht schwer genug für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung
ist.
6D3* „Paraphile Störungen“
6D3* „Paraphile Störungen“
Im Vergleich zur Vorgängerversion ist dieses Kapitel in der ICD-11 intensiv überarbeitet
worden. Das explizite Ziel der Überarbeitung lag darin, Verhaltensweisen zu entpathologisieren
und entstigmatisieren, die keine nachweisbaren gesundheitsökonomischen Kosten verursachen
[27]. Entsprechend sind als spezifische Störungen nur noch diejenigen erhalten geblieben,
die sich obligat auf nicht einwilligende oder nicht einwilligungsfähige Personen beziehen.
Sie sind gekennzeichnet durch anhaltende intensive Muster „atypischer“ sexueller Erregung,
die sich in sexuellen Impulsen, Fantasien oder Handlungen manifestieren. Einzelne
oder gelegentliche atypische Handlungen sind also nicht diagnoserelevant. „Typisch“
als Referenz für das geforderte „atypische“ Muster ist im Gegensatz zum DSM-5 allerdings
nicht definiert. Hier finden sich die exhibitionistische Störung (6D30), die voyeuristische
Störung (6D31), die pädophile Störung (6D32), die sexuell-sadistische Störung unter
Ausübung von Zwang (6D33), die frotteuristische Störung (6D34) und die sonstige paraphile
Störung mit nicht einwilligenden Individuen (6D35). Andere ungewöhnliche Inhalte sexueller
Erregung, die sich auf die Einzelperson oder einwilligende Personen beziehen, können
nach ICD-11 nur dann als klinische Störung diagnostiziert werden, wenn sie mit ausgeprägtem
Leiden oder erheblichem Verletzung- oder Todesrisiko verbunden sind. Das Leiden darf
dabei nicht ausschließlich auf einer tatsächlichen oder befürchteten Ablehnung der
sexuellen Inhalte durch Andere beruhen. Ungewöhnliche sexuelle Inhalte, die zu Leidensdruck
infolge tatsächlicher oder befürchteter Ablehnung führen, sollen nicht als eigenständige
Störung klassifiziert werden. Um therapeutisches Handeln in diesem Rahmen zu kodieren,
soll auf die Codes der Gruppe „Beratung in Bezug auf Sexualität“ (QA15.X) zurückgegriffen
werden [27].
6D5* „Artifizielle Störungen“
6D5* „Artifizielle Störungen“
Hier wird in der ICD-11 zwischen der „Artifiziellen Störung“ an sich selbst oder gegenüber
anderen unterschieden. Dabei kann sich das Vortäuschen von Symptomen auch auf Haustiere
beziehen. Eine wichtige Änderung bezieht sich auf die Entstigmatisierung der Störung.
Um das Stigma abzubauen, werden die Begriffe „Münchhausen-Syndrom“ und „Münchhausen
by proxy“ nicht mehr verwendet.
6D7* und 6E0* „Neurokognitive Störungen“
6D7* und 6E0* „Neurokognitive Störungen“
In der ICD-10 finden sich getrennt einerseits die neurokognitive Störungen und andererseits
die sekundär bedingten („organischen“) psychischen Störungen (6E6*), in der ICD-10
waren diese zusammen in der Kategorie F0. Neurokognitive Störungen sind „Delir“ (6D70),
die „leichte neurokognitive Störung“ (6D71), die „amnestische Störung“ (6D72) und
verschiedene Formen der Demenz (6D8*). Die Demenzen sind sogar doppelt in der ICD-11
enthalten: im Kapitel 06 als „Demenz durch eine Krankheit“ (hier steht das psychopathologische
Syndrom, die psychische Dysfunktion im Vordergrund) und in Kapitel 8, Krankheiten
des Nervensystems, als „Krankheit“ (durch Biomarker und Pathophysiologie definiert).
So findet sich etwa die „Demenz durch Alzheimer Krankheit“ (6C80) im Kapitel 6, die
„Alzheimer-Krankheit“ (A820) dagegen im Kapitel 8. Das Gleiche gilt für die übrigen
Demenzformen. In 6E0* finden sich sonstige und nicht näher bezeichnete neurokognitive
Störungen.
6E2* „Psychische Störungen oder Verhaltensstörungen in Zusammenhang mit Schwangerschaft,
Geburt oder Wochenbett“
6E2* „Psychische Störungen oder Verhaltensstörungen in Zusammenhang mit Schwangerschaft,
Geburt oder Wochenbett“
Während in der ICD-10 nur das Wochenbett explizit erwähnt wurde, werden in der ICD-11
die Bereiche Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett in einer neuen Kategorie zusammengeführt.
Wenn die Symptomatik zudem die Kriterien einer anderen psychischen Störung erfüllt,
soll diese zusätzlich kodiert werden. Nicht psychische Erkrankungen in Zusammenhang
mit Schwangerschaft, Geburt oder Wochenbett finden sich in einem eigenen Kapitel,
dem Kapitel 18 der ICD-11.
6E4* „Psychologische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei anderenorts klassifizierten
Störungen oder Erkrankungen“
6E4* „Psychologische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei anderenorts klassifizierten
Störungen oder Erkrankungen“
Diese „Faktoren“ (Störungen, Symptome, Persönlichkeitsmerkmale und Bewältigungsmechanismen
sowie maladaptives Gesundheitsverhalten) werden zusätzlich zu einer bestehenden nicht
psychischen Erkrankung (z. B. Asthma, Diabetes, Magengeschwür) kodiert, wenn sie erhebliche
negative Auswirkungen auf diese haben, indem sie ihre Manifestation, Behandlung oder
Verlauf so stören, beeinträchtigen oder verschlimmern, dass die Faktoren einen Schwerpunkt
der klinischen Aufmerksamkeit darstellen (in der ICD-10 unter F54 kodiert).
6E6* „Sekundäre psychische oder Verhaltenssyndrome bei anderenorts klassifizierten
Störungen oder Erkrankungen“
6E6* „Sekundäre psychische oder Verhaltenssyndrome bei anderenorts klassifizierten
Störungen oder Erkrankungen“
Unter diese Kategorie fallen psychische und Verhaltenssyndrome, für die eine Erkrankung
als ursächlich angesehen wird, die nicht Kapitel 06 zuzuordnen ist, also das, was
in der ICD-10 „organische“ (ICD-11: sekundäre) psychische Störungen außerhalb von
Demenz und Delir sind. Ein Beispiel wäre etwa ein depressives Syndrom bei Schlaganfall
oder ein manisches Symptom bei Hirnblutung. Es gibt Codes für psychotische, affektive,
ängstliche, zwanghafte, etc. Syndrome, die zusätzlich zur verursachenden Krankheit
vergeben werden können.
„Neurasthenie“ (früher in der ICD-10, entfällt in der ICD-11)
„Neurasthenie“ (früher in der ICD-10, entfällt in der ICD-11)
Die „Neurasthenie“, in der ICD-10 (F 48.0) eine psychische Störung, definiert als
Erschöpfungsgefühl nach geringer geistiger oder körperlicher Anstrengung, entfällt
in der ICD-11. Wegen der anhaltenden Diskussion um das Fatigue-Syndrom bei Long-COVID
sei hier angemerkt, dass im Kapitel 08 „Krankheiten des Nervensystems“ nunmehr das
„Postvirale Müdigkeitssyndrom“ (8E49) zu finden ist, welches die „Myalgische Enzephalomyelitis“
einschließt. Weiterhin lässt sich im Kapitel 21 unter „Allgemeine Symptome“ die „Fatigue“
(MG22) kodieren – damit ist aber eher die Art von Fatigue gemeint, wie sie bei Multipler
Sklerose oder anderen systemischen Erkrankungen auftritt.
Kodierung von „Suizidalität“ (Kapitel 21)
Kodierung von „Suizidalität“ (Kapitel 21)
In der ICD-10 ist die Kodierung von „Suizidalität“ verwirrend. Unter X60 bis X84 werden
die verschiedenen Methoden der „Vorsätzlichen Selbstbeschädigung“ kodiert, was für
die Todesursachenstatistiken von Suiziden relevant ist. In der ICD-11 finden sich
diese Codes unter PB*, PC* und PD*. Zusätzlich gibt es in der ICD-10 aber den Code
X84.9 für „Vorsätzliche Selbstbeschädigung“, worunter sowohl der Suizidversuch fällt
als auch Selbstbeschädigungen in nicht suizidaler Absicht. Und schließlich kann „Suizidalität“
in der ICD-10 unter R45.8 („sonstige Symptome, die Stimmung betreffend“) kodiert werden.
Die ICD-11 erlaubt die klare Unterscheidung von Selbstverletzung in nicht suizidaler
Absicht (MB23.E) einerseits und in suizidaler Absicht (MB23.R), also den Suizidversuch,
andererseits. Zudem hat das ICD-11 explizite Codes für „Suizidgedanken“ (MB26.A) und
für „suizidales Verhalten“ (MB23.S). Es ist zu hoffen, dass dies die standardisierte
Erfassung von Suizidversuchen und damit eine bessere Dokumentation und Erforschung
in Zukunft erleichtern wird.
Der vorliegende Artikel ermöglicht eine Gesamtübersicht über die Struktur des Kapitels
06 der ICD-11, neue und wegfallende Diagnosen sowie die wichtigsten Änderungen. Dabei
zeigen sich z. T. deutliche Änderungen in der Definition und Kodierung diverser Störungsbilder.
Diese haben nicht nur Auswirkungen auf Einordnung und Diagnosestellung, sondern auch
auf die Behandlung von psychischen Störungen. Noch greift die flexible Übergangszeit
von der ICD-10 zur ICD-11. Dies ermöglicht es zukünftigen Nutzern, sich schon jetzt
mit den Veränderungen vertraut zu machen und darauf vorzubereiten, bevor die ICD-11
in Forschung und Praxis verpflichtend wird.