MSK – Muskuloskelettale Physiotherapie 2023; 27(03): 121
DOI: 10.1055/a-2074-8744
Editorial

Rund um den Beckenring

Pascale Gränicher
,
Sebastian Klien

Liebe Leserinnen und Leser,

Das stabilisierende Zentrum unseres Körpers bildet das Becken, das eine wichtige Rolle bei der Unterstützung des Körpergewichts, dem Schutz innerer Organe, der Fortbewegung, der Verankerung von Rumpf und unterer Extremität und der Geburt spielt. Beckenring und -boden erfüllen somit unterschiedlichste Aufgaben und werden praktisch zu allen Tages- und Nachtzeiten beansprucht. Nicht überraschend, dass mechanische Beschwerden oder Schmerzen in dieser Region unseren Alltag beeinträchtigen können.

Der Beckengürtelschmerz wird dabei als eine Subgruppe des nicht spezifischen lumbalen Rückenschmerzes im Bereich des Iliosakralgelenks (ISG) oder der Symphysis pubica bezeichnet. Dessen strukturelle und/oder funktionelle Mechanismen und Ursachen zu ergründen, fordern die behandelnden Therapeut*innen sowohl diagnostisch als auch interventionell. Im klinischen Alltag einzuschätzen, wo bei der Interpretation und Gewichtung von Tests und Testbatterien Vorsicht geboten ist und welche Konstrukte mit welchen Assessments tatsächlich unter die Lupe genommen werden, kann dementsprechend auch überfordern. Ganz zu schweigen von der Bewertung der Güte der Tests. Sean GT Gibbons hat sich dieser Challenge angenommen und bringt im Einführungsartikel mit einem kritischen Update zur Differenzialdiagnostik und zum Clinical Reasoning Prozess bei Beckengürtelschmerzen etwas Licht ins Dunkle.

Besonders auch in der Schwangerschaft wird die Stabilität des Beckenrings temporär auf eine harte Probe gestellt und Schmerzen oder Beschwerden im Bereich des ISG oder Beckenboden sind keine Seltenheit. Daher werden Symptome in diesen Regionen meist mit schwangeren Frauen oder älteren Personen assoziiert. Inkontinenz oder andere Dysfunktionen des Beckenbodens stellen weiterhin sowohl in der Gesellschaft als auch der medizinisch-therapeutischen Fachwelt ein Tabuthema dar. Denn nicht nur Senior*innen oder werdende/frischgebackene Mütter profitieren von physiotherapeutischen Maßnahmen rund um das Becken. So heißt es in einer kürzlich publizierten Meta-Analyse, dass über 80% der Frauen im Crossfit an einer Form der Inkontinenz leiden [1].

Zwei Expertinnen nehmen sich in den beiden weiteren Schwerpunktartikeln dieser Themen an. Anneke Klostermann gewährt einen Einblick in das breite Spektrum der Beckenbodendysfunktionen und der damit einhergehenden Symptomatik sowie möglichen Behandlungsansätzen. Anna Schweitzer beleuchtet im Praxisartikel die Relevanz der Beckenbodentherapie bei Männern, im Speziellen bei Harninkontinenz und erektiler Dysfunktion nach radikaler Prostatektomie.

Der vorliegende Schwerpunkt macht deutlich, dass nicht nur eine Schwangerschaft, Geburt oder altersbedingter Muskelabbau Ursache für Beckenbodendysfunktionen sein kann und neben der Harninkontinenz weitere Probleme möglich sind. Die Komplexität unseres Beckengürtels geht über die knöchernen Grenzen hinaus, was das einzigartige Zusammenspiel von Flexibilität und Stabilität deutlich macht.

Herzliche Grüße,

Pascale Gränicher & Sebastian Klien



Publication History

Article published online:
19 July 2023

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  • Literatur

  • 1 Dominguez-Antuna E, Diz JC, Suárez-Iglesias D. et al. Prevalence of urinary incontinence in female CrossFit athletes: a systematic review with meta-analysis. Int Urogynecol J 2023; 34: 621-634