Die Wirbelsäule 2024; 08(01): 7-8
DOI: 10.1055/a-2152-3073
Referiert und kommentiert

Kommentar zu Zentromedulläres Syndrom: frühzeitige vs. späte chirurgische Dekompression

Lukas Grassner

Die Inzidenz des zentromedullären Syndromes (engl. central cord syndrome – CCS) nimmt deutlich zu und gilt in unseren Breiten bereits als das häufigste traumatische Rückenmarkssyndrom [1]. Die Datenlage zur bestmöglichen medizinischen Versorgung und bezüglich des optimalen Timings einer wirbelsäulenchirurgischen Intervention ist aufgrund unterschiedlichen Studiendesigns nicht aussagekräftig. Daher sind keine klaren Guidelines vorhanden.

In der vorgestellten Studie wurden aus zwei prospektiven Studien und einem Register, CCS Patienten retrospektiv einem propensity score matching zugezogen. Der primäre Endpunkt war die motorische Erholung zwischen Patienten die „früh“ (innerhalb von 24 Stunden) oder spät (nach 24 Stunden) dekomprimiert wurden. Patienten in der frühen Gruppe zeigten eine bessere Erholung der motorischen Funktionen der oberen Extremitäten, nicht jedoch der unteren Extremitäten. Der Effekt war hauptsächlich vom klinischen Schweregrad der Läsion abhängig: der Effekt auf die Motor Score Punkte war vor allem bei Patienten mit AIS (ASIA Impairment Scale) Grad C statistisch signifikant.

Es stellt sich also die Frage, ob das „time is spine“ Konzept nicht auch – oder besser gesagt vor allem – für CCS Patienten gelten sollte [2]. In dem vorgestellten Datensatz wurde nur ein Drittel der Patienten innerhalb von 24 Stunden operiert. Pathophysiologisch würde eine frühzeitige Dekompression bei anhaltender Rückenmarkskompression sogar mehr Sinn machen als bei Hochrasanztraumen, wo der Primärschaden deutlich größer und dieser chirurgisch nicht beeinflussbar ist. Die präklinische Evidenz für eine frühzeitige Dekompression ist also klar vorhanden. Warum ist dann aber die Datenlage nicht eindeutig und warum werden manche dieser Patienten sogar konservativ behandelt beziehungsweise nicht als dringlich eingestuft?

Ein wichtiger Aspekt ist sicherlich, dass es sich meist um ältere Betroffene handelt, die oftmals mehrere Komorbiditäten aufweisen, die eine umgehende chirurgische Versorgung schwieriger machen oder sogar Defizite nicht der Rückenmarksschädigung zugeschrieben werden. Ein essentieller Punkt bleibt meiner Meinung nach, die Wahl der Outcomeparameter. Wie auch in der vorgestellten Studie, kann bei Patienten mit milderen motorischen Defiziten eine signifikante Steigerung im Rahmen einer rein motorischen Kraftprüfung gar nicht im ausreichenden Maße detektiert werden. Dieser Ceiling Effekt ist einer der Hauptgründe, dass viele Studien keinen statistisch signifikanten Effekt auf die gewählten Outcomeparameter gezeigt haben. Trotzdem sind die Patienten trotz einer gemäß AIS Klassifikation relativ milden Einschränkung aufgrund von Feinmotorikstörungen, neuropathischen Schmerzen und spinaler Spastik oft funktionell sehr stark eingeschränkt. Daher ist der Ansatz den funktionellen Outcome in dieser Studie zu analysieren sehr richtig. Da die Daten teilweise 20 Jahre alt sind (mit den dadurch verbunden Limitationen) wurde der FIM (functional independence measure) gewählt, da der SCIM (Spinal Cord Independence Measure) noch gar nicht entwickelt war. Letzter wurde speziell für Patienten mit Querschnittsyndrom entwickelt.

Die Wahl des gewählten Outcomeparameter bleibt also ungeklärt. Daher wurde vom AO Spine Knowledge Forum Spinal Cord Injury die IN-TWIN Studie (Traumatic Incomplete Tetraplegia without Instability – A prospective multicenter feasibility study of outcomes and prognosis) ins Leben gerufen. Hier wollen wir untersuchen, welche Tests Defizite erkennen und für zukünftige Studien als sinnvoll erachtet werden, damit wir klinisch relevante Fragen, wie zum Beispiel den Effekt der frühzeitigen Dekompression auf die neurologische Erholung oder die neuropathischen Schmerzen, besser beantwortet werden können. Es ist mir auch ein Anliegen zu erwähnen, dass immer mehr Evidenz vorherrscht, dass die Dekompression nicht als rein knöcherne Dekompression des Spinalkanales verstanden werden sollte, sondern dass unter „adäquater Dekompression“ die Wiederherstellung des spinalen Subarachnoidalraumes definiert wird [3] [4].

Die vorgestellte Studie lädt also zur vertiefenden Diskussion zum optimalen medizinischen und chirurgischen Management für Betroffene CCS Patienten ein. Zukünftige Studien mit geeigneten Outcomeparametern werden versuchen, ungeklärte Fragen stichhaltiger zu beantworten.



Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
07. Februar 2024

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  • Literatur

  • 1 Spinal Cord Injury (SCI) 2016 Facts and Figures at a Glance. The journal of spinal cord medicine 2016; 39: 493-494
  • 2 Okonkwo DO, Mushlin HM. Central Cord Syndrome Is Likewise a Surgical Emergency-Time Is Spine. JAMA Surg 2022; 157: 1032-1033 DOI: 10.1001/jamasurg.2022.4455. (PMID: 36169970)
  • 3 Grassner L. et al. Spinal Meninges and Their Role in Spinal Cord Injury: A Neuroanatomical Review. Journal of neurotrauma 2018; 35: 403-410
  • 4 Aarabi B. et al. Extent of Spinal Cord Decompression in Motor Complete (American Spinal Injury Association Impairment Scale Grades A and B) Traumatic Spinal Cord Injury Patients: Post-Operative Magnetic Resonance Imaging Analysis of Standard Operative Approaches. Journal of neurotrauma 2019; 36: 862-876 DOI: 10.1089/neu.2018.5834. (PMID: 30215287)