Schlüsselwörter
Arzneiverordnungen - Hypnotika und Sedativa - Ambulante Versorgung - Praxisbesonderheiten
- Sekundärdatenanalyse
Key words
Drug prescriptions - Hypnotics and sedatives - Ambulatory care - Physicians’ practice
patterns - Secondary data analysis
Einleitung
Benzodiazepine und sogenannte Z-Substanzen werden häufig bei Einschlaf- und
Durchschlafproblemen eingenommen [1]. Die
Wirkstoffe der Z-Substanzen oder Z-Drugs (Zolpidem, Zopiclon, Zaleplon) wirken am
selben Rezeptor wie Benzodiazepine, haben aber gegenüber Benzodiazepinen
eine zumeist kürzere Halbwertszeit. Z-Substanzen werden daher vor allem zur
Schlafförderung eingesetzt, Benzodiazepine unter anderem auch zur
symptomatischen Behandlung von akuten und chronischen Spannungs-, Erregungs- und
Angstzuständen, bei erhöhtem Muskeltonus oder als Antiepileptika.
Dem vergleichsweise geringen Nutzen einer medikamentösen Therapie von
Schlafstörungen stehen teils erhebliche unerwünschte Wirkungen, wie
Gewöhnung (Toleranz), Abhängigkeit und Sturzrisiken
gegenüber [2]. Verordnung und Einnahme
sollten daher regelhaft auf kurze Zeiträume beschränkt bleiben.
Allen Warnungen und zurückhaltenden Empfehlungen in Leitlinien zum Trotz
[3]
[4] werden diese Medikamente, vor allem Z-Substanzen [5] weiterhin häufig verordnet; dies
gilt nicht nur für Deutschland (für Australien, siehe z. B.
[6]).
Benzodiazepine und Z-Substanzen sind in Deutschland rezept- bzw.
verschreibungspflichtige Arzneimittel, d. h. sie sind nur auf
ärztliche Verordnung erhältlich. Üblicherweise werden die
Kosten dieser Arzneimittel für gesetzlich Versicherte von den Krankenkassen
getragen, gegebenenfalls mit einer geringen Zuzahlung seitens der Versicherten.
Ärzte können aber auch Mitgliedern einer gesetzlichen
Krankenversicherung Arzneimittel auf Privatrezept verordnen, wie dies generell
für Privatversicherte geschieht, wobei gesetzlich Krankenversicherte die
Kosten eines Privatrezeptes regelhaft selbst tragen müssen [7].
Vor mittlerweile über 10 Jahren machte eine Studie darauf aufmerksam, dass
Benzodiazepine und Z-Substanzen häufig in Form von Privatrezepten verordnet
werden [8]. Kürzlich konnten wir
für gesetzlich Krankenversicherte einen Anteil von über 40 Prozent
Privatverordnungen für diese Substanzen auch für die letzten Jahre
bestätigen – sogar mit zunehmender Tendenz [9]. Dies führt zu einer falschen
Wahrnehmung in der Öffentlichkeit: Während Verordnungsstatistiken
der gesetzlichen Krankenkassen einen teils erheblichen Rückgang dieser
Medikamente für gesetzlich Versicherte berichten [5], fällt der tatsächliche
Rückgang bei Benzodiazepinen weitaus geringer aus. Bei Z-Substanzen wird der
scheinbare Rückgang durch vermehrte Privatrezepte sogar
überkompensiert: Tatsächlich wurden in den letzten Jahren mehr
– und nicht weniger – von diesen Substanzen an gesetzlich
Versicherte verordnet [9].
Es gibt verschiedene Überlegungen, warum gerade Benzodiazepine und
Z-Substanzen in einem so großen Ausmaß als Privatrezepte zur
Anwendung kommen. Es könnte sein, dass Ärzte auf diese Weise ihren
Patienten signalisieren möchten, dass die Medikamente für die
(längerfristige) Behandlung von Schlafproblemen nicht vorgesehen bzw.
geeignet und sie deshalb vom Patienten selbst zu bezahlen sind. Auf diese Weise
könnten Ärzte auch versuchen, sich dem Druck der Patienten partiell
zu entziehen [7]. Andere Erklärungen
zielen darauf ab, dass Privatverordnungen nicht von den gesetzlichen Krankenkassen
kontrolliert werden können und Ärzte sich dadurch vor
möglichen Regressforderungen oder kritischen Nachfragen über ihre
Verordnungspraxis geschützt fühlen [10].
Unabhängig von diesen Erklärungen ist Hoffmann et al. [11] eine Besonderheit bei den
Privatverordnungen für Z-Substanzen aufgefallen: dass nämlich
Privatrezepte deutlich häufiger in den östlichen
Bundesländern ausgestellt wurden. Allerdings konnten sie in ihrer Analyse
nicht zwischen privat und gesetzlich Krankenversicherten unterscheiden, ebenso wenig
nach Art der Praxis, obwohl sich möglicherweise das Verordnungsverhalten von
Hausärzten und Neurologen/Psychiater – als den wichtigsten
Facharztgruppen für die Verschreibung von Hypnotika/Sedativa
– unterscheidet und diese Arztgruppen in Ost- und Westdeutschland immer noch
unterschiedlich verteilt sind. So betrug der Anteil der Psychiater und Neurologen
im
Westen – bezogen auf die Zahl der Hausärzte – im Jahr 2015
16%, im Osten dagegen nur 10%; ähnlich war der Unterschied
im Jahr 2020 [12].
Ziel der vorliegenden Studie ist es zu untersuchen, ob die ehemals deutlichen
Ost-West-Unterschiede in der Quote der Privatverordnungen für Z-Substanzen
auch heute noch bestehen und auch für Benzodiazepine gelten – unter
Berücksichtigung von Praxismerkmalen als möglichen Kovariaten.
Methodik
Die vorliegende Sekundärdatenanalyse nutzte anonymisierte Verordnungsdaten
von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, wie sie die Disease
Analyzer-Datenbank [13] zur Verfügung
stellt. Die Datenbank umfasst etwa 2.500 Praxen, deutschlandweit nach Region,
Fachrichtung und Alter der Ärztinnen und Ärzte ausgewählt;
44% dieser Praxen sind Hausarztpraxen; 7% neurologische
und/oder psychiatrische Praxen. Aufgrund guter Übereinstimmung mit
repräsentativen Gesundheitsdaten aus Deutschland bezüglich Inzidenz
und Prävalenz wichtiger chronischer Erkrankungen [13] ist die Datenbank auch für
pharmakoepidemiologische Studien geeignet.
In der vorliegenden Auswertung wurden gesetzlich Versicherte mit mindestens einer
Verordnung eines Benzodiazepins oder einer Z-Substanz zwischen dem 01.01.2014 und
31.08.2020 eingeschlossen. Wir haben uns auf Patienten in Praxen von
Hausärzten (Allgemeinärzten, praktischen Ärzten und
hausärztlich tätigen Internisten) sowie Neurologen und Psychiatern
beschränkt, die den überwiegenden Teil von Benzodiazepinen und
Z-Substanzen verordnen. Die Medikamente waren Benzodiazepine und Z-Drugs, gem.
ATC-Klassifikation [14] zu 3 Gruppen
gehörend: (1) zu den „Benzodiazepin-Anxiolytika“, eingesetzt
z. B. bei Erregungs- und Angstzuständen (ATC-Code N05BA), und zu zwei
Untergruppen der „Hypnotika/Sedativa“ (N05C), dort
klassifiziert als (2) „Benzodiazepin-Derivate“ (N05CD) oder als (3)
„Benzodiazepin-verwandte Mittel“, also Z-Drugs (N05CF). Verordnungen
wurden als GKV-Verordnung (von der gesetzlichen Krankenkasse erstattet) oder als
Privatverordnung (vom Patienten bezahlt) klassifiziert.
Statistische Analyse
Zentrales Outcome waren die Privatverordnungen für die Gesamtgruppe der
untersuchten Medikamente wie auch für einzelne Substanzgruppen. Der
Anteil der Privatverordnungen wird zunächst für Ost- und
Westdeutschland dargestellt, anschließend für die
Facharztgruppen, ebenfalls getrennt für Ost- und Westdeutschland.
Veränderungen des Anteils der Privatverordnungen im Zeitverlauf werden
ebenfalls deskriptiv dargestellt. Abschließend sollte in multiplen
Regressionsanalysen geprüft werden, ob die Faktoren Region (Ost- vs.
Westdeutschland) und Facharztgruppe (Hausärzte vs.
Neurologen/Psychiater) statistisch signifikante Prädiktoren
für den Anteil an Privatverordnungen in einer Praxis sind –
unter Berücksichtigung der Alters- und Geschlechtszusammensetzung der
Patienten einer Praxis (als Kovariaten). Die Auswertung erfolge mittels SAS 9.4.
Um den relativen Einfluss der einzelnen Prädiktoren abschätzen
zu können, wurden die Regressionskoeffizienten im multiplen Modell als
standardisierte Schätzer mit der SAS-Prozedur glmselect berechnet [15].
Ergebnisse
Praxen und Verordnungen
Aus insgesamt 874 Praxen, die über den gesamten Untersuchungszeitraum
Daten meldeten, wurden die betreffenden Verordnungen ausgewertet,
überwiegend Praxen von Hausärzten bzw. hausärztlich
tätigen Internisten (n=758); zum geringeren Teil Neurologen (76)
und Psychiater (40). 691 Praxen (76,3%) befanden sich im Westen, 183 im
Osten.
Die Praxen stellten im Zeitraum 2014 bis 08/2020 insgesamt 2.200.446
Verordnungen der untersuchten Substanzen aus, vor allem Z-Substanzen (1.071.047;
48,7%), gefolgt von Benzodiazepin-Anxiolytika (920.643; 41,8%)
und Benzodiazepin-Hypnotika/Sedativa (208.756; 9,5%); 38,2
Prozent dieser Medikamente wurden in Form von Privatrezepten verordnet, mit
deutlichen Unterschieden zwischen den drei Substanzgruppen (Z-Substanzen:
48,1%; Benzodiazepin-Anxiolytika: 25,2%;
Benzodiazepin-Hypnotika/Sedativa: 45,0%).
Privatverordnungen in Ostdeutschland und Westdeutschland
In Ostdeutschland lag der Anteil an Privatverordnungen für Benzodiazepine
und Z-Substanzen bei 53,6% (217.515/405.620), in Westdeutschland
dagegen bei 34,8% (624.076/1.794.826). Besonders hoch war der
Anteil bei Z-Substanzen (in Ostdeutschland: 70,7%, in Westdeutschland:
43,0%). Bei der Gesamtgruppe der Benzodiazepine lag der Anteil an
Privatrezepten im Osten bei 37,3% (77.558/207.613), im Westen
bei 27,0% (248.809/921.786); besonders stark war die
Ost-West-Differenz bei den Benzodiazepin-Hypnotika/Sedativa
(71,4% vs. 37,6%), geringer dagegen bei
Benzodiazepin-Anxiolytika (27,8% und 24,7%; [Tab. 1]).
Tab. 1 Privatverordnungen für Benzodiazepine und
Z-Substanzen in Ost- und Westdeutschland.
|
|
Privatverordnungen
|
|
|
Ost
|
West
|
Gesamt
|
Variable
|
Anzahl der Verordnungen
|
%
|
%
|
%
|
Substanzgruppe
|
Benzodiazepin-Anxiolytika
|
920.643
|
27,8
|
24,7
|
25,2
|
Benzodiazepin-Hypnotika/Sedativa
|
208.756
|
71,4
|
37,6
|
45,0
|
Z-Drugs
|
1.071.047
|
70,7
|
43,0
|
48,1
|
Fachgruppe
|
Hausärzte*
|
1.724.549
|
61,0
|
41,7
|
45,3
|
Neurologen
|
319.397
|
23,5
|
11,9
|
14,1
|
Psychiater
|
156.500
|
24,6
|
7,3
|
9,5
|
Benzodiazepin-Anxiolytika
|
Hausärzte*
|
664.434
|
31,1
|
32,1
|
31,9
|
Neurologen/Psychiater**
|
256.209
|
17,8
|
6,2
|
8,0
|
Benzodiazepin-Hypnotika/Sedativa
|
Hausärzte*
|
184.869
|
77,1
|
41,2
|
49,2
|
Neurologen/Psychiater**
|
23.887
|
20,6
|
10,6
|
12,6
|
Z-Substanzen
|
Hausärzte*
|
875.246
|
79,3
|
49,1
|
54,7
|
Neurologen/Psychiater**
|
195.801
|
31,1
|
15,9
|
18,6
|
Alle
|
2.200.446
|
53,6
|
34,8
|
38,2
|
* Allgemeinärzte, praktische Ärzte,
hausärztlich tätige Internisten;
**Neurologen und Psychiater zusammengefasst.
Privatverordnungen nach Fachgruppen in ostdeutschen und westdeutschen
Praxen
Hausärzte griffen weit häufiger als Neurologen und Psychiater zu
Privatverordnungen. Wurden in westdeutschen Hausarztpraxen ca. 42 Prozent aller
Verordnungen als Privatrezepte ausgestellt, waren es bei Neurologen
11,9% und bei den Psychiatern 7,3% ([Tab. 1]). Eine ähnliche Differenz
zwischen den verschiedenen Facharztgruppen fand sich in Ostdeutschland, nur auf
höherem Niveau (61,0% vs. 23,5% vs. 24,6%).
Dieser Unterschied tritt wiederum besonders deutlich bei den Z-Substanzen auf.
Hausärzte verordneten diese Substanzen zu 54,7% auf
Privatrezept, Neurologen/Psychiater (hier zusammengefasst) zu
18,6% ([Tab. 1]). Zugleich zeigen
sich auch hier auch ausgeprägte Ost-West-Unterschiede. Ostdeutsche
Hausärzte stellten fast 80% der Verordnungen für
Z-Substanzen auf Privatrezept aus, bei westdeutschen Hausärzten
49%. Bei den Neurologen/Psychiatern war die Differenz etwas
geringer ([Tab. 1]).
Auch bei den Benzodiazepin-Anxiolytika zeigen sich deutliche Unterschiede im
Anteil der Privatverordnungen zwischen Hausärzten (32%) und
Neurologen/Psychiatern (8%), ebenso bei den, wenn auch
zahlenmäßig weit geringeren Benzodiazepin-Hypnotika (49%
vs. 13%). Die Ost-West-Unterschiede waren geringer – und wenn,
traten sie vor allem bei den Hausärzten auf ([Tab. 1]).
Privatverordnungen im Zeitverlauf
Der Anteil von Privatrezepten im Verordnungsspektrum der Ärzte, vor allen
der Hausärzte war in den Jahren nach 2014 nicht nur generell sehr hoch,
sondern ist im Zeitverlauf noch angestiegen – mit einem bemerkenswerten
Muster: Der Anteil stieg vergleichsweise stark in den westlichen
Bundesländern (von 33% auf 39%), nur geringfügig
in den östlichen Bundesländern (von 53% auf
zunächst 55% in 2018 und 54% in 2020; [Tab. 2]). Der Anstieg wurde bundesweit von
den Hausärzten vorangetrieben, deren Anteil an Privatrezepten
für die betreffenden Substanzen noch einmal stieg (von 43% auf
49%), während der Anteil an Privatrezepten bei den
Neurologen/Psychiatern im Zeitverlauf weitgehend unverändert
blieb. Besonders deutlich war der Anstieg an Privatverordnungen bei den
westdeutschen Hausärzten um 7 Prozentpunkte (von 39% auf
46%).
Tab. 2 Privatverordnungen für Benzodiazepine und
Z-Substanzen im Zeitverlauf.
|
Zeitraum; in %
|
Variable
|
2014
|
2015
|
2016
|
2017
|
2018
|
2019
|
2020
|
Region
|
Ostdeutschland
|
52,7
|
52,5
|
52,6
|
54,2
|
55,1
|
54,5
|
54,3
|
Westdeutschland
|
32,5
|
32,9
|
33,9
|
34,5
|
35,3
|
37,2
|
38,5
|
Fachgruppe
|
Hausärzte*
|
42,6
|
43,0
|
44,2
|
45,1
|
46,5
|
48,2
|
49,5
|
Neurologen/Psychiater**
|
12,4
|
12,7
|
12,5
|
12,6
|
12,5
|
12,8
|
12,9
|
Hausärzte*
|
Ostdeutschland
|
58,7
|
58,8
|
59,8
|
61,8
|
63,1
|
62,9
|
63,1
|
Westdeutschland
|
38,7
|
39,2
|
40,5
|
41,3
|
42,7
|
44,9
|
46,5
|
Neurologen/Psychiater**
|
Ostdeutschland
|
27,1
|
25,8
|
23,1
|
23,3
|
23,6
|
21,8
|
20,6
|
Westdeutschland
|
9,3
|
9,9
|
10,4
|
10,4
|
10,3
|
11,0
|
11,4
|
* Allgemeinärzte, praktische Ärzte,
hausärztlich tätige Internisten;
**Neurologen und Psychiater zusammengefasst.
Diese Tendenzen zeigen sich wiederum zugespitzt bei den Z-Substanzen (Tabelle A1
im Online-Appendix). Hier legten die westdeutschen Bundesländer um 10
Prozentpunkte (von 39% auf 49%) im Anteil an Privatrezepten zu.
Der Anteil in den östlichen Bundesländern blieb bei etwa
70% stabil; es waren wieder die Hausärzte, die sich mit einem
Zuwachs von knapp 10 Prozentpunkten deutlich von den
Neurologen/Psychiatern (mit einer fast unmerklichen Steigerung von nur 1
Prozentpunkt) unterschieden. Vor allem waren es die Hausärzte in den
westlichen Bundesländern, die mit einem Zuwachs von fast 12
Prozentpunkten (von 44% auf 56%) mehr Privatrezepte verordneten,
während die Hausärzte in Ostdeutschland über den
gesamten Zeitraum Z-Substanzen nahezu unverändert zu fast 80%
als Privatrezept verordneten (Tabelle im Online-Appendix).
Der Einfluss von Kovariaten
Wegen möglicher Interaktionen von Region und Facharztgruppe haben wir
deren Einflüsse auf den Anteil von Privatverordnungen in univariaten und
multivariaten Regressionsanalysen geprüft – bei gleichzeitiger
Kontrolle zweier weiterer Praxismerkmale. [Tab.
3] zeigt im oberen Teil den univariaten Einfluss dieser Faktoren auf
die Höhe des Anteils an Privatverordnungen von Z-Substanzen, dargestellt
als erklärte Varianz (R2), standardisierte Schätzer,
T-Werte (und p).
Tab. 3 Einflussfaktoren für den Anteil von
Privatverordnungen für Z-Substanzen.
Modell
|
Variable
|
R²*
|
Schätzer **
|
t-Wert
|
p
|
Univariates Modell
|
Region
|
8%
|
0,27
|
8,68
|
<0,0001
|
Facharztgruppe
|
9%
|
0,38
|
9,4
|
<0,0001
|
Patientenalter/Praxis
|
7%
|
0,01
|
8,01
|
<0,0001
|
Anteil Frauen/Praxis
|
6%
|
0,34
|
2,35
|
0,0190
|
Multivariates Modell
|
Region
|
|
0,26
|
8,17
|
<0,0001
|
Facharztgruppe
|
|
0,27
|
8,1
|
<0,0001
|
Patientenalter/Praxis
|
|
0,1
|
3,04
|
0,0025
|
Anteil Frauen/Praxis
|
|
0,07
|
2,11
|
0,036
|
Multivariates Modell
|
19%
|
F=50,23
|
* Erklärte
Varianz; ** Standardisierter
Schätzer im multivariaten Modell.
Region (Ost vs. West) und Facharztgruppe klären nahezu identische
Varianzen (8% und 9%) für den Anteil an
Privatverordnungen auf; der Altersdurchschnitt einer Praxis hat ebenfalls einen
deutlichen Einfluss, ebenso der durchschnittliche Anteil der Frauen einer
Praxis, wenn auch bei geringer statistischer Signifikanz. Das multivariate
Modell (unterer Teil von [Tab. 3]) ist
signifikant mit F=50,23 (p<0,0001) und klärt knapp
19% der Varianz auf; Region und Facharztgruppe sind daran, wie die
standardisierten Schätzer und t-Werte zeigen, etwa gleichermaßen
und signifikant beteiligt, die beiden anderen Praxismerkmale kaum noch.
Im Zeitverlauf wird der Einfluss der Praxisregion etwas schwächer, wie
sich bereits in der [Tab. 2] abzeichnete.
So erklärt zum Beispiel die Region im Jahr 2014 8% der Varianz
im univariaten Modell, im Jahr 2019 nur noch 5%. Allerdings ist der
Einfluss der Region im multivariaten Modell in beiden Jahren nahezu gleich stark
wie der Einfluss der Facharztgruppe und deutlich größer als der
Einfluss von Alter und Geschlecht (Daten nicht gezeigt).
Für die Benzodiazepin-Anxiolytika fällt die Analyse etwas anders
aus (Tabelle A2 im Online-Appendix). Im univariaten Modell zeigen
zunächst nur Facharztgruppe und Alter mit 7% und 6%
erklärter Varianz einen signifikanten Einfluss auf den Anteil an
Privatverordnungen. Das multiple Modell ist wiederum signifikant
(F=20,29; p<0,0001) und bestätigt den dominierenden
Einfluss der Facharztgruppe (mit einem hohen Schätzer und t-Wert; aber
auch die Region spielt nun eine deutlich stärkere Rolle (t=2,67;
p=0,0078); die weiteren Praxismerkmale haben nur noch geringen Einfluss.
Das Modell erklärt knapp 9% der Varianz.
Ost-West-Unterschiede bei einzelnen Wirkstoffen
Unabhängig vom jeweiligen Anteil an Privatverordnungen, zeigten sich auch
bei einzelnen Wirkstoffen deutliche Differenzen in der Verordnungspraxis
zwischen Ost- und Westdeutschland. So nutzten Ärzte in Ostdeutschland
insgesamt weit häufiger Zolpidem (62,0%) als Zopiclon
(38,0%); im Westen nutzten die Hausärzte die Substanzen
spiegelbildlich: Zolpidem zu 34,1% und Zopiclon zu 65,9%. Auch
innerhalb der Gruppe der Benzodiazepin-Hypnotika/Sedativa gab es
große Unterschiede bei den bevorzugten Wirkstoffen mit
häufigeren Verordnungen von Nitrazepam im Osten (45,0% aller
Verordnungen dieser Gruppe; West 7,7%) und Lormetazepam im Westen (Ost
14,8%; West 34,6%).
Diskussion
Das Ausmaß der Privatverordnungen für Benzodiazepine und Z-Substanzen
hängt davon ab, ob eine Praxis in Ost- oder Westdeutschland liegt. Die
Privatrezept-Quote zwischen beiden Regionen unterschied sich im Zeitraum von 2014
bis 2020 um 3 Prozentpunkte bei den Benzodiazepin-Anxiolytika (Ost: 28% zu
West 25%), bei den Z-Substanzen um knapp 30 Prozentpunkte (71% zu
43%), noch etwas deutlicher bei den Benzodiazepin-Hypnotika/Sedativa
(71% zu 38%). Vor allem Hausärzte wählten die Form
eines Privatrezept für die Verordnung der betreffenden Substanzen.
Hoffmann et al. [11] machten schon in ihrer vor
15 Jahren durchgeführten Untersuchung auf Ost-West-Unterschiede bei
Privatverordnungen für Z-Substanzen aufmerksam; danach wurden 78,2%
im Osten als Privatrezept verordnet, 52,3% im Westen, insbesondere war es
Zolpidem. Sogar noch etwas deutlichere Ost-West-Unterschiede bei Privatverordnungen
für Z-Substanzen fanden wir jetzt, 30 Jahre nach der Wende. Auch für
Benzodiazepine fanden wir solche Unterschiede, sehr ausgeprägt bei der
zahlenmäßig kleinen Gruppe der
Benzodiazepin-Hypnotika/Sedativa, weitaus geringer bei den
Benzodiazepin-Anxiolytika. In unserer Untersuchung zeigte sich zudem eine zu
Hoffmann et al. [11] genau umgekehrte
Medikamenten-Präferenz, insofern Hausärzten in Ostdeutschland
besonders Zolpidem verordneten, wohingegen im Westen Zopiclon bevorzugt wurde
– unabhängig, ob es sich dabei um Privatrezepte oder zu Lasten der
gesetzlichen Krankenversicherung verordnete Rezepte handelte. Besonders
ausgeprägte Unterschiede zeigten sich auch für die zwei am
häufigsten verordneten Benzodiazepin-Hypnotika/Sedativa.
Gründe hierfür zu finden, könnte ein Thema
zukünftiger Forschung sein.
Diese Ost-West-Unterschiede stehen im Kontrast zu der zu beobachtenden Angleichung
von Mortalität/Morbidität und Gesundheitsverhalten in Ost-
und Westdeutschland nach 1989 [16]
[17]. Die traditionellen Unterschiede bei der
Versorgung mit Psychopharmaka und die Einstellung der Bevölkerung zu diesen
Medikamente – eher seltene Verordnung von Antidepressiva und
größere Skepsis gegenüber Psychopharmaka in den
östlichen Bundesländern – sind dagegen weiter zu beobachten
[18]
[19]
[20]. Möglicherweise
spiegelt sich diese Skepsis im höheren Rückgriff auf
Privatrezepte.
Im Zeitverlauf von 2014 bis 2020 zeigte auch unsere Auswertung eine gewisse
Annäherung, aber nicht – wie zumeist beobachtet – als
Angleichung der Verhältnisse in Ostdeutschland an die in Westdeutschland. Im
Gegenteil: die Rate an Privatverordnungen im Westen entwickelte sich in Richtung des
höheren Niveaus in den ostdeutschen Bundesländern.
Umso stärker stellt sich die Frage, warum es überhaupt in diesem
Ausmaß zu Privatverordnungen kommt. Eine Interviewstudie mit
Hausärzten zum Thema Privatverordnungen [7] kam zu dem Schluss, dass Hausärzte diese Form der Rezeptierung
wählen, um dem Wunsch von Patienten zum Beispiel mit Schlafproblemen nach
Verordnung dieser Substanzen nachzukommen, ihnen aber gleichzeitig zu signalisieren,
dass die insbesondere längerfristige Einnahme dieser Medikamente nicht
medizinischen Standards und Leitlinien entspricht. Möglicherweise sind
Ärzten in Ostdeutschland solche Wünsche vertrauter bzw. kommen sie
häufiger solchen Wünschen nach, wollen aber ihren Patienten durch
Privatverordnungen ebenso deren Unangemessenheit andeuten.
Sehr früh schon wurde weiterhin vermutet, dass Privatverordnungen –
insbesondere im Fall längerfristiger Anwendung dieser Substanzen –
Ärzte vor möglichen Regressen oder kritischen Nachfragen
schützen sollen. So nannten in einer Befragung aus 2014 deutsche
Hausärzte Vorgaben der Arzneimittel-Richtlinie für eine nur
kurzfristige Verordnung dieser Substanzen und Verordnungswünsche ihrer
Patienten als Grund, Privatrezepte für gesetzlich versicherte Patienten
auszustellen [21]. Ähnliche
Schutzmechanismen berichtet eine Studie aus Australien [22]. Auch wenn wir kürzlich zeigen
konnten, dass Privatverordnungen kaum häufiger bei längerfristiger
Anwendung als bei einmaliger Anwendung sind [23], könnte eine, vermutlich unbegründete Furcht vor
behördlichen Eingriffen, resultierend z. B. aus negativen
Erfahrungen aus der Vergangenheit, die höhere Quote an Privatverordnungen
gerade in ostdeutschen Praxen erklären.
Besonders Hausärzte verordneten Benzodiazepine, vor allem Z-Substanzen per
Privatrezept, sowohl in Ost- als auch Westdeutschland. Das Fachgebiet hatte in den
Regressionsmodellen zur Vorhersage von Privatverordnungen für Benzodiazepine
und Z-Substanzen einen ähnlich starken Einfluss, bei
Benzodiazepin-Anxiolytika sogar einen stärkeren Einfluss als der
Ost-West-Faktor. Eine Erklärung könnte die – im Vergleich zu
neurologischen oder psychiatrischen Beratungssituationen –
größere Komplexität sein, insoweit Hausärzte
z. B. den schwierigen Wünschen ihrer Patienten nach Schlaf- oder
Beruhigungsmitteln gegenüber den Restriktionen externer Verordnungskriterien
und Leitlinien abwägen müssen [24]
[25] – auch, um die
über lange Jahre gewachsene Beziehung zum Patienten aufrechtzuerhalten und
ggf. eine mögliche Sucht moderieren zu können und handelbar zu
halten.
Die Annäherung westdeutscher Praxen an ostdeutschen Praxen und damit die
weitere Zunahme des Anteils an Privatverordnungen für Benzodiazepine und
Z-Substanzen kann als Zeichen für die bisher mangelnde Wirksamkeit
entsprechender Versuche gesehen werden, den Gebrauch von Privatverordnungen zu
beschränken. So heißt es in dem erst kürzlich aktualisierten
Leitfaden „Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von
Medikamenten“ der Bundesärztekammer [26]:
“Bei gesetzlich Krankenversicherten soll bei der Verordnung von Medikamenten
mit Abhängigkeitspotenzial nicht auf Privatrezepte ausgewichen werden, weil
durch dieses Vorgehen eine Dosissteigerung und/oder eine Neuverordnung von
Substanzen, die medikamentenbezogene Störungen hervorrufen könnten,
unentdeckt bleiben könnte. Dieses verstärkt die Risiken der
Substanzeinnahme, erschwert den offenen und vertrauensvollen Umgang mit der
verschreibenden Ärztin/den verschreibenden Arzt und kann eine
mögliche frühzeitige Intervention und Therapie
verzögern.”
Auf Grundlage unserer Daten könnten weitere regulative Maßnahmen zur
Eindämmung von Privatverordnungen diskutiert werden. Das könnte aber
Patienten dazu veranlassen, diese Medikamente auf anderem Weg zu erhalten, sodass
deren Gebrauch noch stärker als bisher aus der öffentlichen
Wahrnehmung verschwindet und Transparenz sowie offene Kommunikation über
Gebrauch und Missbrauch der Präparate verhindert.
Stärken, Schwächen
Die Sekundärdaten können als repräsentativ betrachtet
werden [13] und erlaubten erstmalig eine
Fokussierung der Analyse ausschließlich auf gesetzlich
Krankenversicherte. Durch die Kontrolle einer zumindest kleinen Zahl von
Kovariaten konnten wir zeigen, dass die Unterschiede zwischen Ost- und
Westdeutschland in der Quote von Privatrezepten für Benzodiazepine und
Z-Substanzen nicht auf einer unterschiedlichen Zusammensetzung von Patienten
z. B. nach Alter und Geschlecht in den Praxen beruhen bzw. die
Unterscheide nach Kontrolle solcher möglichen Confounder bestehen
bleiben.
Umgekehrt könnte man unserer Analyse vorwerfen, künstlich einen
Ost-West-Gegensatz gebildet zu haben, indem wir Praxisdaten aus den
entsprechenden Bundesländern umstandslos zu einem Spezifikum von Ost-
bzw. Westdeutschland erklärt haben. Genau davor warnen Autoren einer
Studie aus dem Robert Koch-Institut über Lebenserwartung und
Gesundheitsverhalten in Ost und West und empfehlen zusätzlich
“smaller scale approaches“, um auch regionale Unterschiede,
zumindest aber Unterschiede nach Bundesländern für die
Erklärungen von möglichen Ost-West-Auffälligkeiten
heranzuziehen [17].
Unsere Sekundärdatenanalyse hatte – außer Region,
Facharztstatus sowie Alter- und Geschlechtsverteilung der Patienten einer Praxis
– keine weiteren Daten über die Praxisinhaber, schon gar nicht
über mögliche Motive ihres Handelns, so dass unsere Diskussion
hierüber notwendigerweise spekulativ bleiben muss.
Schlussfolgerung
Entgegen einer allgemeinen Angleichung von Lebenserwartung,
Morbiditätsrisiken und Gesundheitsverhalten in Ost- und Westdeutschland
blieb der schon früher deutliche Unterschied im Anteil an Privatverordnungen
bei Benzodiazepinen und Z-Substanzen zwischen beiden Regionen weitgehend bestehen.
Nicht minder überraschend ist, dass sich auch die beiden Arztgruppen, die
maßgeblich diese Substanzen verordnen, nämlich Neurologen und
Psychiater auf der einen, Hausärzte auf der anderen Seite erheblich in der
Quote ihrer Privatrezepte für diese Substanzen unterscheiden. Gründe
für beide Ergebnisse lassen sich im Rahmen einer
Sekundärdatenanalyse nicht verlässlich bestimmen. Die Ergebnisse
sind ein Plädoyer für weitere Aufklärung. Genau dies aber,
nämlich Aufklärung, wird dadurch erschwert, dass sich die Verordnung
und Einnahme von Benzodiazepinen und Z-Substanzen der öffentlichen
Wahrnehmung und dem Gesundheitsdiskurs entziehen, wenn sie privat verordnet
werden.